Schweitzer Fachinformationen
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Sonntagabend
Der Vollmond tauchte das Zimmer in fahles blaues Licht. Lars Lutteroth lag im Bett neben seiner schlafenden Frau und betrachtete ihr Gesicht. Ruhig und entspannt atmete sie durch den leicht geöffneten Mund. Jeder Zug um die weichen, vollen Lippen herum war ihm vertraut, jede der wenigen feinen Falten hatte er entstehen sehen, ohne es wahrzunehmen. Sarah war intelligent und selbstbewusst. Ein angenehmer Mensch. Ohne Launen, immer verständnisvoll. Das Leben mit ihr war leicht. Offenbar passten sie gut zueinander. Und sie liebte ihn, jedenfalls schien es ihm so. Sie war eine gute Mutter, und sie passte perfekt in seine Familie, sein Vater hatte sie geradezu verehrt, sein Vater, der Patriarch. Warum hatte es immer so wichtig geschienen, ihm alles recht zu machen? Warum hatte er diese Macht gehabt über alle Menschen in seiner Umgebung?
Die Gedanken ließen Lars Lutteroth keine Ruhe finden. Leise erhob er sich und schlich aus dem Schlafzimmer. Vorbei an den Zimmern der Töchter, die Treppe hinunter in den großen Wohnraum mit der offenen Küche. Er schenkte sich einen Single Malt ein und stellte sich vor das große Schwarz-Weiß-Foto seines Vaters mit seiner Mutter, das in einem schlichten Holzrahmen unter Glas an der Wand hing. Ein schwarzes Samtband war über die untere rechte Ecke gespannt. Er fand den Trauerflor unnötig, aber Sarah hatte darauf bestanden.
Lars Lutteroth betrachtete den alten Mann, der weise und staatsmännisch wirkte. Das hatte sein Vater draufgehabt: in Sekundenschnelle eine beeindruckende Pose einzunehmen, wenn ein Fotograf auf den Auslöser drückte. Seine Mutter stand etwas versetzt hinter ihm und lächelte sanft. Die kluge Schwedin, die ihre Ziele auf die leise Art erreichte. Lars Lutteroth hob sein Glas und prostete ihnen zu. Dann setzte er sich in das Mondlicht, das durch die breite Fensterfront fiel. Er trank einen Schluck von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Der milde Geschmack des Whiskys breitete sich in seinem Mund aus. Er lehnte sich zurück, zufrieden. Er fühlte sich wohl in dem Bewusstsein, dass er dies alles sehr bald hinter sich lassen würde.
Auf einmal entdeckte er vor sich ein Paar Augen, das ihn aus der Dunkelheit heraus anfunkelte. Ein Rehkitz stand im Garten vor der Terrasse und sah durch die Fensterscheibe hinein, ein Rehkitz in der Stadt. Es musste sich aus dem nahen Naturschutzgebiet im Alstertal verirrt haben. Das scheue wilde Tier würde jeden Augenblick weglaufen. Fasziniert starrte er es an. Regungslos stand das anmutige Wesen vor ihm. Ein Moment von mystischer Kraft. Ihm erschien diese Begegnung wie ein Zeichen. Tatendrang und Aufbruchsstimmung erfüllten ihn. Er wollte nicht mehr warten.
Ein satter Knall. Ein harter Schlag. Ein gutes Gefühl. Die Linke, die Rechte. Die Linke, die Rechte. Immer schneller trommelten seine Fäuste in den Boxhandschuhen gegen das Kunstleder des ächzenden Sandsacks. Die Hände schmerzten, der Puls war hoch, der Schweiß rann seinen Körper herunter. Er war ganz Rhythmus und Kraft.
»Ey, Kommissar, machst du Sparring mit mir?«
Die Worte drangen kaum zu ihm durch.
»Ey, Kommissar!«
Er hielt kurz inne, setzte noch zwei harte Schläge, dann drehte er sich um. Vor ihm stand ein junger Mann, schlank, aber muskulös.
»Mein Partner ist nicht gekommen. Machst du Sparring mit mir?«
Er brauchte einen Moment, bis er zu Atem kam. Er sah dem Typen in die dunklen Augen.
»Tom. Ich heiße Tom, nicht Kommissar.«
Der Typ nickte ein paarmal und breitete entschuldigend die Arme aus.
»Okay, Mann. Tom. Alles klar!«
Kriminaloberkommissar Tom Simon neigte seinen Kopf in beide Richtungen, um im Nacken nicht steif zu werden, dabei musterte er den jungen Burschen.
»Wer bist du?«
»Chris.«
»Was ist dein Beruf, Chris? Wenn du überhaupt schon arbeitest?«
»Schrauber, ich bin Schrauber.«
Tom deutete einen Schlag gegen die Brust von Chris an.
»Ey, Schrauber, machst du Sparring mit mir? Ey, Schrauber!«
Chris lachte unsicher.
»Mann, ich wusste ja nicht, wie du heißt. Ich habe nur gehört, dass dich einige hier den Kommissar nennen.«
»Jetzt weißt du es.«
»Okay, Tom! Und - steigst du in den Ring mit mir?«
Tom zögerte und ließ seinen Blick durch das Dock One schweifen. Für die späte Stunde herrschte erstaunlich viel Betrieb. Das Dock One war einer der wenigen Boxclubs, in dem man jederzeit trainieren konnte. Jimmy, der Besitzer, Trainer und die Seele des kleinen Clubs am Hafen, war immer da und schloss nie vor Mitternacht. Tom überlegte. Sparring war eine Sache des Vertrauens. Er kannte den Jungen nicht, wusste nicht, ob er sich darauf verlassen konnte, dass dieser die Gesetze des Sparrings respektieren würde. Chris war gut zwanzig Jahre jünger als er und ziemlich austrainiert. Tom verstand selbst nicht, welcher Teufel ihn ritt, als er nickte.
Sie schlug die Augen auf und suchte in der Dunkelheit den kleinen Wecker auf ihrem Nachttisch. Die leuchtenden Zeiger standen auf kurz vor halb zwölf. Sie schloss die Augen sofort wieder, um schnell zurückzufinden in den Schlaf, ohne den sie am nächsten Morgen kaum zu gebrauchen sein würde. Doch sie spürte, dass etwas anders war. Sie öffnete die Augen und drehte sich zur Seite. Neben ihr war das Bett leer. Im blassen Mondlicht konnte sie erkennen, dass die Decke aufgeschlagen war. Sie holte die kleinen Stöpsel aus ihren Ohren, lauschte in die Nacht und wartete, ob sie ihren Mann irgendwo im Haus hörte. Doch alles blieb still. Sarah Lutteroth knipste die Nachttischlampe an, legte die Stöpsel neben den Wecker und stand auf. Leise ging sie an den Zimmern der Töchter vorbei, öffnete die Tür zum Arbeitszimmer ihres Mannes. Er war nicht da. Sie ging die Treppe hinunter.
»Lars?«, fragte sie unsicher in die Dunkelheit, in der sie die vertraute Umgebung nur schemenhaft erkennen konnte. Stille. Eine Angst beschlich sie, die sie so nicht kannte. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug.
»Lars?« Keine Antwort.
Auf dem langen Holztisch vor der Fensterfront stand ein leeres Whiskyglas. Sie war sicher, dass ihr Mann am Abend keinen Whisky getrunken hatte. Sie blickte in den Garten und bemerkte, dass der Mond seine perfekte Rundung erreicht hatte. Vollmond. Ihr wurde unheimlich zumute. Vorbei an der offenen Küchenzeile ging sie in den Flur, sah kurz in die Toilette und öffnete die Tür zum Gästezimmer. Keine Spur von ihrem Mann. Hatte er das Haus verlassen, um diese Uhrzeit? Sie schaute auf das kleine Regal neben der Tür, wo sie ihre Schlüssel abzulegen pflegten, und stellte fest, dass sein Schlüsselbund fehlte. Irritiert ging Sarah Lutteroth zur Kellertreppe, schaltete das Licht an und stieg die Stufen hinab. Sie mochte diesen Ort nicht mit seiner niedrigen Decke und den kahlen Wänden. Hier fühlte sie sich unwohl und hielt sich immer so kurz wie möglich auf. Sie fröstelte, obwohl es immer noch fast so warm war wie am Tag. Sie legte ihre Hand auf den Griff der Tür zur Garage und spürte, dass sie zitterte. Als sie die Tür öffnete, ließ der Bewegungsmelder die LED-Röhren aufflackern, die den Raum in kaltes, grelles Licht tauchten. Der Audi ihres Mannes war weg.
Schmatzend und glucksend schlug das schwarze Elbwasser gegen die Kaimauer. Tom setzte sich auf einen Poller und presste die kalte Bierflasche gegen die Stirn. Sein Schädel brummte noch ein wenig, und er spürte jeden Treffer, den Chris auf seinem Körper hatte platzieren können. Aber das war okay, er war bereit gewesen für den Schmerz. Tom ließ das kühle Bier seine Kehle hinunterlaufen, starrte auf die unzähligen Lichter des Hafens und lauschte den metallischen Klängen; Container wurden verladen, Schiffskörper instand gesetzt, der Hafen war immer in Bewegung. Tom fühlte sich wohl, genoss die körperliche Erschöpfung. Die laue Mainacht roch schon nach Sommer. Es war zu warm für diese Jahreszeit. Viel zu warm.
Hinter sich hörte er Schritte, die sich näherten. Kurz spürte er den Drang, sich umzudrehen, aber der Klang der Schritte war ihm vertraut. Lässig, leicht schlurfend, in aller Ruhe. Tom brauchte den Kopf nicht zu wenden.
»Du hast dich gut gehalten«, sagte Jimmy und setzte sich mit einer Flasche Bier auf den Poller neben ihm. Er stellte seine Tasche zu seinen Füßen, holte eine Schachtel Zigaretten heraus und zündete sich eine an.
»Erstaunlich gut«, fügte er hinzu.
»Für mein Alter?«
»Dafür, dass du lange nicht trainiert hast.«
»Du rauchst wieder?«, fragte Tom.
Jimmy sog das Nikotin tief ein. »Ging nicht anders«, murmelte er mehr zu sich als zu Tom, »Chris ist ein guter Kämpfer. Er wird bald seinen ersten Kampf fürs Dock One machen«, wechselte er das Thema.
»Er hat eine gute Technik und ist verdammt schnell. Er hat sich ganz schön zurückgehalten«, sagte Tom.
»Aber nicht nur wegen dir. Ich hab ihm das gesagt, weil er manchmal zu schnell wird. Er verliert dann den Überblick und läuft in Fallen. Du hast ihn auch in einige gelockt.«
Tom schüttelte den Kopf. »Ich hab nur versucht, mich nicht zu blamieren.«
In ihren Trainingsanzügen saßen sie da, blickten auf das schwarze Wasser, auf dessen Wellen die Lichtreflexionen tanzten.
»Warum ging es nicht anders?«, fragte Tom.
Jimmy blies den Rauch in das Licht, das vom Hafen herüberschien.
»Patty ist wieder in der Klinik.«
Ein schwarzer Containerriese schob sich langsam durch den Fluss. Dunkel und mächtig.
»Scheiße!«, sagte Tom.
Jimmy nickte und trank einen kräftigen Schluck.
»Im Januar fing es wieder an. Erst sah es noch so aus, als wenn sie es mit neuen Medikamenten schaffen könnte. Aber dann wurde...
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