August
Die Hochzeit des preisgekrönten Rappers MC Flix fand auf einer alten Burgruine mitten im Pfälzerwald statt. Es war August, und durch die eingefallene Decke der Ruine sah man einen samtigen Abendhimmel.
Im ehemaligen Burgsaal drängten sich dreihundert Gäste auf dem mit Moos überwachsenen Steinboden. Die halb verfallenen Mauern standen in bizarrem Kontrast zu den grellbunten Luftballons, die in der heißen, stickigen Luft stillzustehen schienen.
MC Flix und seine Braut - sie trug ein pinkfarbenes Minikleid, das mit schimmernden Perlen bestickt war - tanzten allein auf einer kleinen Bühne zu den berühmtesten Songs des Rappers, umgeben von einer auf und ab wogenden Masse anderer Tänzer und von Leuten, die versuchten, zum Buffet durchzukommen.
Clara Liebrecht und ihr Großvater Johann standen etwas abseits an eine kühle Felsmauer gelehnt und betrachteten das ausgelassene Treiben. Neben ihnen stand ein Baum mitten im Saal, seine Wurzeln hatten längst die Steinfliesen durchbrochen und zerstört. Clara kam sich vor wie im Märchen, fragte sich allerdings auch, ob der Trubel ihrem Großvater, der immerhin schon neunundsiebzig war, nicht zu viel wurde.
»Unsinn«, sagte Johann schmunzelnd. Er war noch immer ein stattlicher Mann und in seinem schwarzen Anzug und mit dem weißen Bart recht gutaussehend. »Ich führe inzwischen so ein zurückgezogenes Leben, dass mich ein bisschen Lärm und Trubel zur Abwechslung nicht abschreckt. Und auch dir tut es gut, mal aus deinem Einerlei herauszukommen. Dein Leben ist viel zu eintönig und einsam für dein Alter.«
Clara zuckte die Achseln; ihr Großvater hatte recht. Sie war zweiunddreißig und wohnte mit ihm zusammen, nicht weit von hier, in einem alten Forsthaus, das zu einem reinen Wohnhaus umfunktioniert worden war.
In diesem Moment nahm Johann sie am Ellbogen und sie spürte, wie er seine Aufmerksamkeit auf einen Mann richtete, der auf sie zu kam.
»Hallo, wen haben wir denn da?«, fragte Johann wohlwollend. »Ein Gesicht, das mir bekannt vorkommt zwischen all dem jungen Gemüse. Ihren Namen habe ich leider vergessen.«
Der Mann war ungefähr zwei oder drei Jahre älter als Clara. Auch er trug einen eleganten Anzug; er hatte dunkles Haar und ungewöhnlich grüne Augen, deren Farbe an Moos erinnerte. Kurz nachdem er ihrem Großvater die Hand gereicht hatte, blieb sein Blick an Clara hängen, und sie merkte, wie er ihr kastanienbraunes kinnlanges Haar und ihr schwarzes Seidenkleid betrachtete. Er lächelte ihr zu.
»Ich bin Marius Richter. Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Herr Liebrecht. Wie lange ist es her?«
»Jahre, Jahrzehnte«, seufzte Johann. »Das ist meine Enkelin Clara.«
»Hallo«, sagte Clara. Marius gab auch ihr die Hand, lächelte und nahm sie einen Moment mit seinem moosgrünen Blick gefangen. Etwas verwirrt und trotzdem von ihm angezogen, schob sie sich ihre Clutch unter den Arm.
»Wir kennen uns von früher, als ich noch aktiv auf der Bühne stand«, klärte Johann Clara auf. »Marius ist Musikjournalist. Ich wusste gar nicht, dass Sie mit MC Flix bekannt sind, Marius.«
»MC Flix ist der Größte in seiner Branche. An ihm führt kein Weg vorbei. Ich habe schon öfter über ihn geschrieben. Ich erinnere mich noch gut an das außergewöhnliche Stück, das Sie zusammen mit ihm gesungen haben«, sagte Marius, und Clara sah wirkliche Begeisterung in seinen Augen leuchten. »MC Flix featuring Johann Liebrecht. Ein hartgesottener Rapper mit einem Vorstrafenregister so lang wie eine Rolle Tesafilm singt mit einem seit Jahrzehnten berühmten Sänger, der Opernstücke populär machte.«
»Die Macht der Liebe«, schwärmte Clara. »Keiner hätte MC einen solch gefühlvollen Titel zugetraut. Wie er mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs rappte und es schaffte, nicht allzu schlimme Schimpfwörter zu gebrauchen - und wie du mit deiner wundervollen Stimme den Refrain dazu gesungen hast, Opa, das werde ich nie vergessen. Ich höre mir das Lied auch heute noch immer wieder an.«
Ihr Großvater lächelte gerührt. »Ja, das war eine schöne Zeit. Aber lange vorbei. Wollt ihr nicht ein bisschen tanzen, ihr zwei? Mischt euch unters Volk.«
Marius sah sie an, als sei er der Vorstellung nicht abgeneigt, doch Clara wandte sich an Johann. »Ich möchte nicht, dass du allein hier herumstehst, Opa.«
Johann winkte ab. »Ach was. Ich schlage mich in der Zeit zum Buffet durch.«
»Okay.«
Sie musste nicht lange überredet werden, und schon nahm Marius sie an der Hand und führte sie in die Menge der Tanzenden hinein, die sich ekstatisch zur Musik bewegten, die Texte mitschrien, mit den Armen fuchtelten und auf und ab hüpften. Musikmanager im reifen Alter tanzten Haut an Haut mit aufgetakelten jungen Sternchen, die auf sich aufmerksam machen wollten.
Dann folgte ein Gruppentanz, und Marius und Clara fügten sich in die zwei Reihen ein, die sich gegenüberstanden und sich, abwechselnd klatschend und die Arme hochreißend, aufeinander zu und voneinander weg bewegten wie Meereswogen. So bizarr Clara die Situation vorkam, bereitete es ihr doch auch großen Spaß. Nach einer Viertelstunde dieser Art des Tanzens war sie jedoch nicht traurig, als wieder eine Ballade gespielt wurde, denn sie war ganz schön außer Atem.
Marius sagte etwas zu ihr, was sie unmöglich verstehen konnte. Neben ihnen wurde Champagner verschüttet und Leute mit glasigen Augen stolperten durch die Pfütze. In einer Felsnische drängten sich zwei Jugendliche zusammen und küssten sich gierig. Ein himbeerfarbener Luftballon, der über ihnen schwebte, platzte plötzlich, doch der Knall ging in dem alles übertönenden Lärm unter.
Marius hielt sie eng an sich gedrückt. Clara gab sich ganz der Musik und seiner Nähe hin. Er hatte ein markantes Gesicht und wenn seine moosgrünen Augen sie streiften, lächelte er sie an. Sein Blick war fast schon verschwörerisch. Sie hatte das Gefühl, dass dies hier weder seine noch ihre Welt war.
Die Musik wurde immer lauter, zuerst schleuderte die Braut ihren pinkfarbenen Schleier durch die Luft, dann flogen andere Kleidungsstücke umher. Die achtzigjährige Oma der Braut nahm ihr lila Hütchen ab und warf es wie einen Brautstrauß über die Köpfe hinweg. Die Menge feuerte sie an. Versteckt angebrachte Lichter blitzten plötzlich grellgrün und feuerrot durch die Burgruine. Die Menge johlte vor Begeisterung.
»Ich kann nicht mehr«, meinte Marius irgendwann. Clara las die Worte eher von seinen Lippen ab, als dass sie sie verstand. Er war verschwitzt und lockerte seine Krawatte. »Wollen wir rausgehen?«
Clara nickte dankbar und ließ sich von ihm an der Hand durch das Gedränge führen. Ihr Kopf glühte von der Hitze und der Bewegung. Gleichzeitig kribbelte ihre Haut vor Erwartung. Sie war aufgeregt, gleich mit diesem attraktiven Mann allein zu sein.
Im Vorbeigehen nahm er zwei Champagnerflöten vom Tablett einer Bedienung. Draußen vor den Burgmauern war die Luft milder, und einzelne Sterne erschienen am inzwischen tintenschwarzen Himmel.
»Puh«, sagte er, als sie sich im hohen Gras gegenüberstanden und sich zuprosteten, »ganz schön laut und voll und heiß da drinnen, nicht wahr?«
»Eine richtig rauschende Party«, stimmte sie lächelnd zu.
»Wollen wir uns setzen?« Er legte ihr die Hand auf den Rücken und führte sie zu einer verwitterten Holzbank am Rand der Wiese. Schweigend schauten sie in den dichten Wald, der sich hügelabwärts erstreckte, in abendlicher Dunkelheit versunken.
»Sie scheinen meinen Großvater schon lange zu kennen«, sagte sie und hörte selbst, wie ihre Stimme in der klaren Luft, fernab des Lärms, befangen klang.
Marius nickte. »Ja. Ich habe vor zehn, fünfzehn Jahren, als seine Karriere noch auf ihrem Höhepunkt war, oft über ihn geschrieben. Artikel über seine Konzerte und Auftritte. Ich habe ihn auch zwei- oder dreimal interviewt. Ich war damals noch blutjung, aber Ihr Großvater gab mir eine Chance, mich zu beweisen. Das war sehr nett von ihm. Er ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Er war immer sehr freundlich und offen zu mir, aber . es umgab ihn auch etwas Geheimnisvolles.«
Sie wandte sich ihm zu und schaute ihm in die Augen. Das Knacken der Tiere im Unterholz schien plötzlich näher als die laute Musik in der Burg. »Etwas Geheimnisvolles?«
»Ja«, sagte er leise. »Wissen Sie, was ich meine?«
Sie konnte seinem intensiven Blick nicht mehr standhalten und sah in den dunklen Wald. »Hm . Vielleicht umgibt jede Berühmtheit etwas Geheimnisvolles. Kein Künstler möchte alles von sich preisgeben.«
Marius lachte leise. »Ich verstehe schon, als loyale Enkelin möchten Sie natürlich auch nichts über Ihren Großvater ausplaudern und die Familiengeheimnisse lieber für sich behalten.«
Clara riss einen Grashalm ab und verknotete ihn. Ihr war klar, dass Marius nur Smalltalk betrieb, aber mit dem Begriff Familiengeheimnisse hatte er einen wunden Punkt...