Schweitzer Fachinformationen
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Ich schlafe nicht.
Es sind nicht die Worte, es ist der helle, klare Ton, der langsam in Henriettes Bewusstsein sickert, sich dort Gehör verschafft und ausbreitet, wie die Wolken noch am Tag zuvor, bis sie den Himmel vollständig bedeckten. Sie ist gerade dabei wegzudämmern, nach diesem Tag voller Verrichtungen. Den ganzen Tag treppauf, treppab, ein ums andere Mal, die Beine angeschwollen, nach Stunden auch der Atem knapper. Aber alles muss zusammengetragen werden für die nächsten vier Wochen, für den seit ungezählten Jahren obligatorischen Herbsturlaub auf den Kanaren. Raus aus dem beginnenden Herbst, hinein in den Sommer mit seinen fünfundzwanzig Grad, oft auch fünfunddreißig, wenn aus Afrika Hitze und Sand den Aufenthalt beinahe unerträglich machen. Dann wird die Luft immer dünner und die Sonne brennt unerbittlich. Dabei vertragen sie beide die Hitze immer weniger. Aber so ist es entschieden, auch in diesem Jahr, trotz des großen Festes, den dafür nötigen Vorbereitungen. Sicher dauern sie Monate, alles muss gut überlegt sein. Der Ort, die Gästeliste, das Buffet, die Musik und das ganze Drumherum.
Sie hat die Sommersachen vor vier Wochen in die Schränke auf dem Speicher einsortiert, einen Schrank für sie, einen für ihn. Nun kramt sie alles wieder vor und trägt es in ihr Zimmer. Wieder treppauf, treppab mit irgendetwas auf den Armen. Das hat sie nun davon, dass sie vor Jahren darauf bestanden hat, nicht mehr mit Konrad das Schlafzimmer zu teilen. Seitdem schläft sie eine Etage tiefer. Die Herbstsonne leuchtet im Raum, überzieht alles mit einem goldener Schimmer. Auch den Schiele über dem Bett, ein Geschenk ihres Sohnes Markus zum Siebzigsten. Wie immer hatte er nicht gespart. Während sie die T-Shirts begutachtet, fragt sie sich, ob nicht ein ähnliches bereits auf den Kanaren wartet. Alle gut verpackt, um sie vor Motten zu schützen. Aber wie soll sie sich nach Monaten an jedes einzelne Stück erinnern, an seine und an ihre Sachen, denn außer den Herbstwochen gibt es auch vier Frühlingswochen dort.
Henriette liebt den Herbst, die Färbung und das beinahe lautlose Niedersinken des Laubs, den Wein, der das Nachbarhaus mit seinen roten Ranken einhüllt. Auch den Nebel, er lichtet sich erst im Laufe des Tages, der die Dinge zum Erwachen bringt. Immer wieder neu erscheinen sie ihr. Wenn sie zurückkommen, wird es keine Blätter mehr an den Bäumen geben, sicher auch schon den ersten Frost, die kahlen Äste mit Raureif überzogen, die Luft feucht. Die schweren Blumenkübel mit dem Oleander und die Zitronenbäume hat sie vor zwei Wochen auf die Veranda wuchten lassen. Zitronen in Deutschland, das hatte sie nicht glauben wollen, doch sie wuchsen und wuchsen, trugen mit jedem Jahr mehr Früchte, prall, von einem intensivem Gelb, duftend und so aromatisch, wie man sie hier nicht zu kaufen bekam.
Das Bett, ihre kleine Insel in diesem großen Haus, das sie seit Jahrzehnten bewohnt, ist übersät mit Kleidung. Oben ihre, unten seine. Den Sonnenhut für ihn kann sie nirgends entdecken. Dabei, das weiß sie genau, hat sie ihn zu seinen Sachen gelegt, wie immer darauf bedacht, dass alles an Ort und Stelle ist. Er vergisst immer öfter, rechtzeitig aus der Sonne zu gehen. Und nicht nur das vergisst er. Im Arztkoffer vom Flohmarkt haben die Medikamente Platz. Schachteln voller Kapseln und Pillen, Blutverdünner, das Messgerät für den Blutdruck, das Fieberthermometer, Blasenpflaster, das Zeug gegen Mückenstiche. Von Jahr zu Jahr mehr. Ein Zeichen der Anfälligkeit, um nicht zu sagen des Verfalls, mit den fortschreitenden Jahren zur Notwendigkeit geworden. Unvorstellbar, wenn man jung ist. Wenn Konrad einen seiner Anfälle bekommt, sind so die Tropfen schnell zur Hand. In den beiden weißen Rollkoffern wäre außerdem kein Platz dafür. Markus hatte sie ihnen zu Weihnachten geschenkt, nicht ohne die Marke zu erwähnen. Nie hätte Konrad sie wegen des Preises gekauft, hätte es mit seinem »Zum Kuckuck nochmal, was sollen die Leute von uns denken!« kategorisch abgelehnt.
Bei den Dingen, die Henriette für ihn zusammengetragen hat, zwischen den dunkelblauen Unterhosen und Unterhemden, entdeckt sie den Zirkelkasten, die Briefwaage und verschiedene Präzisionswerkzeuge. Es sind Dinge, die seit langem unbeachtet in der Werkstatt liegen, von Konrad jedenfalls unberührt. Dafür ist kein Platz mehr im Koffer, und wer weiß, ob er sich daran erinnert. Sie verschwinden in der unteren Schublade der Kommode, einer echten Bauernkommode aus Eichenholz. Sie steht hier seit Tante Lisbeths Tod.
Henriette hatte gedacht, sie würden in diesem Jahr wegen der großen Feier, die bevorstand, keinen Urlaub machen. Aber nein, als Vorbereitung sozusagen, um noch einmal Ruhe zu tanken, hatte ihr Mann gesagt. Eigentlich hatte er nur »Zum Kuckuck nochmal, Ruhe!«, gesagt. Auch ihr Sohn Markus hatte dazu geraten wegen der Anstrengung, die im Frühjahr auf sie zukommen werde. Vor allem wegen Konrad, seinem Vater. Einer der wenigen Momente, in denen sich die beiden Männer einig waren, einig gegen sie. Sie hatte es kaum glauben wollen. Dabei wusste sie, der ganze Urlaub war nur dazu da, um nicht aus der Routine zu fallen. Seit sie diese Wohnung in der Ferne besaßen, es war beinahe so lange, wie sie verheiratet waren, hatten sie nie an einem anderen Ort Urlaub gemacht. Immer Kofferpacken, die T-Shirts, die Badesachen, die Hosen und Kleider, immer mit dem Auto zum Bahnhof, immer mit dem Zug zum Flughafen, dann mit dem Taxi bis dahin, wo sie sich erholen sollten. Aber an irgendetwas musste man festhalten und sich orientieren, solange es ging. Das hatte auch der Arzt nach der letzten Untersuchung gesagt. Und davon hatte Konrad nicht mehr allzu viel.
Henriette weiß nicht genau, ob sie träumt, oder ob der Tag einfach noch mal hinter ihren geschlossenen Augen abläuft. Ob es nicht eine Blaupause ist, damit sie die Anstrengung auf keinen Fall vergisst und beim nächsten Mal etwas dagegen vorbringen kann. Alles ist so, als wäre sie in dem Haus, in das sie gehört. Das Haus in dem kleinen Dorf mit dreitausend Einwohnern, mit der kleinen Kirche, in die sie jeden Sonntag gehen. Auch diese Stimme, die hell und klar ist, eine nimmer müde Kinderstimme, gehört dorthin, das weiß sie, aber sie einzuordnen, gelingt ihr nicht. Doch beim zweiten Mal »Ich schlafe nicht« weiß sie, dass sie zu ihrer Enkelin gehört. Und kurz darauf ertönt auch die leicht verwaschene Stimme ihres Mannes Konrad, Konrad Vögeles, mit dem sie demnächst fünfzig Jahre verheiratet sein wird. Ein ebenso unvorstellbarer Fakt wie die intensivgelben Früchte an den Zitronenbäumen, die sie vor Jahren gepflanzt hat. Mit dieser Stimme sagt er zu dem Kind: »Es ist spät, schon dunkel draußen.«
Und augenblicklich ist Henriette klar, dass sie nicht auf ihrem Lieblingssessel, dunkelblaues Polster mit ausklappbarem Fußteil, vor dem Fernseher eingeschlafen ist, was ihr in letzter Zeit manchmal passiert. Sie weiß, dass sie nicht in ihrem Wohnzimmer sitzt, mit dem Garten dahinter, den Bäumen, die bald ihre kahlen Äste in den Himmel recken werden, mit den Blumenkästen vor den Fenstern. Am nächsten Morgen wird sie nicht in den Bäckerladen gehen, auch nicht in die kleine Kirche am Sonntag in dem Dorf mit seinen dreitausend Einwohnern, in dem jeder sie und Konrad kennt. Sie sitzt im Zug zum Frankfurter Flughafen und dieses Mal mitten in der Nacht. So ein Wahnsinn!
Sie schüttelt den Kopf, wie sie ihn bereits vor ein paar Wochen geschüttelt hat. Da kam Konrad und teilte ihr mit, dass er für die Familie in der nahegelegenen Stadt Flugtickets erstanden hatte. Er sagte nicht »gekauft«, nein »erstanden«, ein Wort, das sie aufhorchen ließ. Natürlich wieder für die Insel. Dabei war er nur mit dem Bus zum Frisör gefahren, wie jeden zweiten Dienstag im Monat seit Jahren. Noch immer wuchs sein Haar schnell, nun nicht mehr braun, sondern weiß, doch mit der gleichen Geschwindigkeit. Sobald es sich über das Ohr hinauswagte, stand für ihn fest; der Frisör musste ran. Der Termin stand im Küchenkalender und in ihrem, der auf dem Schreibtisch lag. Konrads Kalender war seit einiger Zeit Makulatur.
Henriette öffnet die Augen, sieht Konrad im dunkelblauen Anzug und weißen Hemd, so weiß wie sein noch immer volles Haar. Wie aus dem Ei gepellt sitzt er ihr gegenüber. Nachts um halb drei! Sie denkt darüber nach, wie es kommt, dass er, so wie er da sitzt, aussieht, als sei alles vollkommen in Ordnung mit ihm. Man sieht ihm nicht an, dass er immer mehr aufhört, derjenige zu sein, der er einmal war. Dass sich sein Inneres zu einem Punkt zurückgezogen hat, den sie nur unter Aufwendung aller Kraft vergrößern kann, um den Mann wiederzuerkennen, den sie einmal geheiratet hat.
Konrad hatte ihr die Rechnung der Flugtickets unter die Nase gehalten. Keine fünfhundert Euro für fünf Personen, hin und zurück, sogar die spanischen Worte nannte er. Vielleicht hatte sie ihm jemand aufgeschrieben, denn immer hatte er sich mit den Worten »Ich bin Techniker.« geweigert, mit ihr einen Sprachkurs zu besuchen. Außerdem verschwanden auch die deutschen Begriffe mehr und mehr...
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