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Jagdschloss Mayerling im Wienerwald, Mittwoch, 30. Jänner 1889, 12.00 Uhr
»Wie furchtbar, mir fehlen die Worte!«, nahm mich Loschek vor dem Ostflügel in Empfang, sah mich an, als stünde der Weltuntergang bevor, und trottete zum Kutschbock, um das Fahrtgeld zu bezahlen. Fast wäre er dabei ins Stolpern geraten, ohne Blick für den überfrorenen Schnee, der wie ein Grabtuch auf dem Hof des Jagdschlosses lastete. Unweit der Tür hatte sich ein Schwarm Raben niedergelassen, leicht vornübergebeugt, wie Bestatter beim Herablassen des Sarges. Unheil lag in der Luft, so peinigend wie die klirrende Kälte, die sich wie Eisnadeln durch den Kaschmir bohrte. »In den besten Jahren, und dann so etwas. Das begreife, wer will.«
Meinen Arztkoffer in der Hand, kletterte ich aus dem Fond und sah mich um. Vom Personal, ansonsten recht zahlreich, keine Spur, auch die Leibjäger wie vom Erdboden verschluckt. Fast schien es, als sei das Schloss mit einem Bannfluch belegt, so öde und verlassen sah es aus.
»Hier, das ist für Sie.« Loschek drückte dem Fiaker einen Dukaten in die Hand. Allemal genug, um sich sein Schweigen zu erkaufen. Letztendlich aber gut angelegtes Geld. Je weniger Mitwisser, desto besser für den Ruf der Monarchie. Und desto mehr Chancen, die Klatschblätter außen vor zu lassen.
Es sei denn, ein Reporter winkte mit den Scheinen.
Und ein Domestike im Schloss packte aus.
Geschähe, was nicht geschehen durfte, dann würde der Kaiser im Kreuzfeuer stehen. Nebst Gattin, von Franz Joseph liebevoll »Sisi« genannt. »Seiner Mutter wird es das Herz brechen, die arme Frau!«
Besser, ich sagte nichts dazu.
Der Mann hatte schon genug am Hals.
Einen Seufzer konnte ich mir dennoch nicht verkneifen. Das waren noch Zeiten, als ganz Wien der Kaiserin zu Füßen lag. Mit heute, jenseits der 50, kaum mehr zu vergleichen. Eher geduldet als geliebt, hatte Sisi ihren Kredit verspielt. Und dann erst die ewigen Kapricen, mit denen sie ihre Trabanten in Aufregung versetzte. Dazu einer meiner Kollegen, weiland Badearzt im bayerischen Brückenau, der den Narziss unter die bewährten Fittiche nahm: »Blutarm, menschenscheu und gemütskrank.«
Ein hartes Urteil, mag sein.
Doch näher an der Wahrheit, als man denkt.
Aber wehe, man sprach dies offen aus. Auch jetzt noch, nach dreieinhalb Jahrzehnten Ehe, ließ der Kaiser nichts auf die Egomanin kommen. Da hielt ich mich doch lieber bedeckt. Dabei wusste ich aus erster Hand, wie ambivalent das Verhältnis zu ihren Kindern war. Und wie sehr der Kronprinz darunter litt. Respektive gelitten hatte. Von einem innigen Miteinander, das sei in aller Deutlichkeit betont, konnte wahrhaftig keine Rede sein. Eine Tatsache, die ihm zeitlebens zu schaffen machte. Und die Rudolf darin bestärkte, einen Schlussstrich zu ziehen.
Wie am heutigen Mittwochmorgen geschehen.
»Willkommen in Mayerling, Herr Doktor. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Fahrt?«
»Sie haben vielleicht gut reden, Loschek«, antwortete ich verstimmt, heilfroh, die Rutschpartie im Zweispänner hinter mir zu haben. Vier Stunden über Stock und Stein, in halsbrecherischem Tempo, bei Schnee, Glatteis und Temperaturen wie im Gefrierkeller.
Mit fast 57 Jahren auf dem Buckel.
Das musste ich erst mal verdauen.
Steif vor Kälte, trat ich wie ein Derwisch auf der Stelle. Noch nie war mir eine Fahrt so endlos vorgekommen, und noch nie war ich so aufgewühlt gewesen wie heute. Ein denkwürdiger Tag, das konnte man jetzt schon sagen. Vergleichbar mit einem Erdbeben, das die Monarchie in den Grundfesten erschüttern würde.
So sie den Skandal, der sich gerade anbahnte, überstand.
Der Kronprinz leblos aufgefunden, viel schlimmer hätte es nicht mehr kommen können.
Trotz Mantel mit Pelzbesatz am Erfrieren, seufzte ich bekümmert auf. Wäre ich dazu imstande gewesen, ich hätte den Tag aus dem Kalender getilgt. Mit einem Federstrich, ohne darüber nachzudenken. »Schwamm drüber, für die Kälte können Sie ja nichts.«
»Sie sagen es, Herr Doktor«, pflichtete mir Loschek bei, wartete ab, bis sich der Zweispänner außer Hörweite befand, und lamentierte: »Aber es stimmt schon: Eine Fahrt im Winter ist nicht so ohne, der Fiaker kann einem leidtun.«
»Wobei ich nicht weiß, was schlimmer war - das Wetter oder die Schaulustigen«, gab ich mit Blick auf meine Taschenuhr zurück, deren Zeiger exakt auf 12 Uhr deuteten. »Und wenn wir gerade dabei sind, Loschek: Ich weiß über alles Bescheid.«
»Wie das?«
»Prinz Coburg ist mir ein Stück entgegengefahren. Um mich auf den neuesten Stand zu bringen. Die vielen Reporter, Sie wissen schon.« Seinem Naturell entsprechend hatte Prinz Philipp von Sachsen-Coburg und Gotha, Schwager und Jagdgefährte des Kronprinzen, bei der Schilderung der Tragödie kein Blatt vor den Mund genommen. Und hatte mich darum gebeten, Stillschweigen zu bewahren. Für mich ginge es nur darum, mir ein Bild von der Lage zu machen. Aus Sicht des Experten, wenn man so wolle. Auf meine Frage, warum die Polizei nicht schon längst in Aktion getreten sei, hatte der Prinz denn auch prompt eine Antwort parat. Der Kreis der Eingeweihten, so der Intimus des Toten, müsse so klein wie nur irgend möglich bleiben. Denn nur so könne man einen Skandal vermeiden. Davon abgesehen sei das Gelände in Privatbesitz, will heißen: Auf den Schlössern, die zum Eigentum der Krone zählten, stünde es der Polizei nicht zu, ihre Befugnisse wahrzunehmen. Es sei denn, man bitte sie darum. Was aus Gründen der Staaträson zu unterbleiben habe.
Zitat Ende.
Der Kronprinz tot, natürliches Dahinscheiden ausgeschlossen. Vor ein paar Stunden, als ich das Telegramm aus Mayerling in Händen hielt, hatte sich das alles ganz anders angehört. Seine Hoheit sei schwer erkrankt, stand da zu lesen, verbunden mit der Bitte, mich nach Mayerling zu begeben. Und zwar unverzüglich, der Zustand des Patienten sei ernst. Dass Rudolf zu dem Zeitpunkt schon tot war, konnte ich freilich nicht ahnen. Geheimhaltung geht vor, so lautete offenbar die Devise, selbst auf die Gefahr, als Lügner dazustehen.
Ob es gelänge, die Pressemeute aus Wien hinters Licht zu führen, daran hegte ich meine Zweifel. Wurde das Schloss doch förmlich belagert, den Sturmböen zum Trotz, die wie eine Sense über die Häupter der Schaulustigen fegten. Schlechte Kunde verbreitet sich bekanntlich schnell, kaum verwunderlich, dass es vor Gaffern nur so wimmelte. Darunter auch Dutzende von Reportern, die das Tor wie ein Heuschreckenschwarm umlagerten. Fast so vielköpfig wie das Heer von Polizisten, allen voran die Agenten aus dem Präsidium, als Zivilisten getarnt, wie könnte es anders sein.
Kaum verwunderlich, dass die Gerüchte nur so ins Kraut schossen. Da behaupteten die einen, der Kronprinz sei einem Komplott zum Opfer gefallen, die andern, offenbar in der Mehrheit, ein gehörnter Gatte sei gewaltsam bei ihm eingedrungen, habe Rudolf in flagranti mit seiner Frau ertappt, zur Pistole gegriffen und den Homme à Femmes aus dem Weg geräumt. Ein Blutbad so recht nach jedermanns Geschmack, wie die erregt geführten Debatten bewiesen.
Armes Österreich-Ungarn, mehr fiel mir dazu nicht ein.
»Wenn Sie jetzt bitte mitkommen wollen«, lud mich Loschek mit belegter Stimme ein, ihm ins schwach erleuchtete Parterre zu folgen, auf dem Weg zum Entreezimmer des Kronprinzen, dessen Fensterläden von innen verriegelt worden waren. »Bitte hier entlang, Doktor Widerhofer, es ist alles noch so, wie wir es vorgefunden haben.«
»Und die Tür da, wer hat sich daran zu schaffen gemacht?«, richtete ich das Wort an den schwermütigen Begleiter, wie kaum ein anderer mit dem Privatleben Rudolfs vertraut. »Sieht mir nach einem Einbruch aus, oder was meinen Sie dazu?«
Johann Loschek, langjähriger Intimus des Kronprinzen, Anfang 40, stattlich und absolut loyal, schüttelte das bärtige Haupt. »Das war ich«, bekannte er geknickt, fuhr mit dem Handrücken über die Augen und hatte Mühe, die Contenance zu bewahren. »Mit einem Hammer.«
»Sonst noch was?«
»Nicht, dass ich wüsste«, zögerte das Faktotum die Replik hinaus, sah sich um, als befände sich ein unsichtbarer Lauscher im Raum, und strich eine angefeuchtete Haarsträhne hinters Ohr. »Seinen Jagdgefährten zu verlieren, für den Prinzen war das ein großer Schock. Wie es aussieht, wird er ihn so schnell nicht verwinden.«
»Wer außer Ihnen beiden war noch vor Ort?«
»Graf Josef Hoyos, ein langjähriger Freund des Hauses«, tat sich Loschek auch jetzt mit seiner Antwort schwer, darauf bedacht, die Worte sorgsam zu wählen. »Gestern Abend hat er mit dem Kronprinzen zu Tisch gesessen - und die Nacht im Mayerlinger Hof verbracht.«
»Und weiter?«
»Also, das war so: Da Prinz Philipp nicht imstande war, dem Kaiser die Nachricht vom Sui.« Zutiefst erschrocken, brach Loschek überhastet ab, lockerte den Livree-Kragen und raunte mir von links ins Ohr: »Da der Prinz mit den Nerven am Ende war, fiel Graf Hoyos die schwere Aufgabe zu, den kaiserlichen Hoheiten Bericht zu erstatten. Unter uns, Herr Doktor: Wer reißt sich denn schon darum, den Kaiser über das Dahinscheiden seines Sohnes zu informieren, in seiner Haut hätte ich wirklich nicht stecken wollen.«
»Wann genau ist Hoyos nach Wien aufgebrochen?«
»Vor dreieinhalb Stunden. Wie ich ihn kenne, hat er sich keine Pause gegönnt.«
»Daraus folgt, der Kaiser dürfte im Bilde sein«, erwiderte ich matt und ließ den Blick durch das rustikale...
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