DIE LICHTUNG
EINE ERZÄHLUNG
Der Autor hatte aufmerksam mitgezählt: Er machte mit der Goldfeder seines Schönschreibfüllers zum vierhundertund-zwanzigsten Mal drei elegante Striche auf die dritte Seite eines seiner Bücher. Sie sahen wie ein chinesisches Schriftzeichen aus und waren das zeitsparende Kürzel seiner Unterschrift. Vier-hundertzwanzigmal in einer Stunde, das waren sieben Unterschriften in einer Minute, hatte er errechnet. Es war ein guter Schnitt, wenn er bedachte, dass er bei etwa jeder dritten Unterschrift sagen musste:
"Es tut mir leid. Ich kann Ihnen leider keine Widmung schreiben. Dafür fehlt die Zeit. Sie haben sicher Verständnis dafür."
Das hatte er bislang einhundertundvierzig Mal getan. Damit ihm dabei nicht langweilig wurde, hatte er ab und an die Reihenfolge seiner Sätze getauscht. Schließlich gab es ja vierundzwanzig Permutationen seiner Grundaussage und er wollte alle einmal benutzen. Jetzt, bei der vierhundertundzwanzigsten Unterschrift, war die Version: "Sie müssen Verständnis haben; ich kann Ihnen leider keine Widmung schreiben. Dazu fehlt die Zeit. Es tut mir leid", an der Reihe.
Der Autor lächelte für sich und sein Gegenüber nahm es als Freundlichkeit. Zahlen bedeuteten dem Schriftsteller sehr viel. In dieser chaotischen Welt, in der alle Werte zerstört oder zumindest relativiert waren, man sich aber auch auf nichts mehr verlassen konnte, war ihm die Algebra ein Ruhepunkt an Klarheit, Struktur und Regelmäßigkeit. Der Autor war der Meinung, dass die Denker die Mathematik nur entwickelt hatten, um wenigstens in den Besitz einer Sache zu gelangen, die sicher ist, da sie jenseits einer Wirklichkeit nur im Verstand existierte. Wenn er auf die weltanschaulichen Irrungen sah, wie wohltuend war dagegen der Satz des Taylor, der unabänderlich immer wahr bleiben würde, auch wenn das Wasser plötzlich zur Quelle flösse. Der klägliche Versuch allerdings, dachte er, die Gesetze der abstrakten Mathematik mit Hilfe der Tensorrechnung auf die Erfahrungswissenschaften zu übertragen, scheitert eben daran, dass diese den Versuch machen, tatsächliche Vorgänge erklär- und vorhersehbar zu machen, die jedoch, siehe Einstein, nur im jederzeit änderlichen örtlichen und zeitlichen Bezugsrahmen des Beobachters Geltung haben können. Die reine Mathematik bleibt davon unberührt.
"Dr. Pendell?" Jemand legte seine Hand auf die Schulter des Autors und holte ihn aus seiner Sokratischen Abwesenheit. Pendell hasste Unterbrechungen bei seinen philosophischen Ge-dankenflügen, die ihm immer Anregungen für neue Bücher gaben. Unwirsch wandte er sich herum. Hinter ihm stand ein junger Angestellter der Buchhandlung, dessen eingeschüchterte Haltung den Autor sofort wieder erheiterte. "Entschuldigen Sie bitte, Dr. Pendell; die Stunde ist zwar um, aber es warten noch einige Leute. Würde es Sie stören, noch etwas länger bei uns zu bleiben?"
"Ich habe leider einen Termin", unterbrach Pendell den Angestellten mit einer gedankenschnellen Lüge. Er stand entschlossen auf und schloss seinen Füller mit einem deutlichen und endgültigen Knacken. Nur mehr zehn oder fünfzehn Leute harrten geduldig mit einem seiner Bücher in der Hand auf die Signatur des Meisters. Pendell hätte das in zwei Minuten erledigen können, aber dann würden seine Zahlen nicht mehr passen. Er glaubte an ihre Magie, an die Verknüpfung, die sie mit den heiligen Ziffern 3, 7 und 264 hatten. Die weiteren Unterschriften hätten alles kaputt gemacht. Ach, ja; über die 264 musste er unbedingt auch einmal ein Buch schreiben. Das war ja die Zahl der Zahlen! Pendell steckte den Füller in die Innentasche seines edlen Maßjackets und wandte sich an die Wartenden. Ein Schriftsteller muss nicht nur so seriös wie ein Bankier aussehen, er muss sich auch wie einer geben, dachte er.
"Es tut mir leid. Es fehlt leider die Zeit. Sie müssen Verständnis dafür haben. Ich habe einen unaufschiebbaren Termin", sagte er und lächelte gewinnend. Er blickte in enttäuschte Gesichter. Der Angestellte kam ihm beflissen zur Hilfe.
"Wir bitten Sie um Verständnis. Herr Dr. Pendell hat leider keine Zeit mehr. Es tut uns leid, aber er hat einen Termin." Der Autor sah erstaunt und anerkennend zu dem jungen Mann, der dann aber leider fortfuhr: "Es sind an der Kasse noch vorab signierte Exemplare des neuen Buchs von Herrn Dr. Pendell erhältlich: 'Netze kosmischer Energien', sechsunddreißigneunzig, gebunden. Ich möchte Sie auch noch auf Herrn Dr. Pendells Lesung heute Abend um zwanzig Uhr in der Aula der Fachoberschule aufmerksam machen."
Der Autor nickte zustimmend und verharrte, bis die Wartenden sich verstreut hatten. Eine ältere Frau jedoch, die eine Taschenbuchausgabe eines frühen Werkes von ihm über die 'Geistererscheinungen verstorbener Päpste im Vatikan und ihre geheimen Botschaften' in den Händen hielt, blieb hartnäckig knapp vor ihm stehen. An Aufdringlichkeiten gewöhnt, kümmerte er sich nicht weiter darum, schüttelte sich verabschiedend dem Angestellten die Hand.
"Entschuldigen Sie bitte, Herr Dr. Pendell!", sagte die Frau plötzlich zitternd, aber mit einem eindeutig kämpferischen Unterton. "Glauben Sie eigentlich an den Unsinn, den sie da schreiben?" Pendell musterte die Frau abschätzig. Wahrscheinlich war sie Ende fünfzig, aber sie wirkte älter; sie schien ihm eine abgearbeitete, durch die täglichen Reibereien des Hausfrauenlebens abgenutzte kleine Frau zu sein, die seine Schriften und die Regenbogenpresse als Flucht aus ihrem deprimierenden Alltag nahm. Ihre Art, ihn durchdringend und strafend zu betrachten, erinnerte den Autor an seine kürzlich verstorbene Mutter: Es war ein gewohnheitsmäßiger, erschöpfter Vorwurf in ihrem Blick, der ihn schuldig fühlen ließ, auch wenn er die Hände nicht in der Süßigkeitenkiste hatte. An einem anderen Tag hätte sich der Autor ohne zu antworten abgewendet. Heute war jedoch seine Selbst-zufriedenheit unangreifbar. Zudem war er neugierig, was der Grund für diesen unvermuteten Angriff war. Mit einer Handbewegung hinderte er den Angestellten, für ihn einzuspringen. Er räusperte sich.
"Ach Gott, ich will es mal so sagen, gute Frau: Spielt es eine Rolle, ob ich an die Wahrheit glaube? Ich halte es da mit Pilatus: Was ist Wahrheit überhaupt? Wichtig ist doch, denke ich mir, was mein Leser aus den Texten macht. Die Bücher bieten Ihnen Informationen, wollen etwas erfahrbar machen, egal, ob man sie für wahr oder falsch erachtet. Information steht jenseits von solch kleinlichen Dünkeln. Sie muss sie doch öffentlich gemacht werden, das erachte ich als meine vornehme Aufgabe. Alles andere wäre Zensur. Erst die Vielfalt des Wissens, die Kenntnis von These und Antithese, schafft den mündigen Bürger. Können Sie mir folgen?" Die Frau sah ihm nicht danach aus. "Ich glaube an den 'Unsinn', den ich schreibe", vereinfachte er, "er ist ebenso wahr oder falsch wie ein Physikbuch oder die Bibel."
"Mein Mann Holger glaubt auch daran; er hat Ihre Bücher gelesen und viele andere mehr .", erwiderte die Frau zögernd, eingeschüchtert durch die unerwartete und ausführliche Gardinenpredigt. Der Autor sah wieder auf seine Uhr.
"Das ist gut. Ich freue mich über jeden Leser. Aber ich muss jetzt wirklich gehen. Nun ja, für Ihren Holger ." Er nahm der Frau kurzentschlossen das Buch aus der Hand und setzte mit einem Kugelschreiber, den ihm der aufmerksame Angestellte eilig reichte, seine Unterschrift hinein. "Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen", log er und gab ihr den Band zurück. Die Frau wollte noch etwas entgegnen, aber da hatte er sich schon umgedreht und ließ sie stehen.
Später würde er sich zwar ärgern, dass er mit der Unterschrift seine glückbringende Zahlenmagie zerstört hatte, aber im Moment war er sehr zufrieden, dass er die Frau und ihren Mann mit den drei Strichen seiner Signatur glücklich gemacht hatte. Das können eben nur Schriftsteller, dachte er, wir machen Menschen mit wenigen Worten zufrieden und sie fühlen sich wichtig. Das ist unser Geschenk an die Menschheit: Wir lassen sie ahnen, wir machen sie groß . Dr. Eraban S. Pendell hätte nun gerne eine Pfeife geraucht, aber er hatte sie im Hotel gelassen.
Pendell ließ sich Zeit. Er schlenderte in ausgeglichener Stimmung durch die City der ihm fremden Stadt. Er hatte noch keine Lust, zurück in das Hotel zu gehen, in dem sein Verlag für die Länge seines Aufenthaltes für ihn eine geräumige Zimmerflucht gemietet hatte. Es blieben noch einige Stunden bis zum Abendessen und der Lesung, zu der ihn ein Vertreter der örtlichen Volkshochschule abholen würde; ein gewisser Emilio Parma, mit dem er bislang nur telefoniert hatte. Der Autor hatte sich zu einem Spaziergang entschlossen, wollte gedanken-verloren und ohne Ziel durch die engen Gässchen der Augsburger Altstadt streifen und an den Schaufenstern der Innenstadt entlang flanieren. Das machte ihm Spaß, denn jenes unbewusste, halb somnambule Gehen führte ihn stets geradewegs an die interessantesten Orte ihm unbekannter Städte. Er benutzte sich selbst als Wünschelrute zu den außergewöhnlichen Stellen, an denen die geheimnisvollen Kraftlinien - die sogenannten 'Ley-Linien' -, sich kreuzten und mitten in den modernen Städten Orte voller Kraft schufen, an denen es für ihn Ungewöhnliches zu sehen oder erleben gab. Auffallend häufig fand der Autor an diesen Kreuzungen Kirchen oder Gasthäuser vor.
Er hatte sich mit dem Phänomen, für die Magie dieser Orte empfänglich zu sein und die pulsierenden...