Tödliche Séance
von Marlene Klein
Noch trennten mehrere Minuten und eine noch größere Distanz Brooke Adams von der Séance, der sie beiwohnen wollte. Trotzdem lag ein beklemmendes Gefühl wie die Klaue eines unsichtbaren Drachens um ihre Brust, das nicht weichen wollte.
Zitternd atmete sie tief ein und betrachtete die Umgebung. Die Architektur des Gebäudes war zweckmäßig durchdacht. Der Flur, der vor ihr lag, war lang und besonders breit. Breit genug, um Mithäftlinge zu passieren, ohne sich zu berühren. Breit genug, um mit mehreren Beamten nebeneinander voranzustürmen, sollte das n?ö?t?i?g sein.
Der Linoleumboden war kalt, hart und dämpfte ihre Schritte. Niemand aus der Gruppe sprach ein Wort. Trotz der Weite des Gangs fühlte sich Brooke eingesperrt, unfrei, eine dumpfe Empfindung, die ihr aufs Gemüt drückte und ihre Miene versteinern ließ ...
Auch ihre Begleiter auf dem Weg durch das Gefängnis konnten es nicht lindern, im Gegenteil. Vorweg schritt eine Beamtin des Gefängnisses, des HMPS, »Her Majesty´s Prison Service«. Die Mittdreißigerin trug eine dunkelblaue Uniform und hatte ihr blondes, langes Haar im Nacken zu einem dicken Pferdeschwanz gebunden.
Die schlichte Frisur, der Verzicht auf Make-up und die wenig figurbetonte Uniform konnte ihre Attraktivität nicht ganz verschleiern. Ihr selbstbewusster, strenger Blick allerdings dürfte alle Annäherungsversuche ihrer Schützlinge zunichtemachen.
Ihr folgte Dr. Julianne McPherson, die Gefängnispsychologin, eine junge Frau etwa in Brookes Alter, die einen roten Strickpulli zu Jeans kombiniert hatte. Ihre Pumps klapperten am lautesten auf dem dämmenden Bodenbelag.
Brooke tippelte mit ihren Canvas-Sneakers unsicher hinter ihr her, ab und zu quietschen die Turnschuhe auf dem Boden. Ihr folgte ihr Kameramann Jake Stevenson. Dieser trug sein Arbeitsgerät in der einen, eine große Tasche mit Equipment in der anderen Hand und blickte ebenso ein wenig betrübt aus der Wäsche. Die drei Männer, die Brooke jedoch eigentlich beunruhigten, liefen noch neben, beziehungsweise hinter Jake.
Es waren drei Häftlinge, allesamt wegen Tötungsdelikten verurteilt. Daher war anzunehmen, dass sie keine Chorknaben waren. Die Insassen trugen unförmige Einheitskleidung in einem auffälligen Orangeton. Ein Fetter mit Stiernacken, der Oberarme dick wie die Schenkel eines T-Rex hatte, hatte ihr schon mehrfach auf den Hintern gesehen,
Brooke konnte die Blicke fast körperlich spüren. Immer wieder schmatzte er leise vor sich hin, gerade so, als würde ihm schon allein vom Anblick ihrer Kehrseite das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Brooke räusperte sich und blickte stur geradeaus in den endlosen Flur. Zu dem Dicken gesellte sich ein junger Kerl, der noch keine Mitte zwanzig sein konnte. Er lockerte seine triste Einheitskleidung mit einem Basecap auf. Brooke wunderte sich, dass das erlaubt war, schließlich hätte er darunter etwas verstecken können. Er grinste unentwegt und sein Gang war so locker und beschwingt, als würde er durch einen Vergnügungspark laufen und nicht durch die Haftanstalt, in der er einsaß.
Der dritte Häftling war schon älter, von großer, schlaksiger Statur mit grauer Halbglatze. Obwohl er dieselbe Kleidung trug, wirkte alles an ihm überaus gepflegt und elegant, ja schon fast aristokratisch, sein dezentes Aftershave schwebte angenehm durch den Flur.
Unwillkürlich fragte sich die Web-Reporterin, ob er seine Straftat in relativ hohem Alter begangen hatte, oder ob er hier hinter Gittern gealtert war. Er strahlte nicht die Aura eines Knackis aus, eher eines Akademikers oder britischen Lords.
Ergänzt wurde die Gesellschaft von zwei Patienten der Psychologin aus ihrer Praxis in der Innenstadt. Ein Mann mit auffälliger Goldrandbrille und zurückgekämmten Haaren, dessen Mimik und Gestik jung und unsicher wirkten, obwohl er das Gesicht eines Mittvierzigers hatte, in dem sich erste Falten zeigten.
Neben ihm ging eine junge Frau, die unentwegt leise vor sich hin weinte. Die Taschen der grauen Strickjacke, die sie über dem geblümten Kleid trug, konnten die ganzen Taschentücher kaum halten. Wenn diese beiden Patienten hier waren, um am Ritual teilzunehmen, bedeutete das im Umkehrschluss, dass auch sie einen Menschen getötet hatten. Unter welchen Umständen auch immer.
Dies würde vielleicht auch die Tränen der jungen Frau erklären. Die Nachhut bildete ein weiterer blau gekleideter HMPS-Beamter. Für Brooke, ihren Kameramann und die Praxispatienten war dieser Ausflug in »Her Majesty´s Prison« eine einmalige Angelegenheit, worüber die Web-Reporterin mehr als froh war. Nur galt das beileibe nicht für alle Mitglieder der Gruppe ...
Sie stoppten an einer Glastür, deren Sicherheitsglasscheibe mit weiß lackierten Stahlstreben verstärkt war. Die Beamtin schloss auf, die Gruppe passierte die Tür zu einem Treppenhaus, und die HMPS-Beamtin verschloss diese hinter ihnen wieder sorgfältig mit dem Schlüssel aus dem überaus dicken Schlüsselbund, der an ihrem Gürtel befestigt war.
Seit Minuten liefen sie schon auf diese Art und Weise durch das Gebäude, das kein Ende zu nehmen schien. Brooke schluckte unbewusst und hoffte, dass ihr außergewöhnlicher Spaziergang bald zu Ende sein würde.
Im Moment empfand sie den Weg zum Ritual bedrohlicher als die Beschwörung selbst, der sie beiwohnen wollte. Mit Geistern, Ritualen, unheimlichen Beschwörungen und allerlei Dämonen kannte sie sich aus, waren sie doch das Thema ihrer Internet-TV-Sendung Brooke's Spooks.
Zwei Stockwerke liefen sie die Treppen nach oben, um, nach einer weiteren Tür, an der das Schließungsprozedere wiederholte wurde, in einen neuen Flur zu gelangen, der dem verlassenen ähnelte wie ein Zwilling, allerdings war der Abstand zwischen den Türen hier deutlich größer.
Während ihres ganzen Wegs war ihnen kein einziger weiterer Häftling begegnet. Jetzt, nach 21 Uhr, wurden diese zur Nachtruhe wieder in ihre Hafträume eingeschlossen. Die blonde Beamtin schloss das Ziel ihres Wegs auf, der Fitnessraum der Anstalt, der für ihre Zwecke umgeräumt worden war.
Die Geräte waren zur Seite geschoben worden. Vor der großen Spiegelwand, die den Raum abschloss und vor der die Häftlinge sonst schwitzend und posierend Gewichte stemmten, war Platz geschaffen worden. Parallel zur Wand hatte man Matten auf dem Boden ausgelegt, sodass man in einer Reihe nebeneinander vor dem Spiegel auf dem Boden Platz nehmen konnte. Dicke Kerzen standen auf dem Fensterbrett bereit.
Obwohl sie sich hier im zweiten Stock befanden, waren die Fenster vergittert. Das waren keine kleinen, ziselierten oder geschwungenen Zierstäbchen, mit denen Omis ihre Kellerräume schützten, nein, diese Gitter vor den Fenstern waren aus dicken, massiven Stahl.
Der Gefängnishof mit den gemauerten Tischtennisplatten und dem verankerten Basketballkorb zwei Stockwerke tiefer war zu dieser Stunde logischerweise verwaist, nichtsdestotrotz brannte die Beleuchtung rund um die Uhr. Auch ein Umstand, an den sich manch neuer Häftling erst gewöhnen musste. Genauso wie die Tatsache, dass eine hohe Mauer anstelle eines Horizonts den Ausblick aus jedem Fenster beschränkte. Betongrau, wie der Rest des Hofs. Trist und öde.
Brooke versuchte, ihre trüben Gedanken zu verbannen und sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Daher sprach sie einfach die Gefängnispsychologin an: »Mrs. McPherson, ich würde jetzt gerne ein Intro drehen und dann das kurze Interview, über das wir gesprochen hatten. Wäre das möglich?«
Die Psychologin, die sich an die Fensterbank gelehnt hatte, zuckte mit den Schultern. »Natürlich. War ja so abgesprochen.«
Ihre Patienten verteilten sich auf den herumstehenden Geräten und der Hantelbank. Der Dicke verschränkte die fleischigen Arme, auf denen ein regelrechtes Fell aus blonden Haaren wuchs. Die Rücken- und Brustbehaarung quoll aus dem groben Leinenstoff, selbst aus der Nase und den Ohren wucherte es.
Er brummte einen undefinierbaren Ton, fixierte Brooke und fuhrwerkte mit der Zunge in seinem Mund herum, als würde er einen Kaugummi hin und her schieben, den er nicht besaß. Vielleicht pulte er sich auch die Reste des Abendessens aus den Zwischenräumen der Backenzähnen. Ein Anblick der Brooke anwiderte.
Die Marken-Kappe hockte breitbeinig relaxt auf der Hantelbank, die Unterarme, auf denen großflächige, schlecht gestochene Tattoos prangten, lagen locker auf den Oberschenkeln. Die graue Halbglatze stand und hatte die Hände vor dem Körper gefaltet, Goldrandbubi sah betreten unter sich, das Blümchenkleid wischte sich mit dem Handrücken eine Träne aus dem Augenwinkel.
Jake dirigierte Brooke und die Psychologin vor die weiße Wand neben der Tür, Brooke schnappte sich ein Mikro aus dem Equipment, tippte sich gegen die Affenschaukelzöpfe, die zu wippen begannen, und wandte sich an ihren Kameramann: »Wie sehe ich aus, Jake?«
»Als wärst du kurz vor einer klaustrophobischen Panikattacke, aber ansonsten wie immer«, lautete sein trockener Kommentar.
Brooke verzog angesäuert das Gesicht.
Jake beschwichtigte: »Nein, Brooke, du siehst toll aus....