Die Sauerei
Sam Bosten neigte sich sehr behutsam nach vorn, um Senden tief in die Augen zu schauen. "Du musst mir jetzt vertrauen, mein Junge. Es wird nicht wehtun. Du darfst dich aber nicht bewegen, egal, was gleich passiert. Hast du das verstanden, mein Junge?"
Verwirrt schaute Senden sein Gegenüber mit weit aufgerissenen Augen an.
"Sir, was haben Sie vor?", fragte er verunsichert.
"Du wirst nichts spüren, jedes Leid wird von dir genommen. Halte still, damit ich beginnen kann", entgegnete Sam in einem warmen und leisen Ton.
Sam Bosten streifte sich den wärmenden Handschuh von der rechten Hand ab.
Rasch befahl er Senden, die Knöpfe seiner Uniform samt Hemd zu öffnen, was dieser zögerlich tat. Sams Hand legte sich auf die nun nackte Brust Sendens. Von Sendens Brust aus übertrug sich ein pulsierendes Kribbeln in Sam Bostens Arm.
Sam schloss die Augen und spürte, wie die Gefühle und Erinnerungen des Polizisten sich auf ihn übertrugen. Sie verwandelten sich in Sams Kopf zu Bildern, die er nun abspeicherte und vor seinem inneren Auge betrachtete. Er war nun in der Lage, zu erfahren, was Senden gesehen hatte. In den Erinnerungen lief Senden die Treppe zum Keller hinab und übersprang dabei die letzten beiden Stufen. Die schwere Metalltür vor ihm war im Türrahmen verkeilt, was Senden dazu bewegte, sich langsam und mit gezogener Waffe an ihr zu schaffen zu machen, um ihren Widerstand gegen sein Eindringen zu brechen. Nur schwer ließ sich die Tür mit der einen freien Hand bewegen. Senden wollte auf keinen Fall seine eigene Sicherheit gefährden und die Waffe zurück in das Halfter schieben. Vorschriftsmäßig, wie in der Ausbildung erlernt, tastete er sich langsam und seine Umgebung achtend in den nun offenen vor ihm liegenden Raum.
In dieser Dunkelheit hatten seine Augen Probleme. Unmöglich konnte Senden sehen, was sich in dem Kellergewölbe abgespielt hatte. Seine Hand versuchte verzweifelt, den neben der Tür erwarteten Lichtschalter zu ertasten. Sam Bosten sah deutlich, wie sich Sendens Lippen bewegten. Doch er konnte die Worte nicht ablesen. Er sah die Finger von Sendens Hand, wie sie sich an der Wand auf und ab bewegten, bis sie auf den erhofften Widerstand trafen.
Senden knipste das Licht an, um umgehend in einen Schockzustand zu geraten, der ihn fast zum Erlahmen brachte. Ein fauliger Geruch im Raum und der grausame Anblick zwangen Senden zum sofortigen sich Übergeben. Die Wände waren mit Blut besudelt, wahllos im Raum verstreut lagen Körperteile. In der Mitte des Kellergewölbes stand ein länglicher Tisch aus Marmor. Mit einer Hand vor Mund und Nase und in der anderen die gezogene Waffe, trat er auf den Tisch zu. Sam Bosten war dieser Tisch bekannt, er wusste nur zu gut, welche Bedeutung er hatte.
Er erkannte an einem der Tischbeine das eingemeißelte Symbol des Todes.
Als Senden den Tisch erreichte, traf sein Blick den Körper, der darauf aufgebahrt worden war. Vor ihm lag der Rumpf einer Frau. Beide Beine waren bis zum Beckenknochen abgetrennt worden, ebenfalls fehlte der linke Arm. Und der Kopf war nicht an seinem Platz. Als sein Blick die rechte Rumpfseite streifte, löste sich das Rätsel. Im ausgestreckten rechten Arm lag in der geöffneten Hand das Haupt dieser armen Frau.
Nicht, dass dies schon schrecklich genug gewesen wäre. Den Kopf hatte jemand in vier Hälften geteilt, aufgeschnitten wie eine Melone an heißen Sommerabenden.
Senden musste seinen Blick davon abwenden, um sich im selben Moment nochmals zu übergeben.
Sam Bosten wusste nun, was er wissen musste und zog seine Hand von Sendens Brust zurück.
Senden schluchzte kurz. Dann löste sich die Verzweiflung aus seinem Gesicht.
"Sir, was ist geschehen? Ich fühle mich so erleichtert und geborgen. Mein Schmerz ist verschwunden."
"Mein Junge, du hast mir sehr geholfen, denk nicht weiter darüber nach. Knöpfe bitte dein Hemd wieder zu und geh zurück zu deinen Leuten. Sie stehen dort drüben und warten schon auf dich. Ich danke dir für das Vertrauen, dass du mir entgegengebracht hast."
Die Tür der dritten Limousine öffnete sich, und ein etwa 190 cm großer Mann stieg aus. Er trug einen tiefschwarzen Mantel mit einer übergroßen Kapuze. Er stolzierte auf den zweiten Wagen zu und drückte seine Hand gegen die Scheibe des Fahrzeuges, bis diese sich senkte und er die Stimme im Inneren vernehmen konnte.
"Vater, wird er den Auftrag annehmen?"
"Ja, Kardinal Mendossa, das wird er. Jedoch nur unter der Bedingung, dass ich Sie aus dem Spiel lasse, was ausgeschlossen ist. Sie wissen so gut wie ich, dass er sich schon einmal gegen uns gestellt hat. Obwohl er uns in den letzten Jahren immer gut gedient hat, vertraue ich ihm nicht. Sie werden ihn mit Ihren Leuten im Auge behalten und mich über die Entwicklung auf dem Laufenden halten. Haben Sie dies verstanden, Mendossa?"
"Vater, auf mich können Sie sich verlassen, wie immer!"
Aus dem Wageninneren streckte sich eine Hand mit verschiedenfarbigen Ringen heraus, die einen beachtlichen Wert hatten. Kardinal Mendossa beugte seinen Kopf und küsste den Schmuck.
Fischer hatte in der Zwischenzeit das Equipment aus seinem Auto geholt und marschierte mit langen Schritten auf seinen Vorgesetzten Sam Bosten zu.
"Fischer", rief ihm sein Chef entgegen, "ich bin vorab im Bilde. Wir sollten nun reingehen, um uns mit eigenen Augen einen Eindruck zu verschaffen."
Nur wenige Minuten später standen sie am Tatort.
"Was ist das für eine perverse Tat? Und welche extreme Stärke wurde hier eingesetzt? Beine und Arme wurden nicht einfach nur abgetrennt, sondern mit enormer Körperkraft aus dem Torso herausgerissen, Sam. Diese arme Frau, was musste sie für Qualen erleiden", flüsterte Fischer entsetzt.
Der gevierteilte Kopf ließ Bostens Blicke gefrieren.
"Fischer, komm her und mach ein Foto von dem Kopf. Und bitte aus allen Perspektiven." Hirnmasse klebte unter dem zerstückelten Kopf.
Fischer stellte die Schärfe des Objektivs ein und bat Sam, sich die Details der Wunden durch das Zoomobjektiv anzuschauen.
Ja, Fischer, ich sehe es. Die Hiebe sind präzise ausgeführt worden, dass nicht einmal die kleinste Quetschung zu erkennen ist. Fast so, als wäre ein Laserschwert dafür verantwortlich. Sieh nur, es ist kaum Blut ausgetreten, was für eine Verödung sprechen würde. Also, Fischer, mach deine Fotos und halte wirklich jede Kleinigkeit mit auf den Bildern fest. Du weißt ja, wie das geht." Fischer war etwas pikiert wegen dieser Anweisungen. Sie hatten genügend Tatorte inspiziert, als dass er auf derartige Ratschläge angewiesen gewesen wäre.
Blitzlichter durchfluteten den Raum in schneller Folge.
"Gut, Fischer, dann sind wir hier erst mal fertig. Lass uns raufgehen und Santiago Bescheid geben, damit er mit seinen Jungs noch einmal alles untersuchen und dann aufräumen kann."
Beide hatten Eindrücke gewonnen, die sie sich am Nachmittag gemeinsam im Büro noch einmal genauer vornehmen wollten. Fischer packte alles rasch zusammen und folgte seinem Vorgesetzten wortlos aus diesem schrecklichen Verlies.
Oben angelangt, trafen sie auf den ungeduldigen Santiago.
"So, wir sind so weit fertig. Du kannst jetzt mit deinen Jungs rein. Bereite sie auf eine ordentliche Sauerei vor. Wann können wir mit dem Ergebnis des Leichenbastlers rechnen?", rief Bosten Santiago hinterher, als dieser auf dem Weg zu seinen Männern war, um sie aufzuscheuchen.
"Sam, du weißt doch, der lässt sich nicht gerne drängeln. Rechne mal mit zwei Tagen", antwortete Santiago lautstark, sich aber bewusst nicht zu ihm umdrehend.
"Alles klar. Grüß mir deine Frau, meine Freundin bitte", lachte Sam frech. Santiago winkte nur ab. Für derlei Späße fehlte ihm gerade die Muse.
Er war Sam Bosten recht ähnlich. Nur in einem unterschieden sie sich vollkommen. Während Santiago sich für die Unterdrückten einsetzte, bekämpfte Sam Bosten das Böse. Wobei es ihm nicht gelang, wirklich zu erkennen, wer das Böse tatsächlich war.
"Fischer, wir haben es jetzt halb sechs, ich denke, wir sollten uns gegen zehn Uhr in meinem Büro treffen."
"Ich werde jetzt erst einmal einen Kaffee trinken gehen und dann schon mal die Fotos entwickeln. Sam, hörst du überhaupt zu?" Fischer schaute verdutzt in Sams Richtung.
"Fischer, hast du den Typen da hinten gesehen?"
"Wo denn, ich kann niemanden sehen", kam es zurück.
"Fischer, ich glaube, ich habe dort in der Ecke im Halbdunkeln einen alten Bekannten erblickt."
"Sam, da ist niemand."
Bostens Blick glitt nochmals zur Straßenecke. Doch was er glaubte, gesehen zu haben, war verschwunden.
Kardinal Mendossa rief seine Leibwache, um dieser mitzuteilen, welchen Auftrag sie soeben erhalten hatten. Er musste nicht viele Worte machen, um den lebendig gewordenen Fleischbergen klarzumachen, um was es hier ging. Natürlich wusste er von dem Ärger, den die beiden Bosten gegenüber hatten, er wollte sich diesen zu seinem Nutzen machen, um es dem aufgeblasenen Schnösel mal so richtig zu zeigen, ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen.
Peter Sound und sein Zwillingsbruder Greg freuten sich über ihre Aufgabe, Sam Bosten nicht aus den Augen zu lassen. In den vergangenen Jahren hatten sie sich eine Menge von ihm gefallen lassen müssen und dessen aufdringliche Arroganz ertragen. Es war an der Zeit für eine Retourkutsche.
Bosten fuhr mit seinem Wagen die Straßen entlang und fragte sich immer wieder, was er gesehen hatte. Diese Bilder, die er von Senden empfangen hatte, waren wie ein Déjà-vu gewesen. Und irgendwie waren seine Gefühle nicht nur...