Schweitzer Fachinformationen
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Der Showdown des Anthropozäns scheint nah: Vor der Kulisse aus Klimakrise und Kriegen droht eine Handvoll machttrunkener und skrupelloser Politiker im Verein mit rücksichtslosen Techmilliardären die Welt gegen die Wand zu fahren. Was all diese Akteure von nie dagewesener globaler Wirkmacht gemein haben? Es sind ausnahmslos Männer. Ignoriert man diesen weißen Elefanten im Raum, hilft auch aller Aktivismus nicht, denn: Nicht der Mensch hat die Erde im Würgegriff, sondern das Patriarchat! Es zu überwinden hieße, den gröbsten globalen Problemen gebündelt entgegenzutreten. Sklaverei, Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus schienen bis vor Kurzem noch »alternativlos«, doch sie konnten weitestgehend aufgearbeitet werden, weil sie entlarvt wurden: als Missstände, die der Spezies Mensch unwürdig sind. Warum sollte das mit dem Patriarchat nicht auch gelingen?
Gertraud Klemm nimmt sich in ihrem leidenschaftlichen Essay matriarchale Gesellschaften aus Vergangenheit und Gegenwart zum Vorbild für ihre Ankündigung des Abschieds vom Phallozän - ein kraftvolles Gedankenspiel über matriarchale Inspiration, patriarchale Dekonstruktion und die Notwendigkeit der kolonialen Schubumkehr.
»Eure >Ordnung< ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon >rasselnd wieder in die Höh' richten< und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!«
Rosa Luxemburg, Die Ordnung herrscht in Berlin, 1919
Anthropozän oder Phallozän?
Wir leben im Anthropozän; der Mensch prägt den Planeten, die Natur und sogar den Weltraum, und er ist es, der die Erde in eine dauerhafte Krise gestürzt hat. Aber - kann man wirklich von einem Anthropozän reden, wenn sich so viel Kapital und Macht in den Händen so weniger Menschen befindet? Wenn die männliche Hälfte der Menschen die weibliche Hälfte weltweit systematisch unterdrückt und ausbeutet? Wenn ganze Kontinente vom Wohlstand ausgeschlossen sind, während sich woanders der Reichtum aufs Obszönste akkumuliert? Welche Art Mensch ist das eigentlich, die das Anthropozän zu verantworten hat?
Nicht der Mensch hat die Erde und ihre Biosphäre auf dem Gewissen, das Patriarchat ist es, das unseren Planeten seit 5000 Jahren im Würgegriff hält. Immer weniger Männer akkumulieren immer mehr Macht, und ihre Motive sind kriminell. Niemand spricht über den Elefanten im Raum: wie männlich diese Zerstörungsriege ist, die da am Werk ist. Wir befinden uns nicht im Anthropozän, sondern im Phallozän. Der Begriff Phallozän wird in verschiedenen Sprachen für unterschiedliche destruktive Ausprägungen des Patriarchats benutzt; ich möchte mit ihm das Zeitalter eines völlig aus dem Ruder gelaufenen Patriarchats verbildlichen, das sich an die Schaltstelle aller Mächte katapultiert hat und von dort aus seine zerstörerische Kraft ausübt. Es ist kein Zufall, dass der schleichende Rechtsruck in Europa und den USA viele »starke Männer« mit dicken Geldbörsen auf den Plan ruft; dass die zweite Amtszeit des Alpha-Männchens Trump mit wildester Kriegspropaganda beginnt, in die ein Chor von anderen verhaltensauffälligen Machtmännern einstimmt - eine Truppe, der etwas Verantwortungsloses, Pubertäres anhaftet. Alpha-Technologe Musk will menschliche Gehirne verkabeln und den Mars kolonialisieren, Alpha-Maskulinist Andrew Tate möchte eine Diktatur im Vereinigten Königreich errichten, und Alpha-Kommunikator Marc Zuckerberg läutet das Zeitalter der Fake News ein. Jeder von ihnen will auf der globalen Kommandobrücke sein mächtiges Spielzeug ausprobieren, und alle haben sie ein traditionelles, rückschrittliches Geschlechterbild mit im Gepäck.
Diese Männer vertreten eine individualisierte, verzwergte Männlichkeit, die sich in einem Zustand der permanenten Erregung befindet und nicht mehr an die Konsequenzen ihres Tuns denkt - denn das Tun ist immer nur auf den persönlichen Gewinn ein paar weniger ausgerichtet. Diese Männer versuchen sich als »Rudelführer«, um des Führens willen, ohne dass sie auch nur einen empathischen Gedanken an das Rudel verschwenden. Im Phallozän sind sehr emotionale Männer und ihre Doktrinen an die Macht geraten, die nur einen winzigen Bruchteil dessen, was Männlichkeit bedeuten kann, verkörpern. Nicht genug, dass Empathie für sie die größtmögliche Schwäche ist: Ihnen fehlen sogar die plakativsten männlichen oder väterrechtlichen Zuschreibungen wie Kontrolliertheit, Umsichtigkeit oder Ernährer- oder Beschützerinstinkt. Überspitzt ausgedrückt repräsentieren sie eine im Jugendstadium fixierte Männlichkeit,1 die nur von einer Ejakulation zur nächsten denkt. Im Phallozän drängen sich Männer mithilfe ihrer medialen und finanziellen Machtstellung in die Politik, sie kollaborieren mit ihresgleichen, sie werten alles ab, was anders ist als sie selbst. Der Rest der Welt muss dabei zusehen, wie sie Gesetze umgehen, auf die Umwelt pfeifen, die Medien demolieren, wie sie sich im fossilen Zeitalter verbeißen und die Wirtschaft kontrollieren. Sie kaufen den ganzen Planeten, und sie fahren ihn an die Wand, und zwar jetzt und sofort - weil sie es wollen und weil sie es können!
Nicht älter als 5000 Jahre ist es, das Patriarchat. In dieser kurzen Zeit wurde der patriarchale Herrschaftsanspruch qua Geschlecht(sorgan) argumentiert und gewaltsam durchgesetzt; die vaterrechtliche Männlichkeit hat sich ihre erhabene Position durch Erniedrigung alles Weiblichen ertrampelt. Diese Art von Männlichkeit begreift sich nicht als Teil eines Ganzen, sondern als Krönung der Schöpfung, und sie legt den Grundstein für die ausbeuterische Haltung gegenüber allem anderen. Sie ist der Grundstein für eine Vaterschaft, die die Mutterschaft ausbeutet, für eine Herrschaft, die Gewalt und Ungerechtigkeit legitimiert, für eine Wissenschaft, die das Weibliche pathologisiert hat, für eine Religion, die sich Götter ohne Penis nicht vorstellen kann und will. Dieses Paradigma gipfelt in jener ausbeuterischen Haltung, die unsere Spezies an den Rand der Auslöschung gebracht hat - und den Rest der Welt gleich mit. Das phallokratische Weltbild findet sich in der Politik, in der Philosophie, in der Naturwissenschaft, in der Ökonomie, in Religionen und in der Kunst - seine patriarchale Programmierung durchzieht ausnahmslos alle unsere Denkmuster und macht ein ganzheitliches Denken fast unmöglich.
Obwohl das »Vaterrecht« erd- und menschheitsgeschichtlich blutjung ist, wird es als eine Art Naturgesetz begriffen und als zivilisatorischer Ausgangspunkt behauptet - von der Zivilbevölkerung, von den Religionsgemeinschaften, aber auch von Intellektuellen, Vordenker:innen und in der Forschung. Vielleicht wird das Patriarchat aus diesem Grund nicht ausreichend als zentrale Problemquelle erkannt und behandelt - und von den immergleichen kritisiert: den Frauen. Die Patriarchatskritik hat fürwahr keinen leichten Stand. Viel zu abgedroschen sei das Vokabular, mit dem hantiert wird, unzumutbar der selbstkritische Gestus, der verlangt wird; viel zu einseitig die »weibliche« Herangehensweise, die zur Rettung der Welt beitragen könnte, viel zu esoterisch der religionskritische Ansatz, viel zu naiv der kapitalistische. Kurz: viel zu schmuddelig das feministische Eck, aus dem die Kritik seit Jahrzehnten tönt, und viel zu patriarchal die Sichtweise auf alles, was patriarchatskritisch ist!
Das Risiko, mit einem patriarchatskritischen Aufruf nicht gehört zu werden, ist bemerkenswert. Sag das Unwort »Patriarchat« und alle halten sich die Ohren zu, hat einmal eine kluge Frau zu mir gesagt, und: Rechne nicht damit, ernst genommen zu werden, wenn du diesem Machtapparat auf die Füße steigst! Wer will schon hören, dass oder wie das Patriarchat die Welt zerstört? Am wenigsten die Patriarchen, die gerade die Welt kaputt machen - und auch nicht jene, die sich mit dem Patriarchat abgefunden haben. Denn Patriarchatskritik wird traditionell als infame, kollektive Schuldzuweisung aufgefasst, an alle Männer, die sich mit dem Patriarchat identifizieren, und an alle Frauen, die mit ihm fraternisieren. Die Eigenverantwortung für einen Missstand erstmal zurückzuweisen ist ein gut geölter, wenngleich infantiler Reflex. Abgesehen davon gehört »Patriarchat« zur Familie jener Worte, die wir nicht gerne hören. So wie die Begriffe »Hunger in Afrika«, »Klimawandel« und »Frauenmord«: alles katastrophale Zustände, die selbstredend kritikwürdig, aber scheinbar unvermeidlich sind. Aber sind sie das tatsächlich?
Dieser Essay ist ein Hilferuf an alle, die sich ernsthaft mit der Lösung der globalen Krise befassen: Wir brauchen nicht weniger als eine neue Weltsicht, in deren Denkansätzen das Patriarchat mit der gleichen (Selbst-)Kritikfähigkeit behandelt wird, wie es etwa mit Kolonialismus, Rassismus und dem Holocaust geschehen ist. Erkennen wir das Patriarchat als das, was es ist: ein fataler Programmierfehler im Kern unseres nur scheinbar humanistischen Paradigmas. Seine Superkraft ist der Missbrauch, sein Vermächtnis ist die Zerstörung.
Das Patriarchat am Höhepunkt
Es gibt außer Homo sapiens keine Lebensform auf dieser Welt, die mehr Ressourcen für sich beansprucht, als sie zum Überleben braucht. Es gibt auch keine Lebensform, die sich unbegrenztes Wachstum als oberstes Ziel gesteckt hat. Um für unsere Spezies überhaupt eine taugliche Analogie zu finden, muss man schon Krebszellen oder Parasiten heranziehen.
Kurz vor der letzten Jahrtausendwende sah es noch so aus, als sei der Mensch lernfähig: Wir haben die Demokratie in die Welt gebracht, das Frauenwahlrecht, wir haben für ein halbes Jahrzehnt den Krieg aus Europa rausgehalten, den sauren Regen besiegt und das Ozonloch gestopft. Aber allerspätestens seit der Covid-19-Pandemie und der Klimakrise zeigt sich, dass es nicht mehr reicht, an den kleinen Schrauben zu drehen: Es gilt, an den großen Hebeln anzusetzen.
Der zeitnahe, globale Zusammenschluss, den es bräuchte, um die Erde vor einem unausweichlichen Kollaps zu retten, ist derzeit dennoch außer Reichweite. Dazu fehlt die kollektive Umsichtigkeit oder Besonnenheit der regierenden Eliten; dazu ist die ökonomische Macht auf viel zu wenige Personen und Institutionen konzentriert. Aber auch die Zivilbevölkerung ist nicht unbedingt hilfreich. Die große Chance, via Internet und soziale Medien global zu kommunizieren und letztendlich aus schierem Überlebenswillen solidarisch zu handeln, ist vertan; anstatt Probleme zu lösen, werden Katzenvideos, Hassnachrichten und Verschwörungsmythen ausgetauscht. Nicht einmal in den akademischen Denkfabriken, in den Feuilletons und auf den Podien wird der Ernst der Lage in ausreichendem Maße erkannt.
Zu allem ökologischen Übel kommt auch...
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