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Es ist umstritten, ob die menschliche Hand das menschliche Gehirn oder das Gehirn die Hand geschaffen hat. Sicherlich ist die Verbindung intim und wechselseitig.
Alfred North Whitehead[6]
Wir würden eine Reise durch die Wüste nach Norden antreten, kündigte der Fahrer uns an, das genaue Ziel dürfe er uns nicht nennen. So fuhren wir durch die Dunkelheit, während jedes Schlagloch uns gegen die Wände des Landcruisers prallen ließ. Als die Sonne aufging, zeigte sich eine Landschaft von eigenartiger Schönheit. Links der Fahrbahn erstreckten sich endlose Schotterflächen, aus denen sich in der Ferne ein Gebirge erhob. Auf dem Geröll wuchsen ein paar Akazien, wir sahen eine Ziegenherde und ein Kamel. Im Übrigen schien die Gegend verlassen. Zu unserer Rechten aber schimmerte tiefblau und bis zum Horizont Wasser. Am Ufer wuchsen Palmen so üppig, dass ein Foto als Werbung für einen Karibikstrand hätte durchgehen können, nur die Nilkrokodile, die sich im Sand sonnten, störten. Dies war der Turkana-See, der größte Wüstensee der Welt, dessen Salzwasser auf 250 Kilometern Länge das weite Tal des afrikanischen Grabenbruchs füllt.
Gegen Mittag näherten wir uns der äthiopischen Grenze. Wir passierten ein paar aus Palmwedeln geflochtene Hütten, vor denen Menschen saßen, die es irgendwie schafften, in dieser Ödnis zu überleben. Dann bog der Fahrer plötzlich ab und steuerte, die Piste hinter uns lassend, in ein ausgetrocknetes Flussbett hinein. Über das Geröll und durch die Felsen dirigierte er den Geländewagen, bis wir schließlich auf einem Hügel ankamen, wo er uns auszusteigen bat. Das Panorama war überwältigend. Zu unseren Füßen lag ein natürliches Amphitheater, vom Wasser der Regenzeit aus dem roten und gelben Tuff gewaschen. In Richtung See zog sich das Flusstal, durch das wir gekommen waren. Die senkrechten Wände des Tals leuchteten in allen Erdfarben und trugen Gesteinssäulen, wie das Gemäuer einer Kathedrale.
Lange standen wir, der Fahrer, die Archäologin Sonia Harmand, ein Fotograf und ich selbst, auf dem Hügel, schauten in die Ferne und schwiegen. Dies sei der Ort, an dem sie die Entdeckung ihres Lebens gemacht habe, sagte endlich Harmand, eine zierliche Französin mittleren Alters. Sie deutete auf einen Haufen bräunlicher Steine vielleicht zwanzig Schritte vor uns. Hier, zu unseren Füßen liege das erste Zeichen vom Erwachen der Menschheit.
Am 9. Juli 2011 habe es sie zufällig hierherverschlagen, das Datum werde sie niemals vergessen. Mit ihrem Mann, Archäologe auch er, habe sie sich in der Wüste verirrt. Um sich zu orientieren, waren sie in der Mittagshitze auf den Hügel gestiegen, auf dem wir jetzt standen. Es war ihr fünfzehnter Sommer in dieser Wüste am Äquator, der man nachsagt, die heißeste Gegend der Erde zu sein, und in der 45 Grad im Schatten normal sind - wenn man denn Schatten findet. »Na und?«, fragte Harmand. Dies sei ihr Land.
Nach ihrem Abitur in Paris war sie nach Ostafrika gereist, angezogen von nichts weiter als einer Sehnsucht. Und dort angekommen habe sich tatsächlich eine unerklärliche und überwältigende Vertrautheit mit diesem Kontinent eingestellt, der vor Millionen von Jahren die Menschheit hervorgebracht hat. In den Savannen des großen Grabenbruchs fühlte sich Sonia Harmand nicht in der Fremde, sondern heimgekommen an einen Ort, an dem sie schon einmal, lange Zeit vor ihrer Erinnerung, war. Da sei ihr klar gewesen, sie würde zurückkehren. Harmand studierte Archäologie in Paris, trat eine Professur in New York an und brach zu den Ufern des Turkana-Sees auf, wo so viele Hinterlassenschaften der frühesten Menschen und Vormenschen entdeckt worden waren wie nirgends sonst auf der Erde.
Als sich die Verirrten an diesem heißen Julitag verorteten, stellten sie überrascht fest, dass sie die Gegend schon mehrmals besucht hatten. Nur wenige hundert Meter entfernt war zehn Jahre zuvor ein rätselhaftes Fossil aufgetaucht - der vollständige Schädel eines Hominiden. Die Knochen waren 3,5 Millionen Jahre alt, stammten also aus einer Zeit, lange bevor Homo sapiens die Erde betrat. Jeder solche Fund ist sensationell, dieser Schädel aber sah noch dazu mehr als ungewöhnlich aus: Das Gesicht des Verstorbenen besaß keine tiefen Augenhöhlen, kein fliehendes Kinn, wie man sie sonst von Vormenschen kannte. Vielmehr wirkte es so flach und ebenmäßig, dass es auf einem Gruppenfoto in heutiger Gesellschaft kaum auffallen würde. Auch sonst erinnerte wenig an die bekannten Fossilien aus dieser Epoche. Nachdem die Paläontologin Louise Leakey den Schädel untersucht hatte, kam sie zu dem Schluss, dass der Tote Vertreter einer bislang unbekannten Art Mensch gewesen sein müsse, die sie Kenyanthropus platyops, »flachgesichtigen Keniamensch« nannte. Und ein Wort aus der Familie Leakey hat Gewicht. Louise ist die Enkelin des legendären Paares Louis und Mary Leakey, deren Fossilienfunden wir die Einsicht verdanken, dass der Mensch aus Afrika stammt. Als Kind war Louise dann zugegen, als ihre Eltern Richard und Meave Leakey in den 1970er Jahren am Turkana-See die ältesten Knochen der Gattung Homo ausgruben.
Barg der unscheinbare Hügel im Ödland des Turkana-Sees noch ein Geheimnis? Harmand funkte ihre Helfer herbei. Zwei Dutzend Männer schwärmten aus. In Ketten einer neben dem anderen durchkämmten sie das Gelände, darauf geschult, mit überscharfen Augen die kleinsten Auffälligkeiten am Boden wahrzunehmen. Das Land an den Ufern des Turkana-Sees ist so trocken, dass kein Humus die Fossilien längst ausgestorbener Geschöpfe bedeckt; sobald ein kräftiger Guss in der Regenzeit eine Schicht Schotter wegwäscht, liegen die Überreste aus Jahrmillionen frei.
Noch am selben Nachmittag dieses 9. Juli 2011 meldete Sammy Lokorodi, ein Fossilienjäger aus dem Volk der Turkana, über Walkie-Talkie Erfolg. An einem Abhang hatte er gut faustgroße Basaltsteine mit ungewöhnlich scharfen Kanten entdeckt. Dies konnte unmöglich Naturbruch sein, jemand musste mit großer Kraft auf die Steine eingewirkt haben. Zu erkennen waren sogar die Schlagmale, wo dieser Jemand immer wieder angesetzt hatte, um die Steine zu spalten und Schneidkanten herauszubrechen.
Die Forscher markierten die Fundstelle mit farbigen Fähnchen, blau für einen behauenen Stein, gelb für Fossilien. Nach einer halben Stunde steckten 50 Fähnchen im Boden auf einer Fläche so groß wie ein Zimmer.
Harmand ließ graben. Anhand der Lage der Gesteinsschichten konnte sie das Alter der Funde datieren. Die Steinwerkzeuge waren fast eine Million Jahre älter als alle bis dahin bekannten Artefakte von Menschen oder auch Tieren. Sie entstanden vor mindestens 3,3 Millionen Jahren, zu einer Zeit, als Kenyathropus platyops, das Flachgesicht, noch auf der Erde weilte. Harmand hielt den Ort ihrer Entdeckung geheim. Kein Plünderer und kein Konkurrent sollte sich der Lagerstätte bemächtigen können, weshalb auch wir nicht erfahren durften, wo genau wir eigentlich waren. Der Weiler aus Palmwedelhütten, den wir passiert hatten, heiße Lomekwi, sagte Harmand. Mehr wollte sie nicht preisgeben.
Ihre Männer gruben vier Sommer lang, denn das Sediment war hart wie Zement und musste vorsichtig aufgebrochen werden. Schließlich hatten die Archäologen fast 150 bearbeitete Steine beisammen. Spektakulärer noch als die Schneidgeräte waren Fundstücke, die als Spitzhämmer und Ambosse zur Herstellung der Klingen gedient haben mussten. Die größten Werkzeuge wogen 15 Kilo, und viele steckten so tief im Boden, dass sie unmöglich später an diese Stelle geraten sein konnten. Zweifellos hatte hier nicht bloß ein einzelner Handwerker Steine behauen: Dies waren die Überreste einer Industrie, so nennen Paläontologen eine Tradition der Werkzeugherstellung. Und die Industrie musste sehr lange in Betrieb gewesen sein, wie die vielen Artefakte in mehreren Geröllschichten verrieten. Jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendelang hatte Generation um Generation intelligenter Wesen hier Werkzeuge hergestellt. An diesem Hügel vor unseren Augen hatten menschenähnliche Wesen voneinander gelernt, Ideen entwickelt und weitergegeben. Die Schöpfer der Klingen, wer immer sie waren, hatten eine Kultur.
Als Harmand endlich im Jahr 2015, kurz vor meinem Besuch, in einer Fachzeitschrift über ihre Grabungen berichtete, feierten die Kollegen ihre Entdeckung als »die wichtigste der letzten 50 Jahre«. Die Funde von Lomekwi sind das Zeugnis der ältesten bekannten Kultur überhaupt, ein Schlüssel, um das Erwachen der Menschheit zu verstehen. Sie erzählen vom Aufstieg einer neuen Macht auf der Erde - einer Spezies, die mit ihrer Intelligenz ihr eigenes Schicksal zu lenken und die Welt nach ihren Vorstellungen zu verändern begann. Ideen, nicht mehr allein die Natur, bestimmten fortan das Geschehen auf dem Planeten. Und die Steine von Lomekwi geben auch Aufschluss darüber, was diese schöpferische Intelligenz auszeichnet und wie sie entstand.
Bis zu Harmands Funden vermutete man, schöpferisches Denken erfordere ein großes Gehirn. Man erzählte die Geschichte ungefähr so: Als Homo, dem Vorfahren des modernen Menschen, durch einen Klimawandel vor gut zwei Millionen Jahren die Nahrung knapp wurde, wurde er kreativ. Er nutzte seine damals schon überragende Intelligenz, um Werkzeuge...
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