Schweitzer Fachinformationen
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Deine Mutter ist kaputt, aber du bist es nicht, du trägst dieselben Verbände, Schicht über Schicht. Aber irgendwo darunter bist du längst schon verheilt, du hast viel zu lang ihre Wunden geteilt.
Wir sind Helden, Kaputt
Dies ist ein Buch über Trauma und die Folgen davon. Es ist ein Buch über MEIN Trauma. Beinahe wäre es nicht zustande gekommen, denn ungefähr zehn Tage, bevor ich die erste Fassung fertig hatte, um sie meiner Lektorin zu überreichen, entschied etwas in mir, dass einer von uns beiden - ich oder das Buch - noch nicht bereit war. In einem Zustand kompletter Unbewusstheit oder geistiger Umnachtung löschte ich das gesamte Skript von meiner Festplatte - und zwar unwiederbringlich. Keine halben Sachen, Baby. Ich zog es scheinbar erst unbemerkt in den Papierkorb, den ich einen Tag später leerte, um auch wirklich ganz sicherzugehen. Leider kann ich mich nicht erinnern, wann oder wie das geschah, ich weiß nur, dass der Ordner einschließlich der sieben Teile und circa 220 Seiten an einem Montagmorgen im Mai 2023 nicht mehr auf meinem Schreibtisch lag. Den Rest kann ich nur erahnen.
Das Loch, in das ich stürzte, als ich realisierte, was ich getan hatte, war bodenlos, brutal und sehr finster. An diesem Morgen, um kurz vor sechs, glitt ich lautlos in die Rolle meines vierjährigen Ichs und fürchtete, in einem Strudel tiefer, echter Verzweiflung zu ertrinken. Solche dysregulierten Zustände kannte ich nur von früher, ich hatte vergessen, wie unangenehm sie sind.
Ich weinte, schrie und schluchzte und konnte es nicht fassen. Ich hatte mein Buch gelöscht, mein erstes eigenes Buch, an dem ich fast zehn Monate gearbeitet hatte. Nicht einmal zwölf Stunden zuvor hatte mein Verleger mir den Link geschickt, unter dem man es bereits vorbestellen konnte, begleitet von einem Feuerwerk an glücklichen Emoji. Jetzt gab es kein Buch mehr, das man vorbestellen konnte. Ich hatte nichts, nur die Meldung »Dieses Dokument kann nicht mehr geöffnet werden, weil es entweder beschädigt oder gelöscht wurde«.
In den nächsten drei Tagen, während ich alle technischen Hebel in Bewegung setzte, um doch noch irgendwie zu retten, was nicht zu retten war, durchlief ich im Minutentakt die fünf Phasen der Trauer nach Kübler-Ross, manchmal gleichzeitig. Auf einen Moment abgrundtiefer Traurigkeit folgte die komplette Verleugnung dessen, was geschehen war. Zehn Sekunden später ruhte ich in zenartiger Akzeptanz und verkündete voller Zuversicht, dass alles immer für etwas gut ist, um im nächsten Augenblick wiederum bitterlich in Tränen auszubrechen. Es war interessant.
Was soll ich sagen? Shit happens. Auch wenn es sich über 48 Stunden nicht immer so anfühlte, habe ich auch das überlebt und dieses Buch trotzdem geschrieben. Oder erst recht.
Welche innere Instanz auch immer mit Händen und Füßen versucht hatte, es zu verhindern, sie scheiterte - und ich gewann und folgte endlich dem Ruf, der über dreißig Jahre in meinem Kopf herumgegeistert war. Immer wieder hatte er an meine Tür geklopft, hatte zaghaft nachgefragt und mich aufgefordert, zumindest mal darüber nachzudenken: Schreib deine Geschichte auf! Meine Geschichte aufschreiben. Aha. Klang deutlich leichter gesagt als getan. Wie? Wozu? Und vor allem für wen? Was darf ich erzählen, worüber muss ich Stillschweigen bewahren, was gehört weiterhin schön unter den Teppich und muss für immer im Kreise der Familie bleiben? Darüber spricht man nicht.
Fragen, die mich nachts wach hielten und auf die es am Ende lange immer nur die eine Antwort gab: Das geht auf keinen Fall. Trotzdem fing ich immer wieder an, fand sogar ganz ordentlich, was ich zu Papier brachte, und legte das Skript trotzdem zurück in die Schublade. Ist doch Quatsch, sagte der Kopf, was soll denn der Unsinn? Du hast Wichtigeres zu tun.
Das Projekt geriet immer wieder in Vergessenheit und ich widmete mich lieber den Dingen, die mir vertraut waren. Ich blieb im sicheren Hafen. Der Kopf war zufrieden, das Herz geduldig. So ging es über Jahre.
Vielleicht habe ich meinen Wunsch über all die Zeit unbewusst ins Feld geschickt, wer weiß? Es heißt ja, man solle achtsam sein, was man sich so wünscht. Anfang 2022 flatterte aus heiterem Himmel eine Mail in mein Postfach. Da stand es, schwarz auf weiß, in Helvetica, Schriftgröße 12: »Hallo Frau Kleff! Möchten Sie für uns ein Buch über Trauma schreiben?« Ach du Scheiße, dachte ich. Und dann: Ich flipp aus! Doch diese Freude währte nicht lange, denn mein Verstand schaltete sich sofort ein, um entschlossen und empört auf ihr herumzutrampeln.
Du kannst doch kein Buch schreiben! Das darfst du nicht, so etwas macht man nicht, das ist viel zu persönlich! Das könnte ja am Ende jemand lesen! Was werden die Menschen von früher sagen? Dein Bruder? Deine Mutter? Und außerdem: Wen zur Hölle interessiert schon deine Geschichte und was du zu sagen hast?
In meinem Kopf herrschte Krieg und ich war komplett überfordert. Wochenlang führte ich Diskussionen mit mir, druckste herum, antwortete nicht, kaute das Thema immer wieder durch und fand tausend Gründe, warum es gerade schlecht ist. Schließlich sagte ich ab und verspürte große Erleichterung.
Ich wuchs und reifte - und nur ein halbes Jahr später kam die nächste Anfrage. Ich wusste schon beim Öffnen der Mail, dass diesmal etwas anders war. Ich war so weit. Ich war bereit, all das, was ich auf meiner langen, verrückten und anstrengenden Reise durchgestanden, ausgehalten, erfahren und erlebt hatte, in die Welt zu schicken und zu teilen. Ein letztes Mal ließ ich alle inneren Bedenkenträger zu Wort kommen, bedankte mich freundlich für ihre warnenden und mahnenden Worte und ließ mein erwachsenes Ich die Entscheidung treffen. Und hier sind wir nun. Du und ich.
Dieses Buch ist für all die Traumakinder, deren Mütter und Väter bereits Traumakinder waren und die keine Möglichkeiten hatten, die eigenen Wunden zu versorgen, die ihnen wiederum von ihren Müttern und Vätern beigebracht wurden, die ebenfalls Traumakinder waren. Ich schreibe es für all die Menschen, die mir in den letzten Jahren geschrieben und mir von sich erzählt haben. Mit denen ich arbeiten und die ich begleiten durfte. Die mir ihre Verletzungen zeigten und sich mir anvertrauten. Die älteste Dame kam aus Österreich und war 82 Jahre alt. Sie habe nicht mehr viel Zeit, schrieb sie, aber das sei okay. Sie sei glücklich darüber, dass ihr kurz vor ihrem Lebensende noch so vieles klar werden würde. Und wie wunderbar es sei, dass ihre Enkelin anders und vor allem früher mit diesen Themen umzugehen wisse, als es ihre Generation je gekonnt hatte.
Ich fühlte und fühle mich jedem von euch auf eine Art nah, weil ich fest davon überzeugt bin, dass Trauma sich erkennt. Dazu müssen wir uns nicht einmal persönlich begegnen, wir sehen die Verletzungen des anderen, jedoch nicht mit unseren Augen. Wir sehen sie mit unserem Herzen - und erkennen uns im anderen.
Hier sind wir nun - du und ich -, verbunden durch diese Zeilen und die Wunden, die wir erlitten haben, obwohl es nicht unsere Schuld war. Bereit, sie zu fühlen, sie anzuerkennen, die dicken, schmutzigen Verbände der letzten Jahrzehnte vorsichtig und behutsam Schicht für Schicht abzunehmen, sie zu versorgen, ans Licht zu befördern und sie schließlich dort zu heilen. Bereit, zu lernen, mit den Narben zu leben und sie liebevoll zu betrachten, wenn etwas im Außen sie berührt. Denn Narben bleiben, so viel ist sicher. Sie bleiben ein Teil unserer Biografie, die wir vielleicht nicht komplett neu schreiben, aber auf deren Verlauf und Ende wir doch zumindest Einfluss nehmen können.
Ich nehme dich ein Stück mit auf meine Reise, die gleichermaßen anstrengend, magisch, unvorhersehbar, schmerzhaft und großartig war und ist. Eben wie der Zyklus der kleinen Raupe, die sich unter größten Strapazen immer wieder verpuppen und freikämpfen muss, bis sie schließlich eines schönen Tages als Schmetterling aus ihrem Kokon schlüpft, der seine leuchtenden Flügel ausbreitet und dem Leben entgegenfliegt. Ich teile meine Erfahrungen mit dir, um dir zu zeigen, dass du nicht mutterseelenallein bist, auch dann nicht, wenn du dich so fühlst. Du bist es nicht. Du hast dich vielleicht noch nicht gefunden und verstanden. Aber alles in uns ergibt einen Sinn, wenn du nur begreifst, wozu.
Ich hatte große Angst vor diesem Buch und vor meiner eigenen Sichtbarkeit. Angst, aus der Deckung zu kommen und laut zu sagen: Das bin ich, mit allem, was war, aber vor allem mit dem, was da noch ist und noch entstehen kann. Die ersten Schritte waren mehr ein Stolpern als ein flüssiges Schreiben, aber je mehr ich mich auf die neue Erfahrung einlassen konnte, umso leichter wurde es. Irgendwann landeten die Worte ganz selbstverständlich auf dem...
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