Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
EINE GROSSE WASSERLACHE war über Nacht auf unserem Küchenboden aufgetaucht, so leise und unerwartet, als wäre sie ein Trugbild. Leitungswasser war aus einem lecken Rohr unter der Spüle getropft und lautlos in die beiden Stockwerke unter uns hinabgeflossen. Dieser Anblick erwartete uns, als wir am Morgen des neunten Geburtstags unseres Sohnes erwachten. Das war zwar der spektakulärste, aber nicht der einzige Wasserschaden, den wir erlebten. In den Monaten vor und nach diesem Vorfall war ein Sammelsurium an Plastikeimern und Schüsseln zu einem nahezu dauerhaften, von Ort zu Ort wandernden Bestandteil unserer Wohnung geworden, den wir hervorholten, um das Wasser in unterschiedlichen Teilen unseres Heims aufzufangen. Eines Abends, es waren ein paar Monate seit der Überflutung unserer Küche vergangen, bemerkte unser ältester Sohn, dass Wasser aus der Stuckrose in der Mitte unserer Wohnzimmerdecke tropfte. Wir schauten hinauf und erblickten einen verdächtigen, sich ausbreitenden braunen Fleck, während ein Rinnsal aus dem oberen Stockwerk sich seinen Weg über unseren Köpfen bahnte. Wasser findet stets seinen Weg. Meine Söhne und ich holten abermals die Eimer und Schüsseln hervor und legten Handtücher aus, um das Wasser aufzusaugen. Es war, als wollte unsere neue Wohnung uns etwas sagen.
Unsere alte Wohnung im Osten der Stadt hatte mit ihrem paradiesisch anmutenden Verputz aus Reben, Früchten und Blumen, die sich um die Säulen ihrer Fassade rankten, nie diesen Eindruck gemacht. Dort hatten wir zehn Jahre lang gelebt - Mann und Frau, zwei Söhne, zwei Katzen. In all der Zeit war diese Bleibe trotz unserer Schwierigkeiten ständig neutral geblieben. Sie hatte uns nie ihre Anwesenheit spüren lassen oder irgendwelche verhohlenen Gefühle aufgewirbelt. Sie war nichts weiter als ein Behälter, der, wenn überhaupt, wohlwollend die Aufrechterhaltung des Status quo ermöglicht hatte. Unsere neue Wohnung, die näher bei der Schule der Jungs im Westen der Stadt lag, war von Anfang an merkwürdig. Mit ihren Belastungen und Einmischungen brachte sie ständig Warnsignale hervor, die nicht ignoriert werden konnten. Sie intervenierte und erzwang sich die Rolle eines Protagonisten.
Es gibt Dinge, die kann man sehen, und es gibt Dinge, die kann man nur spüren, die fühlt man auf eine andere Art und Weise - als Flüstern im Geiste oder als eine Schwere in den Knochen. Ein Pfropfen Zweifel hatte sich geformt und den alltäglichen Fluss meiner Gedanken bereits seit Wochen gestört. Gleich einem schmierigen Klumpen aus Abfällen hatte seine undeutliche Kontur an Klarheit gewonnen, als wir entlang der Achse der Stadt von Ost nach West zogen. Er hatte die Form des Unglücks. Und nun war er da und verstopfte meine Gedanken, während ich durch die vielen Zimmer unseres extravagant geschnittenen neuen Zuhauses wanderte. Eine kultivierte Leere im Geiste kann Kräuselungen, Strömungen und Risse ermöglichen. Sie kann Dinge an die Oberfläche zerren, die nicht gesehen werden wollen.
Jene frühmorgendliche Begegnung mit einer spiegelglatten Wasserpfütze auf dem Küchenfußboden war das eindeutige Zeichen einer Entzweiung. Etwas war über die Ufer getreten und konnte nicht länger zurückgehalten werden. Nach Jahren unterdrückter Gefühle, unterbewusst ertragen, um ein funktionierendes Familienleben aufrechtzuerhalten, war diese spontane Zurschaustellung, dieser unerbetene Ausbruch - diese Flut - ein Symbol von fast schon hysterischer Deutlichkeit. Sie bat um eine ebenso extreme Antwort, die pflichtgemäß in Form einer plötzlichen, brutalen und endgültigen Trennung dann auch kam. Eine Trennung der Familieneinheit, wobei ein Teil abbrach und die anderen drei Teile zusammenblieben. Mein Mann ging auf Dienstreise und kehrte nie wieder in unser Heim zurück.
Wasser findet stets seinen Weg. Es schlängelt sich durch die Spalten dieses alten Gebäudes. Es sickert durch glatt verputzte und gestrichene Oberflächen. Es erscheint ganz plötzlich als feuchte Schimmelstreifen hoch oben in den Ecken. Es sorgt für bröckelnden Putz an den Außenwänden. Es gab stets eine logische Erklärung, einen Grund, woran es lag. Starker Regen auf unversiegelte Dachziegel; angebohrte oder falsch verlegte Leitungen; verstopfte Abflüsse in überlaufenden Duschen. Die oben in der Dachterrassenwohnung werkelnden Bauarbeiter waren ganz offensichtlich ein schludriger Haufen. Und doch begann die Unbarmherzigkeit dieser verschiedenen Vorfälle sich bedrückend und schwer anzufühlen. Es war, als wollten die Oberflächen der Wohnung sich nicht verschließen; als würde ihre Infrastruktur nicht standhalten. Bei jedem Regen wurde ich nervös. Als die Monate vergingen, spürte ich den Drang, die Spritzer und Flecken zu kartieren, die an der Decke, den Wänden und auf dem Boden zurückgeblieben waren. Wenn ich ihre Topografie beschreiben könnte, wäre es mir dann möglich, eine Karte zu erstellen, um diese kleineren häuslichen Katastrophen zu lesen und zu verstehen?
Ich hatte das stete und unangenehme Gefühl, dass sich hinter diesen Vorfällen Vorsatz verbarg. Ein Vorsatz, der nicht auf den ersten Blick ersichtlich war, sondern durch eine Art Divination allenfalls erahnbar wurde. So wie bei der hydromantischen Methode, bei der man Kräuselungen auf der Wasseroberfläche deutet, bestenfalls vom Mondenschein beleuchtet. Als die Grenzen der Wohnung durchlässig wurden, war Eindämmung keine Möglichkeit mehr, ebenso wenig wie Schweigen. Nichts ließ sich mehr zurückhalten. Äußere Vorfälle, emotionale Wahrheiten, historische Ereignisse, all das würde einen Weg finden, auf sich aufmerksam zu machen.
Als die Wasserlache auf unserem Küchenboden auftauchte, war unsere Ehe bereits kaputt, doch sorgte dieses Ereignis für den letzten Bruch. Im Gegensatz zum steten Tröpfeln der Traurigkeit, an das wir uns beide im Laufe der Jahre gewöhnt und das wir so angenehm ignoriert hatten, war dieser Bruch gewaltig. Die Überflutung nahm eine Krise vorweg, die über die vielen Stunden des Aufwischens hinausging. Eine Krise, für die unsere Wohnung anscheinend ebenfalls Verantwortung trug und die durch ihre ureigenen Rohrleitungen auf die Spitze getrieben worden war. Ich war dankbar für dieses, so schien mir, Zeichen der Solidarität, einen Akt des Mitgefühls, der glücklicherweise keine anhaltenden physischen Schäden hinterließ. Unser eigener Holzboden trocknete schnell, und keine Spur blieb zurück. Die Wohnung unter uns, die den größten Schaden durch das Leck davontrug, war zu dem Zeitpunkt nicht vermietet und stand leer. Die gewaltigen Entfeuchter, die man dort aufstellte, um Wände und Räume zu trocknen, konnten ihrem geräuschvollen Geschäft nachgehen, ohne irgendjemanden zu stören. Im Atelier der Malerin im ersten Stock war das Wasser an der einzigen Wand hinabgelaufen, an der keine Bilder hingen. Wundersamerweise waren die riesigen Gemälde an den anderen beiden Wänden, die sie in den letzten sechs Monaten akribisch komponiert hatte, verschont geblieben. Die kugelförmige Glaslampe im Eingangsbereich des Erdgeschosses, in der sich die letzten Tropfen sammelten, wurde einfach abmontiert und ausgekippt, gleich einem Goldfischglas, das keiner mehr braucht.
»Manchmal bedeutet fließendes Wasser ein trauerndes Haus«, las ich im Internet. »Es besteht ein Überfluss an Gefühlen, die verdrängt werden müssen.« Das Bild, das sich auf der Oberfläche der Wasserpfütze formte, spiegelte nicht bloß ein zerstörtes Heim, sondern auch das Haus an sich. Das Gebäude selbst weinte diese Tränen der Trauer. Es sollte bald zu meinem bestimmenden Thema werden.
Zur gleichen Zeit, als der Wasserschaden die Wohnung heimsuchte, bemerkte ich, wie eindringlich sich mir der Blick aus meinem Fenster bot. Er schien mich anzuziehen, weg von den Schicksalsschlägen, die sich drinnen ereigneten, und hin zu einem weiten Himmel, zu Baumspitzen und Gebäuden, die sich bis zum Horizont erstreckten. Im Laufe der Arbeit in meinen vier Wänden wurde diese Konstellation zum wiederkehrenden Motiv: eine Frauengestalt am Fenster mit dem Rücken zum Betrachter, hinausschauend. Bewegungslos an dieser Schwelle verharrend, der Körper vom Geiste losgelöst, so wie das Innere vom Äußeren getrennt ist. Für das Fenster selbst bildet das Fenster die Grenze.
Die erste Fotografie der Welt, aufgenommen 1826 von Joseph Niépce, zeigte den Ausblick aus seinem Studiofenster. Man erkennt eine verschwommene Anordnung hellgrauer Flächen und Körper, in der Mitte die Schräge eines Daches. 1838, zwölf Jahre später, nahm Louis Daguerre das erste fotografische Abbild eines Menschen auf, indem er den Blick aus seinem Fenster festhielt. Eine ausladende Aussicht führt eine von Bäumen gesäumte Straße hinab, flankiert von imposanten Gebäuden, sonst aber leer bis auf zwei starre, geisterhafte Gestalten. Diese frühen Fotografien waren so etwas wie Grundlagenrecherchen; Untersuchungen wesentlicher Tatsachen, die beim Offensichtlichsten anfingen: dem Blick...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.