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Ninon war vierzehn Jahre alt, als sie 1910 an den berühmten Autor des Peter Camenzind schrieb - zwanzig Jahre später wurde sie seine Frau.Nach Jahren der Korrespondenz besucht Ninon - inzwischen von ihrem ersten Mann, dem Wiener Künstler Benedikt Fred Dolbin, getrennt - Hermann Hesse erstmals 1922 im Tessin. Fünf Jahre später bricht sie alle Brücken hinter sich ab, verkauft ihr Elternhaus, löst ihren Wiener Hausstand auf, um Hesse aus einer lebensbedrohenden Krise zu retten. Sie wird zu seiner Vertrauten und ist ihm besonders in der krisenhaften Zeit des Steppenwolfs so unentbehrlich, dass der Schriftsteller das Wagnis einer dritten Ehe eingeht. Es wird eine harmonische Ehe, die über drei Jahrzehnte bis zu Hesses Tod währt. Doch wer war diese außergewöhnliche Frau, die Hesse von der Zerrissenheit des mittleren Lebensjahrzehnts zur inneren Stabilisierung und Ausgewogenheit seines Spätwerks führte? Und dabei auch ihre eigenen kunsthistorischen Interessen nicht vernachlässigte? Gisela Kleine erzählt fesselnd und einfühlsam die Geschichte dieser Ehe und zeigt, wie die dialogische Gemeinschaft mit Ninon auch das Werk Hermann Hesses geprägt hat.
Oktober 1931. Im Gemeindeamt von Montagnola/Tessin und im Rathaus zu Bern hängt ein Aufgebot: das Eheverlöbnis des vierundfünfzigjährigen Schriftstellers Hermann Hesse und der sechsunddreißigjährigen Ninon Dolbin geb. Ausländer aus Czernowitz. Die Hochzeit wird auf den 14. November 1931 festgesetzt. Am Vorabend der Trauung schreibt Hesse an den Publizisten Heinrich Wiegand: »Morgen nachmittag gehe ich aufs Standesamt, um mir den Ring durch die Nase ziehen zu lassen. Es war Ninons Wunsch schon lange, und diesen Sommer wurde ihre Wiener Ehe geschieden, und da sie jetzt das Haus so sehr hat bauen helfen etc., etc., kurz, es geschieht nun also.«
Was Hesse von einer neuen Ehe - es ist seine dritte - zu halten scheint, verdeutlicht auch sein Brief an Alfred Kubin: »Meine Heirat ist nichts anderes, als was bei mir eben eine Heirat sein kann: ein Akt der Ergebung nach langem Sträuben, eine Gebärde des Nachgebens und Fünfe grade sein lassen der Frau gegenüber. Immerhin, ich bin dieser Frau dafür dankbar, daß sie mich an der Grenze des Alters noch einmal in Versuchung geführt und zu Fall gebracht hat, daß sie mein Haus führt und mich mit leichten, bekömmlichen Sachen füttert, da ich meistens krank bin.«
Ähnlich äußert Hesse sich auch gegenüber Hermann Hubacher: »Unter anderem muß ich grade noch vor dem Abfahren in meine Badener Gruft aufs Standesamt und dort Ninon als Ehefrau eintragen lassen. Na, wenigstens macht es ihr Spaß, und eine Hochzeitsreise macht sie auch, nach Rom, sie hat es in den langen Bau-Monaten redlich verdient.«
Am Tag nach der Trauung schreibt Ninon von ihrer »Hochzeitsreise« an Hermann Hesse, der sich in Baden bei Zürich zu seiner alljährlichen Rheumakur aufhält: »Manchmal bist Du gütig wie mein Vater, und ich glaube ihn zu sehen, wenn ich Dich ansehe. Ich liebe Dich immer - Vogel - kleiner Knabe - geheimnisvoller Zauberer. [.] Ich bin wieder die kleine Ninon und träume von dem wunderbaren Dichter. Ich bin vierzehn Jahre alt und liege in der Hängematte zwischen dem Nußbaum und der Laube und denke an Dich. Hermann, es sind so viele Jahre seither vergangen, vom Lauscher zum Leo war der Weg weit, ich habe soviel erlebt und auch gelitten und auch Schönes gehabt - aber ich denke an Dich wie damals in der Hängematte - an den wunderbarsten Menschen der Welt! Du bist mir soviel geworden - Geliebter, Beschützer und nun Gatte - und doch bist Du mir ein Wunder geblieben, das beglückendste Wunder meines Lebens.«
Ist es Pose, wenn Hesse das Beiläufige dieser Heirat betont und sie lediglich als eine Gefälligkeit oder Belohnung für Ninon ausweist? Ist es ärgerliche Einsicht, daß ihre Gegenwart ihm in einem seit April 1927 erprobten »getrennten Zusammenleben« unentbehrlich wurde? Ist er gezwungen, seine Bindungsangst und seinen Hang zur werkfördernden Isolation zu überwinden, um sich vor dem Verlust Ninons zu schützen? Braucht er sie, und will er es sich selbst und anderen nicht eingestehen?
Hesses Lebensweg ist in zahllosen Publikationen getreulich nachgezeichnet worden. Dabei hat man ihn zu einem monomanisch lebenden Einsiedler stilisiert. Ninon blieb neben ihm fast unbeachtet, denn sie störte das Bild vom »Einspänner« und »Eremiten von Montagnola«. So trifft immer noch zu, was diese am 16. Juli 1952 - nach fünfundzwanzigjährigem Zusammenleben mit Hesse - unmutig gegenüber Karl Kerényi äußerte: »Anläßlich des Geburtstages ist viel über den >einsamen< Hesse geschrieben worden, über sein >Einsiedler<-, sein >Eremitenleben<, ein neu erschienenes Lebensbild hat es fertiggebracht, zwar die Namen der ersten und zweiten Frau von H.??H. (wenn auch falsch) anzugeben, die dritte Frau aber überhaupt nicht zu erwähnen - so daß ich manchmal versucht bin, an meiner Existenz zu zweifeln.«
Ohne die geistige und biographische Verflechtung von Ninon und Hermann Hesse einzubeziehen, bleibt jedoch vieles in der Werkgeschichte unverstanden. Hesses Werke kreisen stets um die eigene Befindlichkeit, doch fand er, von Stufe zu Stufe wie auf einer sich weitenden Spirale höher steigend, eine immer umfassendere Lösung seiner Lebensfragen: vom Selbstgenuß des Ästheten Lauscher, über den Aussteiger Camenzind, den in die Innenschau vertieften Demian und den steppenwölfischen Outsider Harry Haller, dem Ninon sich helfend zugesellte, führte sein Weg über die erlösende Freundschaft Narziß' und Goldmunds zum Bund der Gleichgesinnten in der »Morgenlandfahrt« und danach zum Orden der kastalischen Bruderschaft. Der Weg des »Magister Ludi« aus der weltabgekehrten Geisterprovinz Kastalien in die pädagogische Verantwortung, in den Dienst an der nächsten Generation, kennzeichnet Hesses Alterswunsch nach einer Mitgestaltung der Wirklichkeit. Seine Entwicklung von der steppenwölfischen Zerrissenheit und Isolation in die Bindung wird getragen vom gelebten Dialog mit Ninon.
Wer ist Ninon? Als vierzehnjährige Schülerin schreibt sie ihren ersten Brief an Hermann Hesse, weil ihr der Roman-Schluß seines Frühwerkes »Peter Camenzind« unglaubhaft erscheint: der junge Dichter bricht sein Werk unvollendet ab, da er dessen Voraussetzung, das Alleinsein, scheut. Daß Camenzind sich mit der Behaglichkeit eines kleinbürgerlichen Durchschnittsglücks bescheide und sich in die umzäunte Idylle seines Kindheitsdorfes zurückziehe, deutet sie als Verrat an seiner Begabung, seiner »Sendung«. Werkflucht aus Resignation? »Ich kann es nicht glauben!« Da Ninon erkennt, daß der Roman autobiographisch ist, trifft ihre Kritik an Camenzind zugleich Hermann Hesse. In dem nun beginnenden Briefgespräch vertritt die junge Leserin gegenüber dem erfolgreichen Schriftsteller bescheiden und doch selbstbewußt die Meinung, das Glück eines Dichters könne nur am beglückenden Widerhall seines Werkes gemessen werden.
Wie ein zweiter beherzter Zugriff auf den Autor wirkt Ninons Entschluß im April 1927, in Hesses Nähe zu ziehen. Wieder geht es um die Glücksferne und den Lebensverzicht des Künstlers für sein Werk, um die »tiefe böse Verdrossenheit, diese Dreckhölle der Herzensleere und Verzweiflung«, die Hesse in seinem 1926 verfaßten Roman »Der Steppenwolf« darstellt. »Ich habe mein Leben lang die Unabhängigkeit gesucht und habe sie nun so gründlich, daß ich daran ersticke«, schreibt er im Mai 1925 an Martha Ringier, und kündigt an, sich an seinem fünfzigsten Geburtstag aufzuhängen. Zum Jahresschluß 1926 hofft er in einem Brief an Emmy Ball-Hennings, die Courage zu finden und sich »den Hals durchzuschneiden, denn das Leben ist mir unerträglich«.
Ninon erkennt, daß Hesses depressive Lebensstimmung diesmal bedrohlicher, sein Zerfall mit der Wirklichkeit radikaler ist, entsprechend krasser klingen die Signale seiner Not. Hier nützt kein brieflicher Zuspruch mehr! Sie verständigt ihren Mann, den Karikaturisten B.??F. Dolbin, von ihrem Entschluß, Hesses »Martyrium« durch behutsame Zuwendung abzumildern: »Hesse lebt ein so martervolles Leben, er quält sich so fürchterlich, er leidet so unter dem Leben und liebt es doch, er braucht die Einsamkeit und leidet doch auch unter ihr - das ist alles ein solcher Komplex von Tragik - aber meine Rolle ist die entsagungsvollste in dem Drama von uns Dreien: H., der Mensch, der sich hat fallen lassen - Du, dem es freisteht, zu handeln, und ich, ich schwebe in der Luft. Ich bin allein.«
In der ihr eigenen Zähigkeit durchbricht sie die Abkapselung des Steppenwolfs. Dadurch verschafft sie nach langem »Dahinwehen« auch ihrem eigenen Leben Ausrichtung und Halt.
Bei meinen Besuchen erlebte ich Hermann und Ninon Hesse in ihrer wechselseitigen Zuordnung. Danach versuchte ich, über Ninons Biographie eine neue Perspektive auf Hesses schriftstellerische Arbeit zu gewinnen. Ich sichtete ihren Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv in Marbach und sammelte ihre Tagebücher, autobiographischen Romanentwürfe, Kurzgeschichten, Gedichte, Reiseniederschriften, wissenschaftlichen Arbeiten über die griechische Mythologie und ihre Briefwechsel. Ich befragte Verwandte und Freunde des Ehepaars, das Hauspersonal und die Dorfbewohner Montagnolas. Ninons Weg aus Czernowitz, der Provinzhauptstadt im östlichsten Kronland der Habsburgischen Monarchie, über das gärende und völkervermischende Wien des Ersten Weltkriegs, über Paris und Berlin in Hesses Tessiner Dorf kennzeichnet zugleich die geistige Spannweite ihrer Entwicklung.
In ihren Selbstzeugnissen vibriert die Unrast begabter Frauen. Sie fürchtete ein Leben aus zweiter Hand und teilte ihre Zeit ein in die Pflicht für Hesse und die Verpflichtung gegenüber ihrer eigenen Begabung. »Lernen Sie nicht Aufopferung als Postulat an das Weibliche«, schrieb sie mir wohlmeinend warnend. »Gefährte-Sein ist eine Forderung, die für den Mann ebenso gilt wie für die Frau, beides aber ist ein Nebenziel, nicht die Hauptsache.« In einer aus Widerspruch und Einklang wachsenden Zusammengehörigkeit verbanden Ninon und Hermann Hesse die Qual des Sich-Ertragens mit dem Glück des Sich-Brauchens.
Unter dem Aspekt eines gelebten Dialoges möchte ich diese vielschichtige und wandlungsreiche Beziehung darstellen. Da ein Zitat lebendiger charakterisiert als viele erzählende Worte, habe ich alle Gestalten aus ihren Selbstzeugnissen aufgebaut. Die neu erschlossenen Quellen geben Auskunft über Hesses Frauenbild, seine überaus starke Mutterbindung, seine zwanghaften Verweigerungen, seinen Selbstgenuß im Leiden. Aus Ninons Tagebüchern erschließt sich der Zusammenhang zwischen Leidensdruck - seiner oft bezeugten »Lebensqual« - und dichterischer Produktion; Hesses Klagen über...
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