Schweitzer Fachinformationen
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Sie war schon vieles in ihrem Leben. Bankkauffrau, Ehefrau, Mutter, Floristin, Café-Besitzerin, Supermarktkassiererin. Morgen wird sie Mörderin.
Claudia Hilser starrte in die Leere der Gänge zwischen den Regalen und wunderte sich über die Beiläufigkeit ihres Gedankens. In ihrer Aufzählung wirkte das Wort Mörderin überraschend unspektakulär. Längst hatte es seinen Schrecken für sie verloren. Der Anblick eines Jungen riss sie aus ihren Gedanken. Langsam schlenderte er den Gang zwischen den Süßigkeiten entlang. Er war ein eher unscheinbarer Typ mit straßenköterblonden Haaren, vielleicht siebzehn, achtzehn Jahre alt. Er trug eine schwarze Adidas-Trainingshose, ein T-Shirt im Camouflage-Look, über dem eine graue Eastpack-Tasche hing, und erinnerte Claudia Hilser an ihren Sohn. Eine Frau erschien an ihrer Kasse und legte die Produkte aus dem Einkaufswagen auf das Laufband. Hilser scannte das Shampoo, den WC-Reiniger, den Fleischsalat, den Gouda in Scheiben, den Ketchup und das Toastbrot.
»Eine Marlboro Light noch!«, sagte die Kundin mit kratziger Stimme, während sie ihre Einkäufe in einem roten Stoffbeutel verstaute. Hilser nickte, schloss das Zigarettenfach hinter sich auf, zog die gewünschte Schachtel heraus und scannte sie ebenfalls.
»Dann macht es vierzehn vierzig.«
Während die Finger der Kundin mit dem abgeblätterten, türkisfarbenen Nagellack einen Zehneuroschein und ein paar Münzen aus dem rosa Plüschportemonnaie fischten, richtete Hilser ihren Blick wieder auf den Jungen. Als hätte sie es geahnt, ließ dieser geschickt und schnell eine Packung Kaffee in seiner Tasche verschwinden. Er sah sich nicht einmal um, ob ihn jemand dabei beobachten konnte. Professionell, dachte sie.
»Hallo!« Die Hand mit dem Geld wedelte aufreizend vor ihrem Gesicht. Claudia Hilser blickte ihre Kundin irritiert an und nahm das Geld entgegen. Schnell addierte sie den Wert der Münzen.
»Danke! Einen schönen Tag!«, sagte sie und rang sich noch ein Lächeln ab.
»Dir auch!«, erwiderte die Kundin, und während sie Richtung Ausgang ging, murmelte sie vor sich hin: »Schöner Tag . na meinetwegen, wir können's ja versuchen.«
Claudia Hilser sah gleich wieder zu dem Gang herüber. Der Junge kam auf sie zu. Sie überlegte, was sie machen sollte. Die anderen Kassen waren nicht besetzt, und offenbar hatte keiner der Kollegen etwas mitbekommen. Die Tasche des Jungen war nicht sehr groß, viel konnte er nicht geklaut haben. Sollte sie seine Tat aufdecken? John, den Filialleiter, rufen? Es war ihr letzter Tag, ihre Zeit an diesem Ort war vorbei. Eine angehende Mörderin konnte doch keinen harmlosen Ladendieb anzeigen. Der Junge erreichte ihre Kasse, legte einen Schokoriegel auf das Laufband. Sie sah ihm in seine blaugrünen Augen. Genau wie Felix, dachte sie.
Unaufhörlich prasselte der Regen auf den Hamburger Asphalt. Die dicken Wasserfäden glitzerten in den Lichtkegeln der Autoscheinwerfer. Schwerfällig schob sich der Feierabendverkehr über die vierspurige Straße. Claudia Hilser stand zwischen dicht gedrängten Menschen unter dem Dach der Haltestelle. Den bunten Blumenstrauß und den Präsentkorb, der unter der durchsichtigen Folie mit Premium-Produkten des Supermarktes gefüllt war, aus denen ein gerahmtes Foto von ihren Kolleginnen mit ihr in der Mitte hervorragte, hielt sie eng am Körper. John hatte ein paar schöne Sätze zu ihrem Abschied gesprochen, und Nuran hatte sie eingeladen, wann immer sie wollte, mit ihr ins Sommerhaus ihrer Eltern am Bosporus zu reisen. Mit ihr hatte sie sich immer am besten verstanden, meist sogar ohne Worte. Nur knapp zwei Jahre hatte Hilser in dem Supermarkt gearbeitet. Das Arbeitsklima war angenehm gewesen und John ein fairer Chef. Alle waren von ihrer Entscheidung überrascht gewesen, und auf ihre Fragen, was sie denn jetzt vorhabe, hatte sie keine Antwort geben können. Eine gute Lügnerin war sie nie gewesen, und die Wahrheit war nun mal ganz allein ihre Angelegenheit.
Der voll besetzte Bus hielt direkt vor ihr. Nur wenige Fahrgäste stiegen aus, und Hilser glitt mit der Menschentraube hinein. Der spärliche Raum wurde einigermaßen gerecht verteilt, während der Kapitän sein Schiff wieder zurück in die träge Masse der Blechkarossen manövrierte. Zwischen lauter Körpern und angestrengten Gesichtern fiel Hilsers Blick auf eine Frau, deren Lidschatten zerlaufen war. Hilser fragte sich, ob der Regen oder Tränen dafür verantwortlich waren, denn die Frau blickte traurig drein. Seit einiger Zeit nahm Claudia Hilser ihre Umgebung mit anderen Augen wahr, fragte sich, woher die Menschen gerade kamen und wohin ihre Wege sie wohl führten. Wie sahen die Leben der anderen aus? Sie musste wieder an den Jungen denken und freute sich, dass sie ihn nicht bloßgestellt hatte. Aus irgendeinem Grund glaubte sie, dass er kein schlechter Kerl war. Vielleicht weil sie das auch von ihrem Felix geglaubt hatte. Sie gönnte ihm den kleinen Gesetzesbruch. Geld hatte man in dem Alter sowieso immer zu wenig. Vielleicht würde er jetzt zu Hause gerade einen Kaffee zubereiten. Mit einem Kumpel oder seiner Freundin zusammen. Sie hoffte für ihn, dass er eine Arbeit hatte, zumindest eine Ausbildung machte. Felix hatte sein BWL-Studium abgebrochen. Der Gedanke versetzte ihr wie immer einen Stich. Es war der Anfang vom Ende gewesen. Der Bus hielt an der nächsten Station, und die Frau mit den traurigen Augen stieg aus. Durch die Wasserströme, die die Scheibe hinunterliefen, sah Hilser, wie sie durch den Regen huschte und die rote Ampel an der Kreuzung übersah oder ignorierte. Ein bremsender Wagen rutschte auf dem nassen Asphalt bedrohlich auf die Frau zu. Hilser hielt den Atem an. Im letzten Moment kam der Wagen zum Stehen. Erleichtert ließ Hilser die Luft heraus. Der Bus setzte seine Fahrt fort. Sie konnte noch sehen, wie die verunsicherte Frau zurück an den Straßenrand schlich, während ein Mann seinen Kopf aus dem Fenster des Wagens in den strömenden Regen schob, wild gestikulierte und schimpfte. Über die Lautsprecher kündigte eine weibliche Stimme freundlich die nächste Station an.
Sie stellte den Korb auf den schmalen, wackeligen Kiefernholztisch. Unzählige kleine Regentropfen perlten von der durchsichtigen Folie. Den üppigen Blumenstrauß legte sie daneben und setzte sich auf den einzigen Stuhl in ihrer kleinen Küche. Der Strauß war schön zusammengestellt und gut gebunden. Sie hätte ihn ähnlich gestaltet. Die Zeit als Floristin war die schönste gewesen, dachte sie. Die Arbeit hatte ihr Spaß gemacht, ihre Chefin war okay gewesen, und mit Gaby hatte sie sich gleich angefreundet. Felix ging in die Grundschule, und wenn sie ihn von der Nachmittagsbetreuung abholte, haben sie immer etwas zusammen unternommen, sind Eis essen gegangen oder ins Kino oder in die Bücherei. Sie konnte sich nicht viel leisten, aber fühlte sich frei und war zufrieden.
Was sollte sie mit dem Strauß machen? Eine Vase besaß sie nicht, solche Dinge spielten in ihrem Leben keine Rolle mehr. Auch der prall gefüllte Korb wirkte hier wie ein Fremdkörper. Sie wischte sich die nassen Haare aus der Stirn, griff sich das Foto mit ihren Kolleginnen und betrachtete es. Ein gutes Team waren sie gewesen, und der Abschied war ihr schwerer gefallen, als sie gedacht hatte.
Sie bekam Lust auf eine Zigarette und überlegte, ob sie sich eine gönnen konnte, schließlich hatte sie das Rauchen streng reduziert. Diese Einschränkung war Teil ihres Fitnessprogramms, dem sie sich seit drei Monaten unterzog. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie gejoggt, und es hatte sie gehörige Überwindung gekostet. Schwerfällig hatte sie ihren untrainierten Körper durch die Straßen ihres Viertels geschleppt. Fahrradfahren hingegen war ihr leichtgefallen, das hatte sie als Kind schon gemocht. Gymnastik und Krafttraining in den eigenen vier Wänden waren auch kein Problem gewesen. Langsam hatte sie sich gesteigert, und heute fiel ihr alles leichter, joggte sie fast leichtfüßig und ohne Seitenstechen. Sie brauchte einen leistungsfähigen Körper und starke Nerven für die Umsetzung ihres Plans. Sie verkniff sich die Zigarette.
Die Spiegeltür des Kleiderschranks hing ein wenig schief in ihren Angeln. Claudia Hilser hatte dieses Möbel aus Pressspan und cremefarbenem Furnier nie gemocht, es aber kostenlos von ihrem Vormieter übernehmen können, und da diese Wohnung nur eine Art Transitraum für sie war, hatte sie das Angebot angenommen. Sie betrachtete die Frau im Spiegel. Müde und angespannt sah sie aus. Konnte man ihr das traurige Leben ansehen? Möglicherweise. Sicher aber nicht die zukünftige Mörderin. Hilser schlüpfte aus der vom Regen durchnässten Bluse, öffnete behutsam die Schranktür, holte einen Bügel heraus, schob ihn in das dünne Textil und hängte es über den Glasrahmen, in dem eine Collage von mehreren Fotos aus Felix' Kindheit und Jugend sie an die gute Zeit in ihrem Leben erinnerte.
Einem inneren Impuls folgend, ging sie zurück zum Schrank, stellte sich auf die Zehenspitzen, streckte sich und griff ins obere Regal zwischen die Handtuchstapel. Dahinter ertastete sie das kalte Metall, umfasste den geriffelten Kunststoffgriff und zog die Pistole vorsichtig heraus. Mit einem weiteren Griff holte sie den Karton mit der Munition, dem Magazin und dem Schalldämpfer hervor. Dann ließ sie sich auf dem Bett nieder. Sie hielt die Waffe in der Hand, ihr Griff wurde fester. Sie übte Entschlossenheit. Hundertmal hatte sie sich den Moment vorgestellt, in dem sie abdrücken müsste, und wusste, dass es nicht leicht werden würde. Trotzdem zweifelte sie keine Sekunde daran, dass sie es schaffen würde. Sie schraubte den Schalldämpfer auf die Mündung, schob das...
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