Schweitzer Fachinformationen
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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war mir so kalt, dass es mich regelrecht schüttelte. Trotzdem war mein Flanellpyjamaoberteil durchgeschwitzt und klebte an meiner Haut. Mein Kreuz tat weh, mein Nacken fühlte sich steif an. Ich hatte in der letzten Nacht höchstens zwei bis drei Stunden geschlafen - und selbst dieser Schlaf war hauchdünn gewesen. Ich hatte mich kaum erholt und absurde Albträume gehabt.
In meinem letzten Traum war ich alleine und hatte splitterfasernackt in einem endlosen Meer aus kahlen Äckern gestanden. Der Wind hatte über die Landschaft hinweggepeitscht, und ich hatte Mühe gehabt, mich auf den Beinen zu halten. Nussbäume hatten mich umzingelt und mir bedrohlich ihre langen, bizarren Äste entgegengestreckt. Dahinter hatte sich eine dichte, undurchdringliche Nebelwand bis in die tief hängenden dunklen Regenwolken aufgetürmt. Vertraute Stimmen und Gelächter um mich herum, aber niemand zu sehen. Dann Geflüster, ich hatte spüren können, wie auf mich gezeigt wurde. Ich hatte mich beobachtet gefühlt, in Gefahr. Hatte versucht, meinen nackten Körper so gut es ging mit meinen Händen abzudecken. Hatte weglaufen wollen, egal wohin - einfach nur weit weg. Aber meine Beine waren im schlammigen Ackerboden versunken gewesen. Keine Chance mich zu befreien, sosehr ich mich auch angestrengt hatte. Das Gelächter um mich herum war immer lauter geworden und ich war immer tiefer und tiefer eingesunken, bis ich bis zum Hals in der nassen Erde gesteckt hatte. Irgendetwas in der Tiefe hatte nach meinen Beinen gegriffen, ich hatte es ganz deutlich spüren können. Lange, knochige Krallen. Sie hatten meine Knöchel umschlossen und daran gezerrt. Ich hatte geschrien wie am Spieß, doch der Wind hatte jeden Laut verschluckt und weit davongetragen. Plötzlich ein Ruck. Und ich war in die finstere Tiefe gezogen worden.
Da war ich mit einem Schrei aufgewacht.
Meine langen Haare klebten nass in meinem Nacken. Ich hob sie an, um ein wenig Luft rankommen zu lassen. Ich machte die Nachttischlampe aus, die ich die ganze Nacht über angelassen hatte, rieb mir das Gesicht und streckte meine müden Knochen. Es knackte leise. Bevor ich die schwere Decke zur Seite schlug und mich aus dem Bett kämpfte, warf ich einen hoffnungsvollen Blick auf mein Handy. Drei entgangene Anrufe und drei SMS von Tom. Aber Maria hatte sich immer noch nicht gemeldet. Ich wählte ihre Nummer, kam aber wieder nur in ihre Mobilbox. Nach dem Piepton hinterließ ich ihr mit brüchiger Stimme eine Nachricht: »Ich bin's, Lisa. Maria, wo bist du? Wir machen uns schon Sorgen . Bitte meld' dich bei mir oder Papa.«
Dann widmete ich mich Toms Anrufen und SMS:
04:09: War noch in der Bar und hab ein wenig getrunken. Ich liebe dich. Ruf mich an. Kuss Tom
04:14: Warum hebst du nicht ab?
04:17: Heb ab!
Noch während ich darüber grübelte, ob ich Tom anrufen sollte oder nicht, hatte ich bereits seine Nummer gewählt. Die Verbindung wurde aufgebaut. Ich hielt die Luft an, mein Puls flatterte. Quälende Augenblicke. Doch zum Glück sprang noch vor dem ersten Läuten seine Mobilbox an. Erleichterung ergriff mich, ich legte auf und atmete tief durch. Ich schrieb ihm eine SMS, in der ich versprach, mich im Laufe des Tages bei ihm zu melden. Dann kroch ich aus dem Bett.
Als ich nach unten ins Erdgeschoss kam, wurde meine leise Hoffnung, dass Maria in der Zwischenzeit wieder aufgetaucht war, von einer beklemmenden Stille zerschmettert.
»Hallo?«, rief ich zögerlich.
Keine Antwort. Weder von Maria noch von meinem Vater war etwas zu sehen oder zu hören. Auch die Küche war leer. Ich griff nach dem Heizkörper - er war glühend heiß. Trotzdem war mir eiskalt. Eher aus Gewohnheit warf ich einen Blick in den Kühlschrank, in dem, bis auf eine Milchflasche, eine halb aufgebrauchte Packung Teebutter, einer zerdrückten Tube Senf und einem einzelnen Ei gähnende Leere herrschte. Egal, ich hätte ohnehin keinen Bissen hinuntergebracht.
Ich ging zum kleinen Fenster, unter dem die abgestorbene Orchidee stand, und schob den vergilbten Vorhang beiseite. Die Scheibe war angelaufen, ich versuchte sie mit meinem verschwitzten Pyjamaärmel trocken zu wischen, was kaum gelang. Durch die Schlieren hindurch starrte ich hinaus in den Garten an der Rückseite des Hauses. Das Gras war mit einer Schicht Raureif überzogen, an einigen Stellen lagen letzte Schneefetzen. Am Himmel hingen schwere dunkelgraue Wolken. Es sah nach Regen aus. Der Nebel hatte sich noch immer nicht gelichtet und schwebte wie ein dichter Schleier über der Landschaft.
In der hintersten Ecke des Gartens lag das alte Häuschen aus Backsteinziegeln, das nahezu vollständig mit irgendwelchen Schlingpflanzen zugewachsen war. Als Kinder hatten Maria und ich es immer »unser Schloss« genannt. Wir hatten oft ganze Tage darin verbracht und dort zu zweit oder gemeinsam mit unseren Freundinnen gespielt. Eigentlich hatten wir Ritter und Prinzessin spielen wollen, hatten uns aber nie darauf einigen können, wer von uns der Ritter sein musste. Also hatten wir einander die Haare gekämmt, uns imaginären Tee in rosa Plastiktassen gereicht und darum gewetteifert, wer von uns die schönste Prinzessin war.
Nun war »das Schloss« Vaters Werkstatt - sein Zufluchtsort, in dem er jede freie Minute verbrachte. Wahrscheinlich, weil er dort nicht ständig mit der Erinnerung an seine verstorbene Frau konfrontiert wurde.
Durch das kleine Fenster drang fahles Licht nach draußen. Ich überlegte, ob ich nach hinten gehen und nach meinem Vater sehen sollte, doch in diesem Moment ging die massive Holztür auf und mein alter Herr trat hinaus in den Garten. Er erstarrte einen Augenblick, als er mich am Fenster stehen sah. Aber auch ich war erschrocken, denn erst jetzt bei Tageslicht fiel mir auf, wie schlecht er wirklich aussah. Er wirkte völlig fertig und noch älter als am Vorabend. Scheinbar nichts war mehr von dem lebensfrohen Mann geblieben, dem die Frauen reihenweise nachgeschaut und den meine Freundinnen manchmal, vor allem um mich zu ärgern, als sexy bezeichnet hatten.
Mein Vater hob die Hand zum Gruß und kam zu mir ins Haus.
»Du hast schon gearbeitet?«, fragte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte sagen sollen.
»Ich hab nicht schlafen können.«
Ich bekam Schuldgefühle, weil ich zumindest ein paar Stunden geschlafen hatte.
»Möchtest du etwas frühstücken?« Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf. »Ich weiß gar nicht, ob im Kühlschrank .«
»Nein, danke. Ich hab keinen Hunger.«
»Mh.« Er wich meinem Blick aus.
»Hat sich Maria bei dir gemeldet?«
Schweigend schüttelte er den Kopf.
Ich schluckte.
Mein Vater setzte sich an den Esstisch und vergrub das Gesicht in seinen Händen.
»Okay«, sagte ich nach einer Weile und unterbrach die betretene Stille zwischen uns, »lass uns zur Polizei fahren.«
Er schnaufte.
»Was?«, fragte ich.
»Muss das denn wirklich sein?«
»Natürlich!«
»Vielleicht kommt sie ja .«
»Darauf können wir nicht mehr länger warten.«
»Wir wissen doch gar nicht .«
»Papa!« Meine Stimme war laut geworden.
Mein Vater sah zu Boden und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. Er tat mir leid. Ich wollte ihn gerne in den Arm nehmen oder zumindest an der Schulter streicheln, doch ich brachte es nicht über mich.
»Komm, bringen wir's hinter uns«, sagte ich.
Er nickte.
Da es in Grundendorf keine Polizeiinspektion gab, fuhren wir in den Nachbarort Obermarch, der immer schon größer und von allem ein wenig mehr gewesen war: mehr Einwohner (was bei den knapp 600 Einwohnern Grundendorfs nicht besonders schwer war), mehr Lokale (auch keine besondere Leistung, da es in meinem Heimatdorf nur die Sportkantine des örtlichen Fußballvereins gab), mehr Geschäfte (in Grundendorf gab es kein einziges), ja, seit der einzige Geldautomat des Orts aufgrund zu hoher Betriebs- und Wartungskosten entfernt worden war, führte Obermarch selbst in dieser Kategorie mit eins zu null. Obwohl sich diese Liste noch viel länger fortführen ließe, konnte sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass Obermarch genauso grau und trostlos war wie Grundendorf. Das bunt blühende und wohl gedeihende Marchfeld war meiner Meinung nach nur eine Lüge, die den Konsumenten in der Werbung und auf Tiefkühlgemüseverpackungen aufgeschwatzt wurde. In Wirklichkeit war es ein staubiges und mit giftigen Chemikalien verseuchtes Fleckchen Land, dem längst alles Leben entzogen worden war.
Die Polizeiinspektion war in einem für den Ort überproportional groß wirkenden Gebäude im Dorfzentrum untergebracht, dessen graue Fassade mit der Umgebung zu verschmelzen schien. Davor stand eine Unmenge an Einsatzfahrzeugen und zivilen Wägen. Wir mussten etwas abseits, vor einer kleinen Grünfläche mit einem heruntergekommenen und mit Moos bewachsenen Kriegerdenkmal und ein paar Holzbänken darum herum, parken. Zwei alte Damen mit Kopftüchern und ausgeprägten Buckeln unterbrachen ihren Morgenspaziergang, als ich sie grüßte. Auf ihre Gehstöcke gestützt, betrachteten sie mich feindselig und blieben stumm. War mir mittlerweile etwa schon an einem einfachen »Guten Morgen« anzuhören, dass ich nun in Wien lebte?
Als mein Vater und ich die Polizeiinspektion betraten, war ich von der Vielzahl an Menschen - manche in Uniformen, die meisten aber in Zivil - überrascht, die im Foyer grüppchenweise zusammenstanden und sich besprachen. Pausenlos klingelte irgendwo ein...
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