Kapitel 2
Verloren im rollenden Rad der Zeit
Katja verharrte benommen in der Haustür. Ihre Mutter schlang den Arm um sie, während Zoe laut zu schluchzen begann. »Uroma? Warum ist Uroma tot? Wo ist sie?«
Eve ließ Katja los und nahm ihre Enkelin auf den Arm. »Uroma ist tot, kleine Elfe. Sie liegt in ihrem Schlafzimmer.«
Eine heftige Schwindelwelle überrollte Katja, so stark wie am Mittag. Unsicher hielt sie sich an einer Kommode fest.
»Kommt erst mal rein«, sagte Evelyn und schnäuzte sich in ihr Taschentuch. »Wir sind alle oben.«
Die Taschen ließen sie stehen, wo sie waren, und stiegen die steilen Treppen hoch bis zur Dachwohnung. Katja schnürte es die Kehle zu, während ihre Tochter hemmungslos weinte und sich an ihre Oma schmiegte.
Apollonias Reich war hell erleuchtet. Die Räume mit den Dachschrägen lagen im warmen Licht der altmodischen Lampen und der Kerzen, die auf Tischen und Kommoden standen. Hier hatte Katja ihr halbes Leben verbracht. Bereits als Kind liebte sie die dicken Teppiche, die ihre Schritte schluckten, die schweren Schränke und Stühle aus dunklem Holz, die Aquarelle an den Wänden, die wurmstichige, mit Ölfarben bemalte Truhe, in der Apollonia ihre Bücher und Halstücher gehortet hatte.
»Pscht«, murmelte Eve unbeholfen und strich Zoe tröstend über die wirren, roten Haare.
»Uroma ...«, stieß die Kleine schluchzend hervor, dann wimmerte sie leise.
Es war still in dem kleinen Wohnzimmer. Tante Gudrun und ihre Kusine Isabelle saßen mit rotgeränderten Augen und feuchtgeweinten Taschentüchern in den Händen auf Apollonias geblümten Samtsofa, während die neunjährige Ida-Marie sichtlich mitgenommen auf dem Teppich zwischen ihren Knien kauerte. Zoe kniete sich sogleich neben sie, und zusammen weinten sie leise vor sich hin.
Katja umarmte ihre Tante und ihre Kusine.
»Gut, dass du da bist«, sagte Gudrun bemüht gefasst.
»Wie ist es passiert?«, flüsterte Katja und ließ sich auf einen der schweren Stühle fallen.
»Es ging ihr den ganzen Tag schon nicht gut«, berichtete Isabelle. »Vor gut einer Stunde ist sie zusammengebrochen mit Schmerzen und Atemnot. Wir haben sofort den Notarzt verständigt ...« Sie schluchzte leise auf.
»Es war ein Herzinfarkt«, stellte Gudrun fest. »Es dauerte nicht lange, bis der Rettungswagen kam, aber man konnte ihr nicht mehr helfen.«
»Wenigstens musste sie nicht lange leiden und starb in ihrem eigenen Bett«, murmelte Evelyn und lief im Zimmer auf und ab.
»Wie bist du so schnell hergekommen?«, fragte Isabelle. »Ich kam erst vor zehn Minuten dazu, dir eine Nachricht aufs Handy zu sprechen.«
»Ach«, murmelte Katja. »Ich war auf dem Weg hierher. Ich erzähle euch später, warum.«
»Mama ist krank und wir machen Ferien hier, vielleicht fahren wir auch noch nach Madagaskar«, trompetete Zoe. »Auf jeden Fall muss ich nicht mehr in die Kita und kann jetzt jeden Tag was Vernünftiges machen.«
Alle starrten sie an. Katja wurde rot. »Ich erklär euch alles später. Es ist nichts Dramatisches.«
»Na, da bin ich aber mal gespannt«, sagte Gudrun in ihrer üblichen Überheblichkeit, sank aber sogleich wieder in sich zusammen.
»Möchte jemand Tee?«, beeilte sich Eve zu fragen.
Schweigend saßen sie beisammen: Die Kerzen flackerten und vor dem Dachfenster begann der zunehmende Mond, am Winterhimmel blass zu leuchten. Katja fröstelte. Selten hatte sie sich unter Menschen so allein gefühlt. Apollonia war für immer gegangen. Katjas Welt war aus dem Gleichgewicht geraten, hing schief in ihren Angeln. Nichts war gut, und sie hatte das brennende Gefühl, als würde nie wieder etwas gut oder unbeschwert sein.
Eve schlich umher und fragte zum wiederholten Mal, ob jemand Tee wolle. Niemand antwortete, sodass sie einfach in Omas Küche ging, Wasser in den Wasserkocher goss und mit Bechern klapperte. Zoe und Ida-Marie stahlen sich zu ihr, als müssten sie es heimlich tun.
»Was geschieht jetzt?«, fragte Katja.
»Wir warten auf den Bestatter«, sagte Isabelle. »Er müsste bald da sein und Oma mitnehmen.«
Katja schreckte plötzlich hoch. »Wo ist August? Um Himmels Willen, ich habe gar nicht gemerkt, dass er fehlt.«
»Er ist bei Apollonia«, sagte Gudrun. »Er hält Totenwache. Das haben wir die letzte Stunde abwechselnd gemacht. Geh nur zu ihm.«
Katja wurde heiß und kalt. Sie fürchtete sich davor, ihre tote Großmutter zu sehen, und sie fürchtete den Anblick ihres Onkels. Sie konnte sich gut vorstellen, dass ihn Apollonias Tod am meisten erschütterte. Sie war seine große Schwester, er hatte fünfundachtzig Jahre mit ihr verbracht. Auch der Gedanke, vorn Stuhl aufzustehen, machte ihr Angst. Wieder drehte sich alles vor ihren Augen und sie zitterte heftig.
»Was ist los?«, fragte Isabelle, die sie argwöhnisch beobachtete.
»Nichts«, sagte Katja und stand abrupt auf. Sie schaffte es aus dem Zimmer, den schmalen Flur entlang zu Omas Schlafzimmer. Die Tür war nur angelehnt. Drinnen brannten viele Kerzen - auf dem Fensterbrett, auf dem Nachtschränkchen, auf der Kommode.
Bei Augusts Anblick zerriss es ihr das Herz. Zusammengesunken saß er auf der Bettkante und hielt die Hand seiner toten Schwester. Sein Brustkorb hob und senkte sich langsam, und beim Nähertreten sah sie, dass ihm stille Tränen über die Wangen liefen.
»Onkel August«, flüsterte sie. Und jetzt konnte auch sie zum ersten Mal weinen. Er hörte sie nicht. »Onkel August.«
Er reagierte nicht. Sie setzte sich neben ihn aufs Bett und schlang ihren Arm um ihn. Fast unmerklich wandte er sich ihr für einen Augenblick zu. Schweigend saßen sie am Totenbett und weinten. Apollonia lag auf der dicken Daunendecke. Die Augen waren geschlossen, als ob sie nur schliefe, und das glänzende silbrige Haar lag aufgefächert auf dem Kopfkissen.
Später kam das Bestattungsunternehmen, kümmerte sich diskret um die Tote und brachte sie weg. Während Eve hilflos umherwanderte und Tee verschüttete, führte Gudrun Onkel August ins Wohnzimmer, wo sie alle zusammensaßen, gefangen in ihrer Trauer wie in einem Kokon.
»Morgen kommt der Bestatter«, sagte Gudrun. »Er bespricht mit uns alle weiteren Schritte, die Formalitäten, die nun nötig sind, und die Beerdigung.«
»Dürfen wir mit auf die Beerdigung?«, fragte Ida-Marie zögerlich.
»Natürlich«, antwortete Katja, »Apollonia war eure Urgroßmutter, natürlich dürft ihr mit.«
Isabelle schoss einen giftigen Blick wie einen Pfeil auf sie ab. »Du hältst dich besser mal zurück, liebe Kusine. Noch habe ich nicht entschieden, ob die Kinder mitdürfen. Zumindest mein Kind. Womöglich wäre es nicht gut für sie.«
»Darf ich mit?«, rief Zoe laut, während Ida-Marie sich nach der Ansage ihrer Mutter sofort wieder in die Ecke neben das Sofa kauerte.
Isabelle starrte Katja mit hochgezogenen Augenbrauen an. Katja erwiderte den Blick mit einem Hauch von Ärger. »Da reden wir morgen drüber, Schatz.«
Zoe zog einen Flunsch, was ihr missbilligende Blicke von Gudrun und Isabelle einbrachte.
»Sie hatte noch so viel vor«, brachte August plötzlich heiser hervor. »Sie hatte noch so viele Ideen.«
Betreten schwiegen alle.
»Was denn?«, fragte Zoe, aber Gudrun brachte sie mit einem »Pscht« schnell zum Verstummen.
Eve zerknüllte ihr Taschentuch. »Ich frage mich nur ... Mutter war doch nicht krank. Also wenigstens bis heute nicht. Wieso passierte das so plötzlich?«
August senkte den Blick.
Gudrun, der nichts entging, sagte in scharfem Ton: »August?«
»War Oma krank? Wusstest du davon?«, fragte Isabelle.
Ihr Onkel seufzte. »Ja, Apollonia war herzkrank. Sie wusste es schon eine ganze Weile.«
Einige Minuten verstrichen, in denen niemand etwas sagte. Sie mussten die Nachricht erst einmal verdauen.
»Warum hat sie uns nichts gesagt?«, fragte Eve dann verzweifelt.
Gudrun fiel ihr barsch ins Wort: »Warum hast du uns nichts gesagt, August? Wir wissen doch, wie starrsinnig Mutter war.«
»Das war nicht sehr nett von dir, Onkel August«, sagte Isabelle.
»Meine Güte!«, brach es aus August heraus. »Hört euch doch einmal selbst zu! Dann wisst ihr, wieso sie euch nichts gesagt hat. Sie wollte dieses ganze Theater vermeiden, das ihr angestellt hättet.«
Alle schwiegen betroffen. Katjas Smartphone piepste.
»Kannst du das Ding nicht abstellen?«, sagte Gudrun verärgert. »Es fiept jetzt zum gefühlt tausendsten Mal. Das gehört sich heute Abend wirklich nicht. Was kriegst du ständig für wichtige Nachrichten?«
»Nur E-Mails von der Firma.« Katja fummelte hektisch an ihrem Handy herum, um den Ton abzustellen.
»Bist du immer noch so abhängig von diesem nervigen Teil?«, fragte Isabelle. »Das ist ja wie eine Sucht. Wir sollten die Mädchen jetzt ins Bett bringen. Meinst du nicht auch? Es ist zehn Uhr. Sie sollten schon lange im Bett sein.«
Ida-Marie stand sofort auf, nur Zoe klammerte sich weinend um Katjas Taille. »Bitte noch nicht, Mama, ich habe Angst, ins Bett zu gehen, es ist so dunkel.«
»Ich bin ja bei dir«, tröstete Katja sie und nahm sie auf den Arm. »Sag Gute Nacht zu Oma, Tante Gudrun und Onkel August.«
»Nacht«, murmelte Zoe, ohne die drei anzusehen. Sie schmiegte ihr Gesicht an Katjas Schulter.
Zusammen mit Isabelle und Ida-Marie gingen sie die enge Treppe hinunter. In der ersten Etage blieben sie im Halbdunkel stehen - keine wusste, was sie sagen sollte. Als Kinder waren sie sich sehr nah gewesen, aber das war lange her.
»August hat recht«, murmelte Isabelle. »Sie hatte noch so viel vor.«
»Ja, aber was denn?«, fragte Katja...