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Ernst Heimatshagen war sechs Jahre alt und weinte recht jämmerlich, als er dieses Mädchen zum ersten Mal sah. Eigentlich sah es ihn. Zumindest erschien ihm dies so. Das Mädchen war dünn, hatte kurze, ausgefranste Haare und einen Gesichtsausdruck wie der behinderte Sohn von Onkel Hubert aus Castrop Rauxel. Sie war etwas größer als er. Ob das daran lag, dass sie so dünn war? Wenn man keinen Bauch hatte, schoss man in die Länge. Sie trug rote Sandalen, Kniestrümpfe, einen hellen Rock und dazu eine blaue Bluse. Ihr Tornister wirkte riesig auf ihrem schmalen Rücken. Das Mädchen war erst an ihm vorbeigegangen. Nach einigen Metern war sie dann doch stehen geblieben und zurückgekommen. Sie stand fast direkt vor ihm und blickte ihn mit ihren komischen Augen an. Er war sich nicht mal sicher, ob sie ihn wirklich ansah oder doch nur das nächste Straßenschild.
»Was'n los?«, fragte sie mit einer Stimme, die leicht eierte wie ein Plattenspieler, bei dem die Abspielgeschwindigkeit nicht mehr stimmte.
Ernst Heimatshagen wischte sich hastig seine Krokodilstränen aus dem Gesicht. Die musste ja nicht sehen, wie er hier rumheulte. Es war erst sein siebter Tag in der neuen Schule, er wollte nicht gleich als Heulsuse gelten. Ihre Frage beantwortete er nicht. Hätte er diesem Mädchen sagen sollen, dass er vor vier Wochen in diese Stadt gezogen war, weil sein Vater hier Arbeit gefunden hatte. Dass er hier nicht einen einzigen Freund hatte und die neue Wohnung nicht leiden konnte. Er konnte diese Stadt nicht leiden. Er konnte die Straße, in der er nun wohnte, nicht leiden. Er konnte seine Eltern nicht mehr leiden. Er konnte die neue Schule nicht leiden. Die Einschulung war noch ganz nett gewesen. Er hatte ein Comic in seiner Schultüte gehabt und ganz viele Süßigkeiten. Aber schon am zweiten Tag war die Schule doof gewesen. Er hatte keine Freunde mehr, er war völlig allein in dieser Stadt.
»Sieh mal, wie praktisch wir hier wohnen, Schatz. Die Schule ist gleich um die Ecke. Da kannst du allein hingehen mit den anderen«, hatte seine Mutter ihm lächelnd erzählt.
»Welche anderen?«
»Deine neuen Freunde.«
Es gab keine neuen Freunde. Wahrscheinlich würde er nie wieder Freunde haben. Diese neue fremde Stadt würde ihn auffressen und für immer irgendwo in ihrem Magen einsperren.
Sollte er das diesem Mädchen sagen?
Die stand immer noch vor ihm und blickte ihn an oder das Straßenschild an der Ecke. Er war sich da immer noch nicht sicher.
Was hätte er ihr sagen sollen? Dass er neu war in dieser Stadt, auf der Schule? Dass er Angst hatte von der Stadt gefressen zu werden? Dass er Angst hatte vor einem neuen Leben? Dass er nie hierher gewollt hatte?
»Die Schule da?«, fragte das Mädchen und deutete mit ausgestrecktem Arm in die ungefähre Richtung, in der die Schule lag.
Nochmal wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. Das Mädchen ergriff seine Hand. Sogar ihre Finger verschränkten sich mit seinen.
»Gehen wir mal los«, sagte sie, löste ihre dunklen Augen von dem Verkehrsschild oder auch seinem Gesicht und bewegte sich.
Ernst Heimatshagen ging Hand in Hand mit diesem Mädchen zur Schule. Vor der Schule zog er seine Hand weg und lief schnell in das Gebäude.
Es war nicht unangenehm gewesen von diesem Mädchen an der Hand gehalten zu werden. Aber das musste ja auch niemand sehen, dass er wie ein Baby noch an der Hand ging. Auf dem kurzen Weg zur Schule hatten sie nicht miteinander gesprochen.
In der Pause aß er sein Brot auf dem Schulhof und hielt nach dem Mädchen Ausschau. Sie saß auf der obersten Treppe, die ins Gebäude führte und aß ebenfalls ein Brot. Da er nichts Besseres zu tun hatte, beobachtete er sie. Das Mädchen brauchte viel länger für ihr Brot als er selbst. Sie aß fürchterlich langsam. Ernst fragte sich, in welche Klasse sie wohl ging.
Drei Jungen tauchten am Ende der Treppe auf, zeigten mit den Fingern auf sie und lachten dann. Was sie ihr da zuriefen, konnte er nicht verstehen. Aber er sah, dass sie nicht gerade lächelte, als die Jungen sich wieder abwandten.
Nach der Schule hatte er dieses Mädchen bereits vergessen, denn zwei Jungen aus seiner Klasse hatten ihn gefragt, ob er am Nachmittag zum Bolzplatz kommen würde.
Seine Mutter lächelte erleichtert, als er ihr das erzählte. Ernst Heimatshagen zog am Nachmittag mit seinem Lederball zum Bolzplatz, der direkt neben der Schule lag und spielte mit den beiden Jungen Fußball.
Am nächsten Tag verließ er in viel besserer Stimmung das Haus. Als er auf den Bürgersteig trat, blieb er erschrocken stehen. Das Mädchen blickte ihn an und lächelte etwas schief.
»Gehst du mit mir zur Schule?«, fragte sie und streckte ihre Hand aus.
Es war ein noch komischeres Gefühl, an der Hand des Mädchens zur Schule zu gehen, als am Vortag. Er brachte es aber auch nicht fertig, diese Hand abzulehnen. Aber vor der Schule zog er sie wieder ganz schnell zurück. Auch in ganz jungen Jahren hatte man schon einen Ruf zu verlieren.
Von nun an stand das Mädchen jeden Morgen auf dem Bürgersteig vor der Haustür und wartete auf ihn. Bald wusste er, dass sie Tamara hieß und in die zweite Klasse ging. Sie wohnte ein paar Straßen weiter in diesen Zechenhäusern. Er nahm ihre Hand, konnte das einfach nicht verweigern. Entzog sie ihr aber bald schon auf halber Strecke. Sie redeten immer nur ein paar Sätze miteinander. Ihre Antworten waren oft etwas komisch. Wenn man sie nach ihrem Vater fragte, dann sagte sie zum Beispiel solche Sachen: »Ich musste ihm Dreck ins Gesicht werfen.« Oder solchen Babykram, dass er auf einer Wolke im Himmel säße. Ihre Stimme eierte immer noch ein bisschen. Auch trug sie komische Sachen, die gar nicht zueinander passten.
»Mama macht die selbst.«
Da sollte ihre Mama aber besser noch etwas üben. Auch bei dem Haarschnitt.
Nur wenn Tamara lächelte, dann sah sie sogar hübsch aus. Ansonsten hatte sie schon einen zumindest gewöhnungsbedürftigen Gesichtsausdruck. Ernst wusste nie, ob sie ihn anblickte oder etwas, das es in dieser Welt gar nicht gab.
Sie gingen einfach zur Schule, mehr nicht. Auf dem Schulhof war Ernst mit anderen aus seiner Klasse zusammen. Tamara saß auf der Stufe oder stand am Ende der Treppe, wenn es zu kalt zum Sitzen war.
Nachdem er ihr auf dem gemeinsamen Schulweg mal erzählt hatte, dass er auf dem Bolzplatz Fußball spielte, hatte sie nachmittags am Zaun gestanden, der den Platz umgab, und hatte zugesehen. Ernst wusste nicht, ob er sich darüber freute oder nicht.
»Kennst du die?«, fragte Richard aus der Zweiten Klasse und deutete auf das Mädchen hinter dem Zaun.
»Tamara.«
»Das ist eine von den Polaken. Die klauen, sagt mein Vater. Die ist in meiner Klasse. Total doof. Was macht die hier?«
»Sie guckt zu«, antwortete Ernst, der die Frage auch nicht gerade für sonderlich klug hielt.
»Wenn der Zaun nicht wäre, würde ich der den Ball vor'n Kopp schießen.«
»Warum?«
Richard blickte ihn an, als hätte er Schneckenschleim im Gesicht.
»Weil die doof ist!«
»Ja, klar«, erwiderte Ernst und schnappte sich den Ball. Als er in Tamaras Richtung blickte, hob sie den Arm und winkte. Von den anderen hatte das keiner gesehen.
Den Nachmittag verbrachte Ernst mit der Angst, dass Tamara noch dort stehen würde, wenn es Zeit wäre nach Hause zu gehen. Dann würde jeder sehen, dass er eine von den Polaken kannte.
Doch Tamara war bereits fort, als sie ihr Spiel beendeten. Glück gehabt.
Am nächsten Morgen wartete sie vor dem Haus.
»Hör mal. Du kannst nicht einfach zum Bolzplatz kommen und zuschauen«, sagte er sofort.
»Das wusste ich nicht«, kam wieder eine ihrer komischen Antworten.
Dann schnappte sie sich seine Hand. Sie kam nicht mehr zum Bolzplatz. Am nächsten Tag kam sie gar nicht.
Er wartete auf sie, doch sie erschien nicht. Schließlich ging er allein zur Schule. Vielleicht war sie ja krank. Am Nachmittag auf dem Bolzplatz blickte er dauernd zum Zaun, doch da war niemand.
Am nächsten Morgen stand sie wieder vor der Haustür und wartete auf ihn.
»Ich war mit Mama bei einer Untersuchung«, sagte sie sofort und ihre Unterlippe zitterte komisch, als stünde sie kurz vorm Weinen.
»Bist du krank?«
Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Nein. Ich bin dumm.«
»Häh?«
»Da war so ein Test. Fragen und so. Ich musste auch was malen. Ich male gerne den Himmel mit der Sonne. Mama war hinterher sehr böse. Sie hat dem Mann gesagt, Tamara ist nicht dumm.«
»Dann ist es doch gut. Du bist nicht dumm.«
Sie legte den Kopf etwas schief, ihre Lippe zitterte nicht mehr. Als sie seine Hand nahm, schien die Welt für kurze Zeit wieder in Ordnung zu sein.
»Ich weiß nie viel. Warum darf ich nicht zum Bolzplatz kommen? Ich guck nur zu. Du spielst gut.«
»Das ist nichts...
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