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Wenn in der Schweiz abgestimmt wird, dann ist das oft nur etwas für politische Feinschmecker. Ob die Schweiz die Präimplantationsdiagnostik zulässt, den Mehrwertsteuersatz für das Gastgewerbe senkt oder Jugendmusik fördert, das interessiert ausser den unmittelbar Betroffenen nur wenige. Und doch sind die Schweizer Bürgerinnen und Bürger alle drei Monate aufgerufen, über solche und unzählige andere Fragen auf nationaler, kantonaler oder kommunaler Ebene zu entscheiden. Jenseits der Schweizer Grenzen interessiert das selten.
Am 9. Februar 2014 war das anders. Die ausländischen Medien hatten bereits im Voraus massiv über die bevorstehende Abstimmung berichtet. Die Schweiz wurde auf einmal Stammtischthema in ihren Nachbarländern. Und am Montag nach der Abstimmung überlegten sich so manche Grenzgänger, ob sie noch zu ihrem Arbeitsplatz in der Schweiz fahren sollten. Und viele Ausländer in der Schweiz fragten sich, ob sie noch willkommen seien in diesem Land.
Oberflächlich gesehen ging es um eine ziemlich abstrakte Frage, gehüllt in klare Paragraphen, mit einigen dazugehörigen Ausführungs- und Übergangsbestimmungen, wie es sich für eine angehende Verfassungsbestimmung gehört: Soll der Schweizer Staat den Zuzug von Ausländern ins Land regeln dürfen? Er soll, befand eine knappe Mehrheit von 50,3 Prozent der Stimmenden und eine deutlichere Mehrheit von 16,5 der 26 Kantone und Halbkantone.
Die Abstimmungsfrage betraf also nur die Aufgaben des Staates. Dahinter freilich verbarg sich die Forderung nach einer Begrenzung der Zahl der Ausländer, wie schon der Titel der Volksinitiative nahelegte. Der Staat sollte die Möglichkeit erhalten, das Tor für Einwanderer zu schliessen. Genauer noch: Er sollte die Einwanderung senken. Damit traf die Initiative den Nerv der Zeit. Die Schweiz hatte in den Jahren zuvor einen Einwanderungsschub erlebt wie zuletzt in den Jahren des schnellen Wachstums in den 1950er- und vor allem den 1960er-Jahren. Der rasche Zuzug so vieler Ausländer - bis zu 100 000 kamen netto pro Jahr - beunruhigte viele Schweizerinnen und Schweizer.
Damit standen sie nicht allein in Westeuropa. Auch andere Länder wie Grossbritannien und Irland hatten einen solchen Einwanderungsschub erlebt. Und nicht nur in der Schweiz warben politische Kräfte für eine Begrenzung der Zuwanderung. Das tat die United Kingdom Independence Party von Nigel Farage ebenso wie die Partij Voor de Vrijheid von Geert Wilders, der Front National von Marine Le Pen, die Freiheitliche Partei Österreichs von Heinz-Christian Strache, die Dansk Folkeparti von Kristian Thulesen Dahl. Die Zuwanderung war 2014 eines der heissesten politischen Eisen in Europa, das erklärt auch das grosse Interesse an dieser Schweizer Abstimmung. Und als die Schweiz die Initiative angenommen hatte, wurde das Land kurzzeitig zum Liebling von Rechtspopulisten quer durch den Kontinent. Der italienische Europaabgeordnete Mario Borghezio hüllte sich im Europaparlament sogar demonstrativ in eine Schweizer Fahne.
Doch wenn irgendwer angenommen hatte, dass mit der Annahme der Initiative tatsächlich die Zuwanderung begrenzt würde, dann hatte er - oder sie - sich getäuscht. Rein juristisch gesehen änderte der neue Verfassungsartikel zunächst gar nichts. Die gleichen Gesetze wie vorher regelten den Zuzug von Ausländern in die Schweiz und ihre Rechte auf dem Arbeitsmarkt. Niemand musste die Schweiz verlassen, zumindest europäische Ausländer konnten wie bisher in der Schweiz Arbeit suchen, sich anstellen lassen, eine Aufenthaltserlaubnis beantragen. Die Schweiz glich in dieser Hinsicht den übrigen Ländern in Europa, soweit sie der Europäischen Union angehörten. Tatsächlich kamen auch im Jahr 2014 netto 78 902 Ausländer neu ins Land - 2013 waren es 81 084 gewesen. Der neue Verfassungstext gab der Regierung lediglich den Auftrag, in einer nahen Zukunft - bis 2017 - einen neuen Mechanismus zur Steuerung der Zuwanderung einzuführen. Dieser neue Mechanismus sollte Höchstgrenzen und Kontingente für den Zuzug aus dem Ausland umfassen.
Das klang einfach und hatte doch einen Haken: Mit dieser Forderung widersprach der neue Verfassungsartikel den bestehenden Abkommen mit der Europäischen Union. Die Schweiz hatte sich im Freizügigkeitsabkommen von 1999 dazu verpflichtet, ihren Arbeitsmarkt und damit faktisch ihre Grenzen schrittweise für den Zuzug von EU-Bürgern zu öffnen. Für die Bürger der 15 Mitgliedsländer der Union wurde dies 2007 Wirklichkeit, für die Bürger der zehn 2004 beigetretenen Länder Ost- und Südeuropas ausgerechnet 2014. Nur die später beigetretenen Länder müssen länger warten. Der neue Artikel 121a der Bundesverfassung stand also in offenem Widerspruch zu geltendem internationalen Recht, das längst in Schweizer Gesetze und Verordnungen umgesetzt war. Zwar verlangte er nicht ausdrücklich eine Kündigung dieses Freizügigkeitsabkommens. Aber er verlangte, innerhalb von drei Jahren, also bis Februar 2017, umgesetzt zu werden. Er sagte nichts darüber, wie mit den bestehenden Abkommen umgegangen werden sollte.
Genau das Ungesagte beschäftigte fortan die Schweizer Politik. Entweder setzte die Schweiz den Verfassungstext wortwörtlich um, mit Höchstgrenzen und Kontingenten für Bürger der Staaten der Europäischen Union. Das würde das bestehende Freizügigkeitsabkommen verletzen. Die Europäische Union hätte damit eine Handhabe, dieses Abkommen zu kündigen. Oder aber die Schweiz hielte sich an das Freizügigkeitsabkommen, dem das Volk ebenfalls in einer Abstimmung im Mai 2000 zugestimmt hatte, damals mit einer Mehrheit von 67,2 Prozent der Stimmenden und 24 der 26 Kantone und Halbkantone. Dann würden die Bürger der Europäischen Union von dem neuen Artikel 121a der Bundesverfassung nicht erfasst - ein klarer Bruch dieser neuen Verfassungsbestimmung.
Bundesrat und Parlament befanden sich also seit dem 9. Februar 2014 in einem Dilemma: Entweder sie setzten die Verfassung um und verletzten das geltende Abkommen. Oder sie hielten sich an das Abkommen und verletzten die Verfassung. Erschwert wurde dieses Dilemma durch die sogenannte : Das Freizügigkeitsabkommen von 1999 war Teil eines Pakets von sieben Abkommen, die den Zugang der Schweizer Wirtschaft zum Europäischen Binnenmarkt regelten. Teil dieses Pakets war eine Bestimmung, dass alle Abkommen annulliert werden könnten, wenn ein einzelnes gekündigt würde. Mit anderen Worten: Wenn die Schweiz den Artikel 121a wortwörtlich umsetzen würde, verlöre die Schweizer Wirtschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit den Zugang zum Europäischen Binnenmarkt.
Zumindest theoretisch hätte die Europäische Union der Schweiz aus dieser selbstgewählten Sackgasse helfen können. Es hätte ihr freigestanden, das Abkommen über die Freizügigkeit neu zu verhandeln. Der Schweizer Bundesrat klopfte denn auch in den Monaten nach der Abstimmung immer wieder bei der Europäischen Kommission als ihrer Ansprechpartnerin in Brüssel an. Doch die Antwort war immer die gleiche: Gespräche gern, aber keine Verhandlungen. An der Freizügigkeit werde nicht gerüttelt.
Brüssel machte also keine Anstalten, der Schweiz aus ihrem hausgemachten Dilemma zu helfen. Im Gegenteil: Die Europäische Kommission zeigte sofort deutlich, dass sie nicht leichtherzig über die neue Verfassungsbestimmung und ihre Folgen hinwegsehen würde. Sie setzte die Beteiligung der Schweiz an ihrem Forschungsrahmenprogramm aus. Aus Brüsseler Sicht war das wohl eher ein symbolischer Fingerzeig, ein Verweis auf den Kasten mit den politischen Folterwerkzeugen. Doch aus Schweizer Sicht war es mehr: angesichts der internationalen Verflechtung der heutigen Forschung ein harter Schlag für die Schweizer Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Sie mussten fürchten, ihren Platz in der obersten Liga der globalen Wissenschaftswelt zu verlieren.
Der Widerstand der Europäischen Union gegen das Aufweichen der Personenfreizügigkeit durch die Schweiz hatte seinen guten Grund: Sie konnte dem Nichtmitglied Schweiz nicht gewähren, was sie den eigenen Mitgliedsstaaten versagte. Wenn sie Grossbritannien das Recht absprach, die Zuwanderung zu begrenzen, dann konnte sie der Schweiz dieses Recht nicht zusprechen. Jedes Entgegenkommen und selbst jeder Anschein, entgegenkommen zu wollen, würde die Position der Europäischen Kommission als Hüterin der Verträge gegenüber den Regierungen der eigenen Mitgliedsstaaten schwächen. Damit brachte der gleiche starke öffentliche Unmut über die hohe Zuwanderung, die in der Schweiz am 9. Februar 2014 zur Annahme der Initiative geführt hatte, im Anschluss daran Brüssel dazu, jede Verhandlung über die Freizügigkeit abzulehnen.
Folglich war die Schweizer Politik auf sich allein gestellt. Sie musste selbst einen Ausweg aus der selbstgemachten Sackgasse finden. Fast drei Jahre ging es hin und her, wurden verschiedene Möglichkeiten erwogen und wieder verworfen. Der Bundesrat kam mit dem einen Vorschlag, das Parlament machte daraus etwas ganz anderes. Was am Ende der langen Debatten herauskam, hatte wenig mit dem zu tun, was die Verfassungsbestimmung eigentlich verlangte. Statt Höchstgrenzen und Kontingenten für den Zuzug beschloss das Parlament Ende 2016 im Wesentlichen eine Meldeklausel: Wenn ein Arbeitgeber Arbeitskräfte sucht, dann muss er die offenen Stellen künftig den staatlichen Regionalen Arbeitsvermittlungen melden. Wenn diese Arbeitsvermittlungen Kandidaten für die Stellen melden, dann müssen einige von ihnen auch zum Bewerbungsgespräch geladen werden. Doch damit erschöpft sich das Arsenal bereits im...
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