Schweitzer Fachinformationen
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Donnerstag
Er stolperte, verlor das Gleichgewicht und stürzte der Länge nach zu Boden. Panik überkam ihn, während das Gras wie klebrige Tentakel an seiner Haut klebte.
Ein einziger Gedanke drängte ihn zur Flucht, hinderte ihn jedoch daran, klar zu denken. Seine Finger gruben sich tief in das feuchte Erdreich. Matsch quoll zwischen ihnen hervor, als windeten sich Würmer über die blassblaue Haut.
Der Boden roch modrig wie frisch aufgeworfene Friedhofserde - feucht und von Schimmel durchzogen. Er schluckte schwer. Kraftlos richtete er sich auf, drückte die Ellbogen durch und spürte das Zittern in seinen Armen. Wie ein Hund, der sich trocken schüttelt, warf er den Kopf von einer Seite zur anderen, um die erdrückenden Gedanken loszuwerden. Sein Kreislauf sackte ab, gleichzeitig fühlte es sich an, als würde sein Herz jeden Augenblick explodieren.
"Sie werden dich kriegen", flüsterte eine düstere Stimme tief in seinem Inneren. "Du musst aufstehen, sonst stirbst du." Die Worte hallten wie ein endgültiges Urteil nach.
Seine Fingerknöchel wurden weiß, als er die Hände zu Fäusten ballte. Wackelig stützte er sich auf dem rutschigen Boden ab wie ein Sprinter, der zum Start bereit ist. Noch immer spürte er die Nachwirkungen der Drogen, die man ihm verabreicht hatte. Wie eine Dampflok stieß er kleine, blasse Wolken aus seinem Mund. Gehetzt und keuchend bewegte er sich zwischen den Bäumen, getrieben wie ein gejagtes Tier.
Er schluckte, zog rasselnd den Rotz hoch. Wieder entwich seinen spröden Lippen ein gutturaler Laut. Die sehnigen Muskeln auf seinem Rücken traten wie dünne Seile hervor. Sein Handeln war instinktiv, planlos. Er machte einen Buckel, stemmte die Hände auf die Knie und drückte sich ab. Wankend stand er da. Tat einen unsicheren Schritt nach vorne. Die Arme hingen schlaff an den Seiten, während ein brennendes Kribbeln sich über seine Haut legte. Blind setzte er unsicher einen Fuß vor den anderen.
Mit weit von sich gestreckten Armen wankte er schneller vorwärts. Der Boden war uneben, und er musste aufpassen, wollte er nicht erneut hinfallen. Der Mond warf sein trübes Licht durch die Blätter der Bäume hindurch. Über ihm zogen Wolkenfetzen langsam vorüber. Ohne es bewusst zu steuern, blieb der Mann stehen. Schnuppernd wie ein Tier legte er den Kopf in den Nacken. Etwas war da, und es versuchte zu ihm hindurchzudringen. In kurzen Stößen atmete er die feuchtnasse Luft durch die Nase ein. Nicht der modrige Geruch der Umgebung weckte seinen Instinkt, vielmehr war es das kaum wahrnehmbare Licht, das er wiedersehen konnte.
Langsam hob er die Arme, legte Zeige- und Mittelfinger an seine Augenlider und zog sie auseinander. Da war tatsächlich etwas. Ein geisterhafter Punkt, kaum sichtbar. Er spreizte die Finger weiter, um mehr von dem schwachen Licht auf seiner Netzhaut einzufangen.
Im fahlen Mondschein glich seine hagere Gestalt einem gespenstischen Scherenschnitt. Schädel, kantige Schulterblätter und der spitze Beckenkamm zeichneten sich ab. Selbst die Rippen, dünn wie gebogene Bleistifte, traten unter der pergamentartigen Haut ungesund hervor.
Mit beiden Fäusten rieb er sich die Augen, als könnte er die Blindheit aus ihnen herauswischen.
Wie weit war er gekommen? Weit genug, um seinen Verfolgern zu entfliehen? Orientierungslos drehte er den Kopf hin und her. Sein Herz pochte heftig in seiner Brust, und das Blut rauschte laut in seinen Ohren. Gierig schnappte er nach Luft, atmete tief ein.
"Egal, was es dich kosten wird, du musst weiter", ermahnte er sich selbst.
Wie ein Betrunkener stolperte er in die Dunkelheit, die dürren Arme wie Antennen vor sich ausgestreckt. Äste zerkratzten seine Haut, hinterließen kleine, blutende Wunden. Er durchquerte ein Feld aus Brennnesseln, deren Stiche juckende Pusteln auf seinem Körper verursachten.
Plötzlich formte sich auf seiner Netzhaut eine ockerfarbene Scheibe. Inmitten der Brennnesseln blieb er stehen und sah genauer hin. "Licht", dachte er hoffnungsvoll. Zum ersten Mal seit Wochen konnte er wieder etwas erkennen. Der Punkt auf seiner Netzhaut begann zu pulsieren, und er glaubte, er würde größer werden.
Wie ein Insekt bewegte er sich auf das Licht zu, schwankend und taumelnd zwischen den Bäumen. "Wo Licht ist, ist Leben", hallte es in seinem Kopf wider.
"Weiter", spornte er sich an. "So kurz vor dem Ziel darfst du nicht anhalten. Sie haben dein Verschwinden längst bemerkt." Kleine, spitze Steine bohrten sich schmerzhaft in seine Fußsohlen. Dennoch stolperte er auf das Licht zu, während sein Herz immer schneller raste und das Blut in seinen Ohren pulsierte.
Der Gedanke, was passieren würde, wenn er scheiterte, trieb ihn fast in den Wahnsinn. Tränen der Hoffnung liefen ihm über die schmutzverschmierten Wangen.
Der Untergrund fing an, sich zu verändern; lief er gerade noch über Gras, fühlte er sich jetzt an wie Asphalt. Sein Instinkt versuchte ihn zu warnen, da trat er ins Leere. Er fiel mit weit von sich gestreckten Armen der Länge nach hin. Haut riss auf, und Knochen rutschten über den steinharten Boden.
Sein Schrei hallte in seinem Kopf wider. Das Kinn schmerzte, als er es zaghaft berührte. Zwischen seinen Fingern verrieb er eine warme, klebrige Flüssigkeit. Doch den Schmerz selbst spürte er kaum. Aller Sinne beraubt, krabbelte er auf allen vieren, ertastete den Boden.
Plötzlich drang ein kaum merkliches Geräusch von Hupen wie durch Watte an seine Ohren. Die Klänge schienen ihn von allen Seiten zu umzingeln. In seiner Fantasie spielten sich gespenstische Szenen ab.
In seiner Angst kroch er schneller voran. Spitze Steinchen bohrten sich schmerzhaft in seine Kniescheiben, während etwas Scharfes in seine rechte Hand eindrang. Mit gesenktem Kopf bewegte er sich weiter über den Asphalt. Rotz tropfte ihm aus der Nase auf die Straße. Die Lichter um ihn herum wurden greller. Der Lärm steigerte sich ins Unerträgliche, und die Angst übernahm immer stärker die Kontrolle über sein Handeln.
Er spürte einen Luftzug, nahm die Anwesenheit von etwas Großem wahr, das ihn nur knapp verfehlt haben musste. Doch anstatt dem Fluchtinstinkt nachzugeben, überkam ihn das widersprüchliche Bedürfnis nach Ruhe. Er wollte sich einfach nur hinsetzen und warten. Worauf, wusste er selbst nicht genau - es war ihm schlagartig egal geworden. Ein Gefühl der Ankunft breitete sich in ihm aus, und zum ersten Mal seit seiner Flucht fing er an zu lächeln.
Nackt und schutzlos saß der Mann in der Mitte der Straße, während das grelle Scheinwerferlicht der Autos seine geschundene Haut kühl zur Schau stellte.
Plötzlich fühlte er, wie Wut in ihm aufstieg, und er wollte seinem Schmerz eine Stimme geben, der Welt seine Verachtung entgegenschreien. Mit letzter verbliebener Kraft kämpfte er sich in die Höhe. Breitbeinig reckte er seine geballte Faust in den nachtschwarzen Himmel, als ein warmes Licht ihn umhüllte.
"Das waren die Nachrichten. Es ist jetzt 04:35 Uhr." Die Stimme aus dem Radio machte eine kurze Pause. "Rolf Köppen meldet gerade, dass die Neumühler Straße, die Meiderich mit Hamborn verbindet, auch heute wenig befahren ist. Danke, Rolf, für diese äußerst wichtige Information." Der Sprecher von Radio Duisburg fiel zurück in einen monotonen Singsang und pries die Vorzüge eines neu eröffneten Cafés im Norden der Stadt an. Gabi Patschinski drehte ihr Autoradio leiser.
Einer der Gründe, warum sie tagtäglich denselben Weg zur Arbeit nahm, war das spärliche Verkehrsaufkommen. Die breite Straße gab ihr die nötige Sicherheit, nachdem der Arzt bestätigt hatte, dass der Graue Star weiter fortgeschritten war.
Sie arbeitete seit nunmehr 50 Jahren im Reinigungsgewerbe und gehörte zu den Menschen, die sich nie beschwerten. Mit Schrubber, Besen und Spültuch im Gepäck reinigte sie das, wofür andere Leute sich zu schade waren, ohne sich jemals zu beklagen. Jammern? Das war nichts für sie, so hatten ihre Eltern sie nicht erzogen.
"Gesundheit ist das Wichtigste", sagte sie immer zu sich selbst. Das war das Mantra ihres Lebens. Zusammen mit ihrer Witwenrente und dem, was sie sich im Lauf der Zeit angespart hatte, kam sie gut über die Runden. Einmal im Jahr gönnte sie sich einen bescheidenen Urlaub auf den Kanaren, der Rest des Geldes ging für Medikamente, Sanitätshäuser und die Unterstützung ihrer nutzlosen Familie drauf.
Der postgelbe VW Polo war ebenso in die Jahre gekommen wie sie selbst und verrichtete ebenso zuverlässig wie sie auch seinen Dienst. Wenn alles nach Plan verlief, müssten sie beide nur noch 24 Monate durchhalten, dann war Schluss mit der Plackerei.
Gedankenverloren wechselte sie die Spur, als plötzlich ein lautes Gehupe sie aus ihrer Ruhe riss. Im Rückspiegel machte sie den Störenfried schnell aus: Der Fahrer saß hinter dem Lenkrad eines dunklen Transporters, wild gestikulierend wünschte er ihr die Pest an den Hals. "Was fährst du auch so dichtauf, Spinner", dachte sie missmutig und zeigte ihm den Mittelfinger durch die heruntergelassene Seitenscheibe. Mit Genugtuung verfolgte sie im Rückspiegel, wie der Fahrer vor Wut tobte. "Gut so", lächelte sie freudlos.
Mit einem dämonischen Gesichtsausdruck und kleinen Fältchen um die Augen wandte sie den Blick zurück auf die Straße. Noch im selben Augenblick stockte ihr der Atem, und das Blut wich aus dem sonnengegerbten Gesicht. Wie in Zeitlupe sah sie das drohende Unheil auf sich zufliegen.
Trotz der geschlossenen Fenster hörte sie das dumpfe Brechen von Knochen. Mit weit...
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