Schweitzer Fachinformationen
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Schon wieder klingelt das Telefon. »Herr Professor, könnten Sie uns mit Zeugen der IS-Verbrechen zusammenbringen?« Darum bitten mich in den letzten Jahren immer häufiger die Journalisten in meiner Heimat im Schwarzwald. Sie wissen, dass ich als Traumatherapeut mit den Überlebenden arbeite und den Nordirak fast wie meine eigene Westentasche kenne. Kultur und Sprache sind mir vertraut, denn ich bin in diesem Land zwischen Euphrat und Tigris, das einst Mesopotamien genannt wurde, dem Land von Noah und Abraham, geboren.
Seit dem Einmarsch der IS-Terroristen im August 2014 ist der Nordirak größtenteils mit traumatisierten Menschen bevölkert, die nach der Diktatur Saddam Husseins aus ihrem gewohnten Leben ins tiefe Mittelalter hineinkatapultiert worden sind. Die Gräueltaten haben die Überlebenden zutiefst verstört zurückgelassen. Am härtesten hat es dabei die Minderheit der Jesiden getroffen, aber auch Christen, Mandäer, Kakai und zum Teil Schiiten in Mossul und Umgebung.
Einige Wochen später holpern ein Fernsehteam und ich in einem weißen Range Rover über staubige Straßen im Nordirak, vorbei an den von Handfeuerwaffen zerfressenen Lehmhäusern und ausgebrannten Fahrzeugen. Die Menschen am Straßenrand tragen abgerissene Kleidung, ihre Gesichter wirken leer wie die geplünderten Ruinen ihrer Häuser. Nahezu alles, was sich die Einwohner einst über Jahrzehnte aufgebaut hatten, liegt nach vier Jahren Schreckensherrschaft in Trümmern.
Stück für Stück hat das irakische Militär mit seinen Verbündeten das »Kalifat« zerschlagen, doch das Terrornetzwerk wird trotzdem nicht von unserer Landkarte verschwinden. Vermutlich taucht der IS schon bald mit einem anderen Gesicht an einem anderen Ort wieder auf. Überall, wo Chaos, Vakuum und Paralysierung regieren, findet diese »Herrschaft des Gesandten Gottes« neue Soldaten zum Rekrutieren. Solche, die nichts mehr zu verlieren haben. Für die der Tod erstrebenswerter ist als das Leben. Und deren Aufgabe darin besteht, Angst und Schrecken auch in Europa zu verbreiten.
Im Flüchtlingslager Khaparto angekommen, schiebt ein 9-jähriger jesidischer Junge auf meine Bitte hin sein Hemd hoch. Akrams magerer Bauch ist vernarbt und verbeult. IS-Soldaten hatten ihn beim Einmarsch ins Sindschar-Gebiet angeschossen, als er versucht hatte zu fliehen. Seinen Vater haben sie exekutiert, seine Mutter und seine Geschwister als Leibeigene missbraucht. Akram haben sie als Kindersoldaten einer Gehirnwäsche unterzogen.
Mit den wild zugewucherten Wunden am Bauch besuchte der damals 6-Jährige die Schule der radikalen Islamisten. Gemeinsam mit den anderen entführten Jungen lernte er, an Puppen zu üben, wie man Köpfe mit einem Messer abtrennt. Manche Kinder führten das Einstudierte später an den eigenen Eltern durch. Verschämt und mit fahrigen Gesten berichtet der Junge den Journalisten: »Zur Strafe haben sie mich über Nacht in ein Leichenhaus eingesperrt.« Kurz blickt er der Reporterin mit einer stummen Frage in die Augen: »Verstehen Sie?« Aber wer will solche Gefühle schon wirklich verstehen? Das hält keiner aus. Doch Akram musste es aushalten. Zitternd. Voller Todesangst. Zwischen blutigen Körpern am Boden. Zerfetzt vom Hass. Nur die eigenen Arme, um sich festzuhalten.
Als einer von wenigen hat der Halbwaise es geschafft, aus dem Grauen lebendig davonzukommen. Nur was fängt man als 9-jähriger mit so einem Leben an? Mit Bildern vom Wahnsinn im Kopf. Mit einem Bauch voller Schmerzen. Zwischen Armut und Verzweiflung. Ohne ausreichenden Schutz. Es ist nicht klar, was aus Akram wird, solange die Situation im Irak weiter unklar bleibt.
Nach dem Sieg über den IS bekriegen sich diejenigen, die zuvor noch Seite an Seite gekämpft haben. Erneut sind dabei die Kurden ins Feuer geraten, die gegen die Terroristen an vorderster Front gestanden sind. Sie verstehen sich als westlich orientierte Ordnungsmacht. An das Syrien und den Irak von morgen haben jedoch in all diesen Jahren keine Partei und keine Weltmacht gedacht. Weiterhin beherrschen den Irak eine tiefe Zerrissenheit und allseitiges Misstrauen. Der Staat, in dem die Kurden verdientermaßen ein Recht auf Selbstbestimmung verlangen, existiert de facto seit einigen Jahren nicht mehr.
Manchmal erlebe ich nach solchen Begegnungen mit den Opfern die Journalisten, die sonst so gerne viel fragen und so neugierig sind, als sprachlos. Ich erkläre ihnen dann, was bei einer sekundären Traumatisierung geschieht. Allein schlimme Ereignisse wie diese zu hören kann uns Menschen traumatisieren, obwohl wir sie nicht am eigenen Leibe erlebt haben. Dabei fällt mir die Geschichte des Fotojournalisten Kevin Charters ein, der 1993 für eines seiner Bilder den Pulitzer-Preis erhielt. Darauf sieht man ein hungerndes sudanesisches Mädchen, hinter dem einige Meter weiter ein Geier wartet. Zwei Monate später beging der Reporter Selbstmord. Seiner 7-jährigen Tochter hinterließ er folgenden Brief:
»Es tut mir sehr, sehr leid . Der Schmerz des Lebens übersteigt die Freude in einem Maße, dass keine Freude mehr existiert . [Bin] deprimiert . Mir gehen die lebhaften Erinnerungen nach, an Morde und Leichen und Wut und Schmerz . an verhungernde und verwundete Kinder, an schießwütige Irre - oft Polizisten -, an Exekutierer von Killern .«
Bevor die Sonne untergeht, holpern wir zurück im weißen Jeep. »Welcome to hell« hat irgendjemand an einen Mauerrest geschmiert. Für einen Moment habe ich das Gefühl, all das schon Hunderte Male gesehen und gehört zu haben. War es in Syrien, Bosnien oder irgendwo in Afrika? Am Ende trägt doch jeder Krieg dasselbe Gesicht aus Verzweiflung, Sinn- und Trostlosigkeit. Im nächsten Moment tauchen wir zwischen den Glitzerfassaden verspiegelter Hochhäuser in die Straßenschluchten der Großstadt ein.
Es war im August 2014, als in den klimatisierten Wohnzimmern der Welt die ersten Bilder langer Menschenströme auftauchten, die in der glühenden Hitze des kargen Sindschar-Gebirges vor ihren Verfolgern in den Nordirak geflohen sind. Über eine halbe Million Alte, Frauen und Kinder, von denen viele auf der Flucht verdursteten. In der Folge hörte man über Tausende Väter und Söhne, bei Massenexekutionen hingerichtet und von Baggern zugeschüttet. Über Mütter und Mädchen, vergewaltigt und versklavt. Über unsere Flachbildschirme flimmerten Nahaufnahmen von Gesichtern, in denen das blanke Entsetzen stand.
Schreckliche Nachrichten verbunden mit einem meist phlegmatischen Umgang sind wir alle gewöhnt, sediert von dem Ohnmachtsgefühl, daran ohnehin nichts ändern zu können. Normalerweise schaltet man den Fernseher aus, nimmt sich im Sommer ein kühles Bier und setzt sich in den Garten. Bei mir aber ist mit einem Knall die Schutzhaut zwischen der inneren und der äußeren Welt geplatzt. Zwei Welten, die ich kenne, haben sich schlagartig schmerzhaft überschnitten.
»Nein!«, rief ich laut aus, fast als könnte ich wie ein Regisseur von außen die Handlung anhalten, den Film zurückspulen und löschen. Mit einem Satz bin ich aufgesprungen und habe fast den Gartenstuhl umgeworfen. »Ich kann nicht tatenlos dabei zusehen«, sagte ich zu meiner Frau. Wollte ich Einfluss auf die Politik nehmen, reichte Reden allein nicht mehr aus. Ich musste etwas unternehmen.
Mit der Unterstützung einiger hochkarätiger Kräfte habe ich schließlich die medizinisch-therapeutische Leitung für eine fast unmöglich scheinende Mission übernommen. Die baden-württembergische Landesregierung schickte mich mit dem für das Staatsministerium zuständigen Leiter, Michael Blume, in den Nordirak. Unser verkürzt formulierter Auftrag lautete: »Wählen Sie in den Flüchtlingslagern die allerhärtesten Fälle aus.« 1000 schutzbedürftige jesidische Frauen und Kinder sollten im Rahmen dieses einzigartigen deutschen Projekts die Chance auf eine zwei Jahre lang andauernde Therapie in Baden-Württemberg bekommen. Der Koffer war schnell gepackt. Meine Frau und ich umarmten uns lange und ohne viele Worte.
Und schon saß ich im März 2015 im Flugzeug nach Erbil. Diese boomende Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan erinnerte mit ihrem Ölreichtum und ihren schillernden Wolkenkratzern eher an Dubai als an ein Krisengebiet. Mit dem Taxi passierte ich einige Checkpoints, rollte vorbei an eilig ausgehobenen tiefen Gräben für Panzersperren und fuhr durch eine tiefe Ebene ins grüne Hügelland hinein. Hier und da Erdölfördertürme. In der Ferne schneebedeckte Berge. Nachts war die 140 Kilometer lange Strecke gesperrt, da sie an mehreren Stellen dicht an der Frontlinie zum IS-Gebiet verlief.
»Kommen Sie näher, ich erkläre Ihnen die aktuelle Lage.« Ein Mitarbeiter vor Ort deutete von einem Hügel der etwa 400 000 Einwohner großen Stadt Dohuk aus mit dem Finger auf...
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