Verpflichtende Evaluation und gesetzlich verankerte Ausgleichsmaßnahmen im Rahmen der Anpassung von Polizeigesetzen
Staatsrecht in der Polizeiausbildung
Frank Braun*
Das Grundgesetz der Bundesrepublik ist seit mehr als sieben Jahrzehnten Garant einer freiheitlichen Demokratie. Vor dem Hintergrund von zwölf Jahren Nationalsozialismus setzten sich es die Väter und Mütter des Grundgesetzes zum Ziel, der neuen Bundesrepublik eine Verfassung zu geben, deren Dreh- und Angelpunkt die Menschenwürde und die nachfolgenden Grundrechte sind; flankiert von den Staatsstrukturprinzipien, die die grundlegenden Leitlinien der nationalen Staatsverfasstheit abbilden: Rechtsstaat, Republik, Demokratie, Bundesstaat und Sozialstaat. Dass diese Grundsätze schlichtweg konstituierend für die Verfassung unseres Landes sind, bedarf keiner besonderen Erwähnung; eben so wenig, dass polizeiliches Handeln in einer freiheitlichen Demokratie stets von den besagten Prinzipien und der grundgesetzlichen Werteordnung als Ganzes gesteuert werden muss. Das Fach Staatsrecht, in dem diese Grundfesten der Demokratie, insbesondere die Achtung der Grund- und Menschenrechte und die Grundsätze verhältnismäßigen und rechtsstaatlich domestizierten Eingriffshandelns den Studierenden vermittelt werden, prägt insoweit - mehr als jedes andere Fach - das Berufsbild des Polizeibeamten.
Vorab: Verfassungspatriotismus als deutsche Besonderheit
Das Grundgesetz genießt in der Bevölkerung ein Ansehen und eine nahezu sakrale Wirkkraft, die im Vergleich zu anderen demokratischen Staaten recht ungewöhnlich sind. Die Verfassung scheint mittlerweile als abstrakter Gründungsmythos der Bundesrepublik das deutsche Volk und seine Zusammengehörigkeit mehr oder weniger alternativlos zu repräsentieren. Es ist zwar Anliegen jeder Verfassung, "die Selbstidentifikation der Nation fortzuschreiben, sie durch die Kraft repräsentativer Symbole, Personen, Verfahren und Institutionen zu einer politischen Einheit zusammenzuhalten"; dass aber die Verfassung selbst zum Symbol wird und quasi als Nullpunkt und nicht als "Fortschreibung" die Einheit eines Volkes kennzeichnen soll, ist einzigartig.
"Das Grundgesetz genießt in der Bevölkerung ein Ansehen und eine nahezu sakrale Wirkkraft."
Es ist zwei Phänomenen geschuldet, dass eine solche Art von Verfassungspatriotismus als spezifisch deutscher Ersatz für ein demokratisches Nationalbewusstsein entstehen konnte. Zum einen stand den Deutschen in Anbetracht des nationalsozialistischen Unrechts, das rückwirkend auf die gesamte deutsche Vergangenheit ausstrahlt, kein unumstrittenes historisches Ereignis mit Symbolkraft für einen Gründungsmythos zur Verfügung. Zum anderen scheint man sich in der Diskussion um eine deutsche Leitkultur nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner - die tragenden Verfassungsgrundsätze - einigen zu können.
"In der Diskussion um eine deutsche Leitkultur scheint man sich nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen zu können."
Nachdem die Bevölkerung zunehmend heterogener zusammengesetzt ist, da verbindende Elemente, wie gemeinsame traditionelle und religiöse Strukturen, sich aufgelöst haben, bietet wohl nur das Grundgesetz Halt für eine "offene Gesellschaft". Die in der Verfassung verankerte Menschenwürde, die Gewährung von umfassenden Freiheitsrechten, Rechtsstaat, Demokratie, Gleichberechtigung, sozialem Schutz sowie die Trennung von Staat und Religion könnten als identitätsstiftend für das deutsche Volk empfunden werden. Derart verstandener Verfassungspatriotismus ist ein staatsbürgerschaftliches Konzept, das sich als Alternative zu einem ethnischen Staatsverständnis sieht. Die Staatszugehörigkeit soll auf grundgesetzlich garantierten Werten beruhen und nicht auf Abstammungs- oder Sprachgemeinschaften.
Verfassung und Polizei
Prägend für die tägliche Polizeiarbeit sind die Grundrechte und das Rechtsstaatsprinzip. Rechtsstaat bedeutet, dass die Ausübung staatlicher Macht nur auf Grundlage der Verfassung und im Rahmen der Gesetze mit dem Ziel der Gewährleistung von Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zulässig ist. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG sowie Art. 1 Abs. 3 GG enthalten mit der Gewaltenteilung und der Bindung aller Staatgewalt an "Recht und Gesetz" wichtige Teilelemente des Rechtsstaatsprinzips. Darüber hinaus bestehen eine Reihe weiterer Einzelausprägungen, die eine rechtsstaatliche Polizei prägen: Effektiver Rechtsschutz (vor allem bei heimlichen polizeilichen Maßnahmen), Normenklarheit und -bestimmtheit, Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns oder das Recht eines jeden Bürgers auf ein faires Verfahren.
"Rechtsstaat bedeutet, dass die Ausübung staatlicher Macht nur auf Grundlage der Verfassung und im Rahmen der Gesetze zulässig ist."
Die Grundrechte und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kommen bei allen polizeilichen Eingriffsmaßnahmen zur Geltung. Aufgrund der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe wie "öffentliche Sicherheit" und "Gefahr" im Tatbestand von Eingriffsbefugnissen sowie dem auf der Rechtsfolgenseite eröffneten Ermessen ist das Polizeirecht nichts anderes als ein durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bestimmtes System von grundrechtlich determinierten Abwägungsentscheidungen. Dabei bewegt sich die Polizei ständig zwischen Schutz und Eingriff. Einerseits soll sie die Freiheit der Bürger vor staatlichen Eingriffen wahren, andererseits sie vor Übergriffen Dritter schützen.
"Die Grundrechte und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kommen bei allen polizeilichen Eingriffsmaßnahmen zur Geltung."
Aktuelle Herausforderungen: Der Umgang mit Minderheiten
Art. 3 Abs. 3 GG verbietet eine Bevorzugung oder Benachteiligung aufgrund des Geschlechtes, der Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, sowie des Glaubens und der religiösen oder politischen Anschauungen. Grundsätzlich ist eine Ungleichbehandlung aufgrund der genannten Differenzierungskriterien verboten; jeder Verstoß führt zur Verfassungswidrigkeit. Allerdings lässt das Bundesverfassungsgericht im Einzelfall Ausnahmen unter strikter Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und nur zum Schutz hochrangiger Rechtsgüter zu. In Bezug auf sog. verdachtsunabhängige Kontrollen wurden diese Grundsätze in bemerkenswerter Weise von der Rechtsprechung präzisiert und die umstrittene Frage zu beantworten versucht, unter welchen Voraussetzungen polizeiliche Maßnahmen getroffen werden dürfen, die an die "Rasse" des Polizeipflichtigen anknüpfen. Unbestritten sind solche Maßnahmen unzulässig und stellen ein nicht zu rechtfertigendes "racial profiling" dar, wenn die Maßnahmen allein (oder als tragendes Motiv) aufgrund der Rasse des Adressaten vorgenommen werden. Dies gilt selbst dann, wenn die Maßnahmen gerade die Bekämpfung der Ausländerkriminalität bezwecken. Allerdings können polizeiliche Maßnahmen speziell gegen Angehörige der durch Art. 3 Abs. 3 GG geschützten Gruppen verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden, wenn "Rasse", Abstammung usw. nicht der einzige Anlass der polizeilichen Maßnahme waren. Welche zusätzlichen "anderen" Beweggründe der Polizei vorliegen müssen, ist dabei noch nicht eindeutig geklärt. Nach der Rechtsprechung des OVG Münster soll ein bloßes "auffälliges Verhalten" neben der "Rasse" des Betroffenen noch keine Polizeikontrolle rechtfertigen können. Allerdings hält das Gericht Maßnahmen gegen Angehörige einer bestimmten Ethnie für zulässig, wenn hinreichend konkrete Anhaltspunkte einer Störerschaft für diese Gruppen am Kontrollort vorliegen. Die Polizei muss hierfür einzelfallbezogen vortragen, dass Personen, die ein solches Merkmal aufwiesen, an der entsprechenden Örtlichkeit überproportional häufig strafrechtlich in Erscheinung träten ("gesicherte Lageerkenntnisse"), wie etwa bei den Vorfällen im Rahmen der "Kölner Silvesternacht" beim Jahreswechsel 2016/2017 der Fall war. Hier war eine Kontrolle bevorzugt männlicher Personengruppen nordafrikanischen Aussehens ausnahmsweise verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
Eine noch größere Herausforderung für Polizeibeamte dürfte der gesellschaftlich umstrittene Umgang mit Grundrechtsträgern sein, die von Kommunikationsgrundrechten Gebrauch machen, die als Minderheitengrundrechte konzipiert sind. Diese Grundrechte nehmen in Bezug auf ihre demokratische Funktion eine herausragende Stellung ein: Das Volk muss die Möglichkeit haben, sich ungehindert zu informieren, Meinungen zu bilden und diese - gerade auch in Versammlungen - zu äußern. Aus diesem Grunde haben die Kommunikationsgrundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG sowie die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) für eine freiheitliche...