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1. Der eine glaubt, die andere nicht
Ich war neun Jahre alt, und die Bergbaukrise der 80er Jahre hatte unser Familienleben auf den Kopf gestellt. Erst ging die Firma meines Vaters verloren, dann unser Haus, und dann mein Freundeskreis. Am anderen Ende der Stadt und ohne Spielkameraden wurde mein Großvater umso wichtiger. Fast jedes Wochenende war ich bei ihm und meiner Großmutter, und nie war es langweilig. Ich war auch dort, als der Anruf kam: Das Haus ist weg. Zwangsversteigerung. Wie alle Eltern hatten auch meine versucht, das Unglück, solange es ging, von den Kindern fernzuhalten. Jetzt ging es nicht mehr. Der Umzug war ein tiefer Einschnitt. Es hat Jahre gedauert, bis ich mich wieder in einem Haus wirklich zuhause gefühlt habe.
Meine Eltern sind Menschen, die nicht aufgeben. Sie fanden damals ein anderes Einkommen und ein anderes Haus zur Miete. Einige Monate nach dem Umzug war ich immer noch nicht angekommen und lag abends lange wach. Jeden Abend. Ich war zutiefst verunsichert und auch überfordert. Aber das sollte niemand wissen. Natürlich hätte ich meinen Eltern davon erzählen können; wir hatten kein schlechtes Verhältnis. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt das, was man allgemein unter einer glücklichen Kindheit versteht. Aber irgendwie musste ich das alles mit mir selbst ausmachen. Schließlich hatten alle genügend eigene Probleme, und der enorme finanzielle Druck war jeden Tag spürbar. So entwickelte ich Zwangshandlungen - wie viele Menschen, die ihr entgleistes Leben wieder in die Bahn bringen wollen. Und auch die wollte ich vor meinen Eltern verbergen. Das war harte Arbeit, denn die Zwänge waren Teil meines Alltags: Ich musste mir ständig meine Fingerspitzen ablecken, was nicht nur unhygienisch, sondern auch peinlich war. Schlimmer war jedoch, dass ich mir jedes Wort, dass ich z.B. auf der Straße las, innerlich drei Mal vorsprechen musste. Jedes Werbeplakat, jeden Wegweiser. Ich kann sagen: Das erzeugt keine Sicherheit, sondern einen Heidenstress.
An einem der langen Abende bekamen meine Eltern einen Anruf. Das (einzige!) Telefon stand, wie damals üblich, im Eingangsbereich, in Hörweite meines Zimmers. Ich stand auf, öffnete die Tür einen Spalt breit - und ich ahnte: Da kommt ein neues Unglück. Ein richtiges. Meine Mutter nahm ab und wenige Augenblicke später brach sie in Tränen aus. Es ging offenbar um meinen Großvater. Später erfuhr ich, dass es ein Schlaganfall gewesen war. Für den Moment wusste ich nur: Er ist ernsthaft krank, und es sieht nicht gut aus.
Was tut ein Neunjähriger in so einer Situation? Er heult wie ein Schlosshund. Er zieht die Decke über den Kopf. Er flüchtet sich in seine Zwänge. Er verhandelt mit Gott.
Ich muss dazu sagen: Ich kannte Gott eher vom Hörensagen. In unserer Familie wurde nicht über ihn gesprochen, man ging nur an Weihnachten in die Kirche. Aber meine Mutter hatte unregelmäßig abends mit uns gebetet. »Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.« Ich mochte das Ritual, verstand aber nicht eine Silbe dieser Worte. Weder wollte ich klein sein, noch wusste ich, was ein »reines Herz« sein soll. Ich war sogar der Meinung, in meinem Herz müsste doch Platz sein für mehr als nur Jesus allein. Daneben gab es noch einem leidlichen Religionsunterricht, aber das war es das dann auch mit der religiösen Erziehung. Den evangelischen Kindergarten hatte ich jedenfalls weitestgehend - und in Komplizenschaft mit meinem Großvater - umgangen. Wir hatten jeden Morgen beide so lange traurig geguckt und gebettelt, bis ich nicht mehr hinmusste.
Kurz: Ich hatte keinen Grund, auf Gott zu vertrauen. Und ich wusste nicht, wie man betet. Schon gar nicht, wie man es mit eigenen Worten tut. Aber was hatte ich noch zu verlieren?
Und so habe ich das erste freie Gebet meines Lebens gesprochen. Es kam alles raus, was ich sonst nicht sagen wollte: Dass ich unendlich traurig war. Dass ich Angst hatte. Dass mein Großvater leben sollte. Dass alles so werden sollte, wie es vorher war. Das Gebet sprach ich - man ahnt es - drei Mal. Wenn schon zwanghaft, dann richtig.
An jenem Abend habe ich Frieden gefunden. Das meine ich nicht als Floskel. Es ist für mich der beste Ausdruck, den unsere Sprache für diese Erlebnis bietet. Es war nicht spektakulär, nicht aufregend, nicht übersinnlich in der Art, dass ich eine Macht gespürt habe, die sich der Wahrnehmung sonst entzieht. Und doch bin ich überzeugt: Diese Art Frieden kommt nicht von dieser Welt. Denn er brachte, was bei mir sonst nichts Anderes schafft: eine spürbare Ruhe, die tief im Innersten anfängt und sich dann langsam im ganzen Körper ausbreitet. So fühlt es sich an, nach Hause zu kommen und verstanden zu werden.
Eben hatte ich noch Angst, dass sich schon wieder alles ändert. Ich war entsetzt, ich war traurig. All das löste sich wie ein Krampf in einem Gefühl von Geborgenheit auf. Als ob dich der Heilige Geist persönlich in den Arm nimmt.
Im Alten Testament wird oft vom Schalom gesprochen, einem universalen Frieden, der so ziemlich jedes Gefühl von Glück und Zufriedenheit bringt, dass man sich zwar wünschen, aber nicht für Geld kaufen oder selbst machen kann.1 Diesen Frieden meine ich. Nicht einfach »Ruhe« oder »Entspannung«. Ich meine einen tiefen inneren Frieden mit der Tatsache, das Leben nicht in der Hand zu haben.
Das war kein einmaliges Erlebnis. Es ist mir danach wieder passiert. Aber es ist ein besonderes, seltenes Erlebnis. Bis heute geschieht es mir im Gebet immer wieder. Aber nur da. Bisher habe ich keinen Weg gefunden, dieses Gefühl anders zu erleben. Kein Mensch kann mir dieses Gefühl geben. Es kommt mir eher vor, als würde eine größere Wirklichkeit in mein Leben einbrechen. Ein kleines Stück Ewigkeit mitten in der Zeit. Das klingt kitschig, aber so fühlt es sich eben an.
Wurde mein Gebet erhört? Ganz sicher. Hat es die gewünschte Wirkung gehabt? Nun ja: Mein Großvater überlebte den Schlaganfall, aber er wurde nie wieder ganz gesund. Ich erhielt nicht das, was ich damals wollte. Aber ich gewann noch einige Jahre mit einem Großvater und einen ganz anderen Begleiter für das ganze Leben: Gott war da, und er ging nicht mehr weg. Richtig intensiv ist der Glaube erst später geworden. Aber das war der erste entscheidende Anstoß.
Ich habe dann weiter gebetet. Unregelmäßig, aber mit der Gewissheit, gehört zu werden. Auch die Zwangshandlungen habe ich in dieser Zeit abgelegt und nie wieder damit angefangen. Ich hatte bessere Wege gefunden, mit Krisen umzugehen. Oder besser gesagt: Ich hatte ihn gezeigt bekommen. So ist mein Glaube entstanden.
Statistik hat nichts mit Deinem Leben zu tun - Gott schon
Wer sich je damit beschäftigt hat, wie Glaube entsteht und warum die allermeisten Menschen - trotz der Abgesänge vom Ende der Religion in den aufgeklärten Gesellschaften Mittel- und Nordeuropas - religiös sind2, wird an der Schilderung einiges wiederentdecken, z.B. den Ansatz des Philosophen Hermann Lübbe. Er sieht in der Religion eine »Kontingenzbewältigungspraxis«, also ein Mittel, die Ungewissheit und Unverfügbarkeit des Lebens auszuhalten.
Auch wenn wir Menschen der Postmoderne als notorische Selbstoptimierer der Idee verfallen sind, alles im Leben machen und erreichen zu können, müssen wir uns wohl eingestehen: den wirklich wichtigen Dingen im Leben sind wir mehr oder weniger ausgeliefert. Unser Schulabschluss zum Beispiel ist zwar das Produkt eigener Leistung - in Wahrheit ist aber selbst in einem Land wie Deutschland der soziale Status der Familie, in die wir hineingeboren werden, maßgeblich dafür, welchen Bildungsabschluss wir erlangen. Auch wenn es immer mal wieder Ausnahmen gibt. Oder nehmen wir die Gesundheit: Du kannst gesund leben und trotzdem mit 25 Jahren an Lungenkrebs sterben, ohne je an einer Zigarette gezogen zu haben. Statistik hat nichts mit Deinem Leben zu tun! Das Märchen, alles schaffen zu können, wenn man nur will und hart genug dafür arbeitet, glaubt man spätestens dann nicht mehr, wenn man mal mit aller Kraft versucht hat, sich zu verlieben. Der Lebensplan mag das erste Kind bis zum 32. Geburtstag vorgesehen haben, allein es fehlt die Partnerin oder der Partner dazu.
Wenn ich das Ende des Gottesdienstes einleite, sage ich oft: »Wir können uns Betten kaufen, aber keinen Schlaf. Wir können uns Häuser kaufen, aber kein Zuhause. Wir können uns Dankbarkeit kaufen, aber keine Liebe.« Das alles hat nichts mit persönlicher Leistung zu tun. Auch den Schalom können wir nicht selbst machen. Das alles und vieles mehr kann man nur dankbar in Empfang nehmen. Wir Christen haben sogar ein eigenes Wort dafür: Wir nennen es »Segen«3, wenn das Leben trotz der vielen kleinen und großen Unsicherheiten gelingt.
Mein Beispiel zeigt, dass Lübbe recht hat: Die Religion hilft tatsächlich, die eigene Machtlosigkeit auszuhalten. Und genau deshalb wird es sie auch weiterhin geben. Zweifelsohne wird der Einfluss der Religion in säkularisierten Gesellschaften weiter sinken, vor allem, was ihre Wirkung auf gesellschaftliche Konventionen, Wissenschaft oder Politik angeht. Auch der Rückzug der Institution Kirche ist wohl vorerst nicht aufzuhalten. Aber es ist eine Illusion, anzunehmen, dass wir unsere Lebensumstände jemals so vollständig in der Hand haben, dass die Religion überflüssig wird.
Natürlich ist der Glaube viel mehr als nur reine Lebenshilfe zur Kompensation von Angst, und ich möchte ihn auf keinen Fall darauf reduzieren. Worum es mir geht: Wir finden in diesem philosophischen Ansatz eine...
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