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Wir erklimmen 90 Kilometer vor dem Ziel einen kleinen Pass namens Buttertubs im Norden von Yorkshire, und ich kann die Straße nicht mehr sehen. Die auf ihr postierten Menschen lassen uns nur einen schmalen Spalt, um sie zu passieren. Die Hügel nebenan sind seit Stunden gefüllt mit Fahnen schwenkenden, enthusiastischen, tanzenden Menschen, die sich hier, im welligen Norden Englands, versammelt haben, um uns hüpfend, jubelnd und schreiend willkommen zu heißen. Natürlich ist die Tour de France das größte und wichtigste Radrennen des Jahres, aber was wir gerade im Nirgendwo der englischen Provinz erleben, erleben dürfen, ist die größte Menschenansammlung am Straßenrand, die ich in meiner Zeit als Radprofi jemals mitbekommen habe.
Weiter geht es auf der Strecke, dem Ziel in Harrogate entgegen. Und immer wieder stehen an neuralgischen Stellen Menschen in Siebener-, Achter-, Neuner-, Zehnerreihen hintereinander auf den Bordsteinen der malerischen Dörfer, die wir passieren. Sie jubeln und kreischen, und wir sind gerührt, aber auch zunehmend aufgeputscht von dieser Form der Anerkennung und Aufmunterung. Sind wir in einer Zeitschleife gelandet und rasen gerade an Woodstock vorbei? Sieht zumindest so aus. Das ist sensationell. Was für ein Abenteuer. Auch die Profis, die ansonsten kaum eine Regung zeigen, sind über die Maßen fasziniert und begeistert.
Später habe ich in einem Video gesehen, dass an einer Stelle, mitten in einem Feld, Abertausende Zuschauer picknicken, um eine riesige Leinwand gruppiert, auf der das Rennen zu sehen ist, die erste Etappe der Tour 2014.
Wir hatten uns auf meinen Wunsch hin Anfang April 2014 die Strecke angeschaut, Tom Veelers, Albert Timmer, Koen de Kort, Bert De Backer, John Degenkolb und ich. Die ersten drei beinharte Niederländer, Bert ein cleverer Belgier, und sie waren genauso wie der gebürtige Thüringer John Degenkolb Teil meines Sprintzuges bei Giant-Shimano. Wir wollten wissen, was uns auf der 190,5 Kilometer langen ersten Etappe auf dem Weg von Leeds nach Harrogate erwartet. Wir waren fasziniert von dem, was wir an anmutiger Landschaft zu sehen bekamen, aber auch sehr beeindruckt von dem welligen Kurs, der schwer zu werden versprach, zumindest für einen Sprinter, wie ich es bin: 1,90 Meter groß, 90 Kilo schwer. Für mich ist jeder Berg eine echte Herausforderung, auch der Buttertubs mit seiner Höhe von 526 Metern, der im Frühling auf einer fast gar nicht frequentierten Straße verlassen in der Landschaft schlief.
Als wir die Strecke erkundeten, waren die äußeren Bedingungen miserabel: Strömender Regen empfing uns im Startbereich von Leeds und Harewood. Wir fuhren weiter durch die Nässe des Tages, um uns den langen Mittelteil anzusehen und vor allem das Finale in Harrogate. Die letzten drei, vier Kilometer würden ebenfalls alles andere als leicht für Sprinter sein: Die Strecke war dort sehr hügelig, zuletzt wartete ein Anstieg auf ein Plateau, auf dem die Etappe hoffentlich im Sprint entschieden würde. Mir wurde klar, dass ich auf den letzten 4000 Metern besonders auf die Arbeit und Hilfe meiner Teamkollegen angewiesen sein würde, wenn ich eine Chance auf den Tagessieg haben wollte. Genau deshalb waren wir sechs Profis dort, im April, wir wollten jedes Detail kennenlernen, jede Kurve sehen und die Beschaffenheit des Asphalts studieren. Und schon zu diesem Zeitpunkt versuchte ich mich in das Finale hineinzudenken: Fahren im Pulk, Tempo am Anschlag, Hektik, weil jedes Team für seinen Top-Sprinter den großen Preis in Empfang nehmen möchte, der neben dem Etappensieg ausgelobt ist - das Gelbe Trikot.
Denn der Schnellste des ersten Tages würde gleichzeitig der Beste in der Gesamtwertung sein. Auch das erklärt unsere akribische Vorbereitung im Regen. Aber, ganz wichtig: Es war still. Die Gegend war verlassen. Die Sicht war frei.
Was ich an jenem regnerischen Tag im Frühjahr überhaupt nicht antizipieren konnte, war das, was sich dann während des Rennens am ersten Samstag im Juli abspielte, auch wenn es sich bei der Präsentation schon angedeutet hatte. Denn die endete nach einer Fahrt durch das überfüllte Leeds in der First Direct Arena, die normalerweise Platz bietet für 14000 Zuschauer. An diesem Donnerstag jedoch, zwei Tage vor der ersten Etappe, saßen die Menschen so dicht beieinander, dass bestimmt viel mehr als 14000 Radsportfans im Inneren waren. Draußen warteten jubelnde Engländer an den Absperrgittern, sie winkten uns zu und feuerten uns an. Drinnen waren das Geschrei und der Jubel der enthusiastischen Menge surreal laut, wir alle empfanden das teamübergreifend als fantastisch. Weil es in dieser Form und Lautstärke außergewöhnlich war. So etwas hatte keiner von uns zuvor erlebt.
Am 5. Juli selbst stimmte jedes Detail. Kate, William und Harry waren kurz vor dem Start neben dem Harewood House in Leeds ganz vorne zu sehen. Die Herzogin schnitt die Schnur durch, hinter der wir Radprofis uns versammelten. Vorher hatte es noch eine Ansprache gegeben, dass wir uns um Himmels willen bloß ordentlich benehmen sollten im Umfeld und im Schatten der Royals. Und dann begann der wohl spektakulärste Tag, den ich je im Rahmen eines Radrennens erleben durfte. Vor dem ersten Pedaltritt übermannten mich Nervosität und Hochspannung, weil ich einer der Favoriten auf den Tagessieg war und weil ich hier, in England, in Yorkshire, auf meinen großen britischen Sprinterrivalen Mark Cavendish treffen würde, dessen Mutter obendrein noch in der Nähe des Zielortes in Harrogate wohnt.
Diese Zuschauermassen. Das konnten wir nicht fassen. Schon während der neutralen Einrollphase, die im Zentrum von Leeds begann und vor Harewood House endete, standen die Menschen links und rechts von uns in riesigen Mengen auf den Bordsteinen, einige Zuschauer hatten sich auf Ampelmasten und Bäume gesetzt, ihre Beine baumelten über uns. Und aus den Häusern der im Tour-de-France-Look mit gelben Fahrrädern und blau-weiß-roten Wimpeln geschmückten Straßen winkten uns die Menschen beinahe schon hysterisch zu. Was war hier bloß los?
Das alles führte dazu, dass die Luft in Leeds vibrierte, wie sie noch nie bei einem Start der Tour de France vibriert hatte. Das bestätigen alle meine Kollegen, die dabei waren und zuvor schon mehrere Male einem Grand Départ des größten Radrennens der Welt beigewohnt hatten. Es war phänomenal. Episch. Etwas für die Geschichtsbücher dieses Rennens.
Und so ging es weiter. Der überfüllte Buttertubs-Pass ist ja nur ein winziger Ausschnitt einer phänomenalen Ansammlung von Radsportenthusiasten an diesem Samstag.
Zwei Kilometer vor dem Ziel, das Feld ist kompakt beisammen, das Finale hat schon richtig begonnen, müssen wir ein steiles Stück auf der ohnehin ansteigenden Straße meistern. Koen de Kort ist vor mir, er hält mir den Weg in diesem Anstieg frei, ich trete schon mit voller Kraft, um bloß nicht den Anschluss zu verlieren. Einmal habe ich mich umgeschaut und auch mal nach oben geblickt, um den Rennverlauf zu verstehen - da sehe ich wieder Menschen auf Ästen sitzen, die über die Straße reichen. Dazu herrscht infernalischer Lärm. Das, was unsere sportlichen Leiter uns über die Kopfhörer mitteilen wollen, ist längst nicht mehr zu verstehen, dazu wummert es in der Luft, als hämmerte ein gigantischer Bass aus überdimensionierten Boxen. Ich spüre, wie die Aufregung dieser Menschenmenge auf mich überschwappt, die Zuschauer wissen ja, dass wir um alles fahren, um den Sieg, um das Gelbe Trikot, um unser Leben. Und sie hoffen auf ihren Matador, auf Mark Cavendish, das reißt sie mit. Uns natürlich auch. Und auf einmal fällt es mir leichter, im schweren Gang die Steigung hinaufzujagen.
Auf dem letzten Kilometer gibt es einen Angriff von Fabian Cancellara, dem viermaligen Zeitfahr-Weltmeister und Klassiker-Champion aus der Schweiz. Das ist ein heftiger Antritt, Cancellara hat schnell einen satten Vorsprung. Gleichzeitig haben sich schon die Sprintzüge von Cavendishs Omega-Pharma-Quick-Step-Team, von André Greipels Lotto-Belisol-Mannschaft und von meiner Giant-Shimano-Auswahl gruppiert. Doch mit Cancellaras Antritt wird es chaotisch und unübersichtlich. Ich sehe nur, dass wir nun auf einer Straße rasen, die einem begradigten Fluss gleicht, wobei links und rechts Deiche aus Menschenkörpern herausragen.
Gut 300 Meter vor dem Ziel können wir Cancellara stellen. Ich bin glänzend positioniert am Hinterrad von Koen de Kort, der sich an jenem Samstag im Juli selbst übertrifft und mich großartig in Zielnähe chauffiert. Dann aber knallt es im Feld, mitten im schon längst begonnenen finalen Sprint. Cavendish, offenbar deutlich übermotiviert, rammt mit seiner linken Schulter in dem verzweifelten Bemühen, schneller nach ganz vorne zu kommen, den Australier Simon Gerrans. Mit der Folge, dass beide hart auf dem Asphalt aufschlagen. Ein Massensturz kann gerade noch vermieden werden. Ich bekomme davon nur wenig mit, denn der Sturz ereignet sich auf der linken Seite der Straße, ich rase hinter Koen her, der sich rechts einsortiert hat.
Kurz darauf bin ich auf mich allein gestellt, kein Kollege kann mir mehr helfen, das Ziel kommt immer näher, die Tonlage wird immer lauter und schriller. Die Stimmung baut sich auf, als stünde eine Explosion bevor. Und dann, 150 Meter vor dem Ziel, weiß ich, dass nun meine Sekunde kommt. Vor mir sind nur noch der Slowake Peter Sagan und, etwas überraschend, der Litauer Ramunas Navardauskas. Der Weg ist frei, ich fahre 60 Meter im Windschatten von Sagan, dadurch kann ich noch ein bisschen Kraft sparen. Dann jage ich nach vorne, bin plötzlich allein im Wind, ich hämmere auf meine Pedalen im höchsten Gang, die Ziellinie, eben nur verschwommen zu erahnen, ist plötzlich real und direkt vor mir. Links und rechts weder Sagan...
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