Schweitzer Fachinformationen
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Melanie Büttner ist Sexual- und Psychotherapeutin, Ärztin und Wissenschaftlerin. Sie hilft Menschen, sich selbst näherzukommen und Beziehung und Sexualität lebenswerter zu gestalten. Im Interview hat sie mir erklärt, warum es Frauen noch immer schwerfällt, »Nein« zu sagen, und wie wir lernen können, beim Sex zu kommunizieren.
»Nein heißt Nein« heißt es seit 2016 in unserem Sexualstrafrecht. Geht Frauen das Wort »Nein« seitdem leichter über die Lippen?
Büttner: Ich kenne aus der Praxis viele Frauen, die mir schildern, dass sie in einer bestimmten Situation nicht in der Lage waren, »Nein« zu sagen, weil sie nicht wussten: Darf ich das? Wie mache ich das? Oder weil es einfach so unheimlich schnell ging und sie plötzlich gemerkt haben: Mir steckt das Nein in der Kehle, aber ich bin wie erstarrt. Eine Studie von der BBC hat ergeben, dass mehr als zwei Drittel der britischen Frauen unter 40 Jahren beim einvernehmlichen Sex zum Beispiel schon mal bespuckt, gewürgt, geknebelt oder geschlagen worden waren. Die meisten von ihnen wollten das tatsächlich gar nicht.
Warum fällt es Frauen schwer, beim einvernehmlichen Sex »Nein« zu sagen?
Büttner: Dabei spielt unsere patriarchale Prägung eine wichtige Rolle. Viele Frauen haben eine Dienstleistungskultur erlernt, die lautet, dass die Frau den Mann sexuell zu versorgen hat. Früher gab es die eheliche Pflicht, die 1966 noch in einem Urteil des Bundesgerichtshofs festgeschrieben wurde. Darin hieß es, eine Frau sei zum ehelichen Verkehr angehalten, da ihr Partner seine »natürliche und legitime Befriedigung« darin suche. Wenn sich zeigte, dass eine Frau sexuell nicht so verfügbar war, wie ihr Mann sich das wünschte, galt sie als schuldig am Scheitern der Ehe und bekam im Scheidungsfall keinen Unterhalt. Frauen waren damals finanziell von ihren Männern abhängig, sollten sich um Kinder und Haushalt kümmern und durften bis in die 70er-Jahre hinein ohne Erlaubnis des Mannes gar nicht arbeiten. Das Schuldprinzip wurde zwar abgeschafft, aber es gibt noch immer viele Frauen, die den Eindruck haben, dass es ihre Aufgabe sei, einen Mann sexuell zufriedenzustellen. Umgekehrt denken viele Männer bis heute, ihnen stünde es zu, in ihrer Beziehung Sex zu bekommen.
Unsere patriarchale Prägung verstehen wir Frauen ja so langsam - warum klappt die Loslösung in der Horizontalen oft trotzdem nicht?
Büttner: Es sind tiefgehende Einflüsse, die es uns so schwer machen. Viele Frauen vollbringen eine wahnsinnige Anpassungsleistung. Egal, was im Bett läuft - sie bleiben nett. Wenn es sich nicht gut anfühlt, denken sie schnell, dass mit ihnen etwas nicht stimmt - denn angeblich ist Sex ja »die schönste Nebensache der Welt«. Da muss es ja an ihnen liegen, wenn sie das anders empfinden. Außerdem haben alle schon mal Geschichten gehört von Beziehungen, die auseinanderbrechen, weil sie ihm nicht genug Sex gegeben hat. Und dann gibt es den Mainstream-Porno, der das Narrativ vom ungezügelten Trieb des Mannes immer aufs Neue repliziert. Frauen sind in vielen dieser Filme in einer devoten Position - sie wollen, was er will. Heute schauen Jungs Pornos meist spätestens ab der mittleren Jugend, später fühlen sie sich nicht selten berechtigt, genau diese Art von Sex von einer Frau zu kriegen. Aber auch viele Frauen denken, sie müssten das für einen Mann leisten können.
Wenn man beim Sex plötzlich »Nein« sagt, kann das ein Stimmungskiller sein - was tut man dagegen?
Büttner: Wenn ich jemanden abrupt abwehre oder ihm im Vorwurf mitteile: »Was du machst, ist blöd«, ist das Risiko tatsächlich hoch, dass die Stimmung kaputtgeht. Aber ich kann ja auch sagen, was ich nicht mag, ohne die Person zu kränken oder ihr das Gefühl zu geben, dass sie unzulänglich und inkompetent ist. Zum Beispiel, indem ich bei mir bleibe und erkläre: ». ist nicht so meine Sache. Aber wenn du . machen könntest, wäre das fantastisch.« Oder indem ich frage: »Darf ich dir zeigen, was sich für mich so richtig gut anfühlt?« Ich kann der anderen Person ja auch etwas über mich verraten und ihr zeigen, wo meine Sweet Spots sind und wie ich gern berührt werden möchte. Ich kann auch mit ihr zusammen experimentieren und sagen: »Ich würde so gern mal . ausprobieren, hast du da auch Lust drauf?«
So hilft Sprache nicht nur dabei, dass beide sich jederzeit wohlfühlen, sie wird sogar zum erotischen Spielzeug. Und damit meine ich keinen Dirty Talk. Darin steckt schon wieder so eine Abwertung von Sex, die viele abschreckt. Mit den richtigen Worten wird das Ganze zu einer sinnlichen und lustvollen Erfahrung.
Wie schaffen die Frauen es im Ernstfall, ihr Nein zu erkennen und auch auszusprechen?
Büttner: Das ist ein Prozess. Ein Nein spüren und aussprechen zu können, wenn ich merke, dass mir etwas nicht guttut oder nicht gefällt, ist zentral für guten Sex. Wenn eine Frau an dem Punkt ist, dass sie das kann, dann ist das kompetent. Denn sie eröffnet sich damit die Möglichkeit, den Sex so zu gestalten, dass er ihr mehr Freude macht. Manchmal merken Frauen allerdings, dass sie gar nicht wissen, was sie sich stattdessen wünschen sollen. Vor allem jene Frauen kennen das, die ihre Aufmerksamkeit bis dahin stark auf die sexuellen Bedürfnisse ihrer Partner ausgerichtet haben. Einige von ihnen haben sich noch nie die Frage gestellt, was ihre ganz eigene Vision von Nähe, Intimität, Erotik oder Sex sein könnte. Manchmal braucht es erst eine intensivere Beschäftigung mit sich selbst, um das für sich zu entwickeln.
Andere Frauen haben bereits eine solche Vision, merken aber, dass ihr Partner nicht aufgeschlossen dafür ist. »Muss ich da mitmachen? Ich finde unseren Sex gut, so wie er ist.« Oder: »Sex ohne Eindringen - wie meinst du das? Das ist doch kein richtiger Sex.« Wenn Widerstand kommt, steht man als Frau vor einer Entscheidung: Nehme ich mich und mein Bedürfnis ernst und räume mir diesen Platz in der Beziehung ein? Stelle ich mich dem Konflikt, dass wir in diesem intimen Bereich Verschiedenes wollen? Oft löst das Ängste aus: Nimmt die Beziehung vielleicht Schaden? Und dann kommt schnell ein Reflex von »Ach, so schlimm ist es ja eigentlich auch nicht . Mach ich halt weiter so«.
Was sind die Folgen so einer Entscheidung?
Büttner: Sich weiter anzupassen bedeutet, dass der Sex einem emotional nicht viel gibt. Oder, dass man dabei Unangenehmes aushält. Einige Frauen schalten einfach ab. Dann arbeiten sie halt die To-do-Liste im Kopf ab, während der Autopilot den Körper steuert und mithilft, dass der Partner seinen Orgasmus hat. Viele Frauen verlieren darüber die Lust. Kein Wunder, denn damit Lust entstehen kann, muss das erotische Angebot stimmen. Männer, die das nicht verstehen und weiter auf ihrer Vorstellung von Sex beharren, tragen damit zur Lustlosigkeit ihrer Partnerin bei und sorgen dafür, dass im Bett wenig echte Verbindung entstehen kann. Bei einigen Frauen macht es außerdem auch etwas mit dem Körper, wenn sie Sex über sich ergehen lassen, den sie nicht wirklich wollen. Einige reagieren zum Beispiel mit Schmerzen und Verkrampfungen im Genital, andere mit Ekel. Hinter alldem steckt oft ein nicht geäußertes »Nein«.
Welche Rolle spielt die Angst vor dem, was passiert, wenn man beim Sex sagt: Wir beenden das lieber an dieser Stelle .
Büttner: Oft haben Frauen Angst, ihr Gegenüber zu enttäuschen, abgelehnt oder sogar verlassen zu werden. Andere haben Angst vor Beschämung und Abwertung, etwa weil ihr Gegenüber denken könnte, dass sie komisch, verklemmt oder frigide seien. Angst vor »dicker Luft«, einer ruppigen Reaktion oder gar Aggression kann ebenfalls eine Rolle spielen. Leider ist es noch immer eine bittere Realität, dass viele Frauen Übergriffe und Gewalt erfahren haben - entweder als Erwachsene, als Jugendliche oder schon als Kind. Meist standen die Täter den Frauen nah, weil es der eigene Partner war zum Beispiel oder der Onkel, der Trainer im Sportverein. Frauen, die so etwas erleben mussten, fällt es oft besonders schwer, ein Nein zu äußern. Eine posttraumatische Angst- und Schutzreaktion macht sie handlungsunfähig. Gerade bei den ersten Verabredungen oder auch beim Onlinedating kann übrigens viel schiefgehen, weil man noch nicht einschätzen kann, wie die andere Person reagieren wird. Abgesehen davon sind die Annäherungsprozesse in unserer Gesellschaft von einer Verführungskultur geprägt, die meinem Verständnis nach ein Ausläufer der Vergewaltigungskultur ist, die uns zum Teil bis heute prägt.
Was meinen Sie mit Vergewaltigungskultur?
Büttner: Wenn Vergewaltigung und sexuelle Belästigung in einer Gesellschaft als »normal« betrachtet oder als Kavaliersdelikt verharmlost werden, lässt sich von einer sogenannten rape culture sprechen. Dabei wird Opfern oft eine Mitschuld an dem Übergriff gegeben, während das Verhalten der Täterperson bagatellisiert oder entschuldigt wird. Kulturhistorisch wurden Übergriffe und Zudringlichkeiten von Männern in unserer Gesellschaft bis weit ins 20. Jahrhundert als völlig normal und legitim betrachtet. Erst seit 1997 ist Vergewaltigung in der Ehe strafbar, seit 2016 Handlungen, die sich über den »erkennbaren Willen« des Opfers hinwegsetzen. Oft hängt das Denken in der Gesellschaft solchen rechtlichen Zäsuren Jahrzehnte...
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