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Moghanni Nameh - Buch des Sängers
Buch des Sängers
Dass wir solche Dinge lehren
Möge man uns nicht bestrafen:
Wie das alles zu erklären
Dürft ihr euer Tiefstes fragen.
Goethe
Allerliebste Marianne, erwache!
Ei! Wach' uff und guck!
Die Welt ist aus den Fugen! Blutrot geht die Sonne im Abend auf. Der Orient zersplittert. Gog und Magog, die Bastarde unserer Berührung, hausen in unserer alten Karawanserei, wüten in der geliebten Stadt. Sie schießen Pfeile gen Himmel, die blutbefleckt wieder zur Erde fallen. Sie zertrümmern den Sarkophag des Ahiram von Byblos, und mit jedem Hieb geht uns ein Wort verloren. Die phönizische Prinzessin, unsere Urahnin, klammert sich verzweifelt an die Hörner des Stiers, aber der versinkt im winterlichen Meer, und ihr Bruder, ausgeschickt, sie zu suchen, sitzt in Abschiebehaft, und so haben wir denn keine Heimat mehr? Die Nachtigall schweigt im Zerplatzen der Bomben, im gelben Nebel welken Rose und Jasmin dahin. Hudhud hüpft an den Zäunen und Stacheldrahtrollen entlang und kann seine Liebesbotschaft nicht mehr überbringen. Daddschal, der Lügner und Täuscher, der Missgebildete mit dem blinden Auge, schwindelt die Hölle zum Paradies um und das Paradies zur Hölle, und unsere Brüder und Schwestern folgen ihm, dem Messias der Abwege, und besorgen sein schmutziges Geschäft, gleich ob er sich Schellenberg oder Kalif nennt. Die Wasserräder der Gerbermühle von Hama jammerten, kreischten und polterten schon in den Ohren Trajans und Mohammeds und Saladins, aber heute mahlt nur noch der tote Gang, und der Gevatter kommt bei Neumond das Mehl holen. Der Schrecken ist ein Engel auf dem Potsdamer Platz, die Piraten der Zukunft setzen zum Entern an.
Und wohin lenke ich in all diesem Wirrsal deinen erwachenden Blick?
Auf die Frau, die hier gegenüber von uns am Tisch sitzt und mit geschlossenen Augen der Musik lauscht. Warum auf sie? Wegen dieses Ausdrucks völliger Hingabe auf ihrem Gesicht. Lass uns ganz leise ein wenig näher treten, die anderen rund um den Tisch bemerken uns gar nicht in ihrer versunkenen Konzentration. Komm in den Kreis hinein, den die lebendige Musik um uns alle schlägt, hinein in die Fruchtblase, die sich um jede Gruppe von Menschen bildet, die gemeinsam musizieren.
Wir könnten, wären wir selbst taub, auf diesem Gesicht die Klänge und Worte lesen. Wie anmutig die Mondsicheln der Brauen mithorchen! Und wie zart und verletzlich die geschlossenen Lider sind, aber durchflossen von Leben wie Magnolienblüten. Und wie anrührend die Falten und dunklen Vertiefungen unter den Augen und die tief eingeprägten Krähenfüße. Wenn sie lacht, kräuselt sich der Nasenrücken so liebenswert, du wirst es gewiss gleich noch sehen. Nein, es ist nicht das Gesicht eines Mädchens oder einer jungen Frau, ihre schwarzen Locken sind am Schläfenansatz ergraut, ob sie sich wohl das Haar färbt, was meinst du? Schau, die Lippen sind nicht fest geschlossen, sie bewegen sich kaum merklich, als murmelten, als flüsterten sie den Text mit, den sie auswendig zu kennen scheint. Es sind rote und volle Lippen, trocken und fein gemasert. Lass uns einen Schritt zurücktreten, nicht dass unser Atem sie aufstört.
So ganz bei sich, durchdrungen von Melodie und Rhythmus und Worten, aber nicht in sich verschlossen, ihr Gesicht, ihr Körper sind dem Augenblick geöffnet wie eine Blume der Sonne. Was meinst du, kann man sagen, sie liefert sich dieser Sekunde aus, und die ist Klang? Sie schwimmt im Fluss des Liedes mit wie ein Fisch, der sich von der Strömung treiben lässt?
Innig konzentriert, als lausche sie auf ein Echo der Vergangenheit im Gegenwärtigen. Was sagst du? Sie sieht aus, diese lauschende Frau mit den geschlossenen Augen, als durchlebe sie die Sekunde vor oder die nach dem Glück.
Ihre geöffneten Handflächen ruhen auf dem Schoß, die türkise Bluse lässt das Haar leuchten und den schwarzen Spitzenbesatz des BHs flimmern, der unter den beiden geöffneten obersten Knöpfen zu sehen ist. Der lange schwarze Rock fällt seitlich über den Stuhl. Gesammelt sitzt sie da von den Fingerkuppen bis in die Zehenspitzen, die im Takt des Liedes mitwippen. Sogar durch die geblähten Nasenflügel scheint die Musik einzuströmen, sie füllt sich mit ihr und entlässt sie wieder aus sich im synkopierten Rhythmus des Blues.
Das Bild dieser Berührten zu enträtseln, liebe Freundin, deswegen sind wir hier. Ich gestehe dir, ich hab' dich in ihr wiedererkannt, du wirst verstehen warum, wenn du sie erst selbst singen hörst. Und ganz ungeachtet solcher Nebensächlichkeiten wie Familienstand, Alter, Haarfarbe oder ihrer aparten persischen Schafsnase.
Sie heißt übrigens Maryam.
Du fragst dich: Wo sind wir hier? Nun, an einem Ort, wo nicht nur gesungen wird, sondern auch vernünftig gesprochen. Der Abend ist angebrochen, ein warmer Sommerabend, dessen schwere gelbe Düfte ab und zu ein Windhauch durchs offene Fenster weht. Aber bevor wir uns umsehen und orientieren, überquert unser Blick die feingesponnene, schwingende Brücke vom Ohr der Zuhörenden zum Mund des Sängers. Wer ist er, der die Musik macht, die die Anwesenden in Bann schlägt, die um den Tisch sitzen und lauschen? Selbst Mimi, die schwarzweiße Katze auf der Fensterbank, hört zu, genau wie Kitmir, der dreibeinige Hund aus dem Tierheim, der unterm Tisch liegt. Sogar die letzten abendlichen Amseln draußen in den Baumkronen haben respektvoll den eigenen Gesang eingestellt.
Auch die Augen des Sängers sind geschlossen. Sein Kopf ist über die Gitarre geneigt, im Kerzenschein schimmert seine Glatze, die von einem Saum grauer Haarbinsen umwuchert ist, wie ein mondbeschienener See. Die Brille ist auf der fleischigen Nase ein Stückchen hinabgerutscht. Er trägt über einem weißen T-Shirt ein lachsfarbenes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, dessen Knopfleiste über dem Bauch ein wenig spannt.
Findest du nicht? Man hat hier, wie beim Anblick aller Menschen, die ganz durchdrungen von ihrer Tätigkeit, konzentriert einem komplizierten Handwerk nachgehen, das Bedürfnis, seine Versunkenheit zu beschützen wie die Unversehrtheit eines Säuglings.
Die Hände auf den Saiten sind zwei muskulöse Spinnen, die einen Balztanz vollführen. Die linke streckt und dehnt die Beine, kommt ihrem Partner entgegengelaufen und gesprungen, zuckt dann wieder zurück, dehnt sich, zieht sich zusammen. Die rechte bleibt in sich gekehrt auf gleicher Höhe und pflückt die Töne wie Kirschen.
D-Moll, B-Dur, zwei Bünde tiefer nach C und wieder zurück nach D. Dreimal hintereinander dasselbe wohlbekannte Riff. Dann beginnt er zu singen, Hermann ist sein Name, mit einem leisen, aber sicheren Bariton. Seine Augen sind noch immer geschlossen. Er scheint tief in sich hineinzublicken oder zu horchen, wie in einen Brunnenschacht, aus dem die Wörter gefördert und geschöpft werden müssen:
»What will you do when you get lonely and nobody's waiting by your side? You've been running and hiding much too long. You know, it's just your foolish pride.«
Und dann der Refrain, und drei Stimmen fallen in die Harmonie ein, die Maryams, deren Mund sich dabei zu einem Lächeln weitet, die eines jungen Mannes von Anfang zwanzig mit schwarzem Haar, und die des neben ihm sitzenden, an ihn gelehnten dunkelblonden Mädchens mit den langen, gefilzten Dreadlocks: »Layla!«
Vier Stimmen, der Bariton Hermanns, der Celloton Maryams ganz dicht darüber, auf den sich der Tenor des Jungen und heller, aber nicht höher, die Stimme des Mädchens schichten wie Schmirgelpapiere, die sich aneinander reiben und Fünkchen schlagen der Spannung, die den Zuhörern eine Gänsehaut den Nacken hinaufjagt:
»Layla! You got me on my knees, Layla. I'm begging darlin' please, Layla. Darling, won't you ease my worried mind?«
Nur hört es sich so nicht an.
Denn Hermann, der ohnehin, wenn er an den Wochenenden aus Frankfurt hierheraufkommt, um seinen Freund TK zu besuchen, gerne ins Hääschdener Platt ihrer Kindheit und Jugend verfällt, versucht gar nicht erst, die englische Aussprache korrekt klingen zu lassen.
»Letz meek se best of se sidjuehschn, biefohr ei fainelie goh insehn. Blies dohnd seh, wiel newwer faindeweh ent tell mie ohl mei laffs inwehn!«
Und vor allem singt er dann im Refrain: »Lehla! Ju gatt mie on mei Knies!«
Knies! Mit K!
Aber sieh dich um! Grinst deswegen irgendwer hinter vorgehaltener Hand? Muss einer lachen? Und die drei jungen Leute, die gewiss fließend Englisch sprechen, ziehen sie höhnische Grimassen? Verliert das Lied dadurch irgendetwas von seiner schmerzlichen Besessenheit, angesichts der man einen knieenden Einsiedler in der Wüste vor sich sieht, der, die Hände zum Himmel gehoben, die Steine und den Sternenhimmel anfleht?
Keine Spur. Niemand merkt auf, niemand fällt aus dem sanften Bann. Niemand zuckt mit der Wimper, ganz so als sei es völlig nebensächlich und spiele überhaupt keine Rolle, wie englisch das Englisch nun klingt. Und sag selbst: Findest du irgendein Moment der Lächerlichkeit in dieser Szene?
Nein, das tun wir beide nicht, denn auch wir sind drinnen, auch wir sind in der Fruchtblase des Einvernehmens und der Zuneigung dieses Hauses, wo man frei wird und mutig und über sich hinauswächst, du erinnerst dich? Und dieses Déjà-vu ist der andere Grund, warum ich dich bitte, diese Tage bei mir zu sein.
Etwas lächerlich zu finden und lächerlich zu machen, ist zunächst einmal nichts als der Beweis, draußen...
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