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KAPITEL EINS
Tage 4-5 in Gefangenschaft
An Tag 4 lag ich da und plante seinen Tod. In Gedanken erstellte ich eine Liste mit verfügbaren Gegenständen und Umständen, die mir eventuell in die Hände spielten, und dieses strategische Auflisten von Pluspunkten verschaffte mir ein wenig Erleichterung . eine lose Diele, eine rote gestrickte Decke, ein hohes Fenster, freiliegende Deckenbalken, ein Schlüsselloch, mein Zustand .
Meine damaligen Gedanken sind mir heute noch so präsent, als erlebte ich sie erneut, als gingen sie mir gerade zum ersten Mal durch den Kopf. Da ist er wieder, vor der Tür, denke ich, obwohl seither siebzehn Jahre vergangen sind. Vielleicht werden jene Tage für immer meine Gegenwart bleiben, weil mir jede Stunde und jede Sekunde minutiöser Planung das Überleben gesichert hatten. Während jener unauslöschlichen, quälenden Zeit war ich vollkommen auf mich allein gestellt, und aus heutiger Sicht muss ich ohne falschen Stolz zugeben, dass das Endergebnis - mein unbestreitbarer Sieg - ein wahres Meisterwerk war.
An Tag 4 hatte ich bereits einen ganzen Katalog an Pluspunkten sowie den groben Entwurf eines Racheplans fertiggestellt, und das alles ohne Kugelschreiber oder Bleistift, lediglich mithilfe meines mentalen Skizzenblocks, auf dem ich Puzzleteile zu möglichen Lösungen zusammensetzte. Ich war fest entschlossen, sie in die richtige Konstellation zu bringen . eine lose Diele, eine rote gestrickte Decke, ein hohes Fenster, freiliegende Deckenbalken, ein Schlüsselloch, mein Zustand . Wie passt das alles zusammen?
Diese Frage stellte ich mir immer wieder aufs Neue, während ich gleichzeitig nach weiteren Pluspunkten Ausschau hielt. Ach ja, natürlich, der Eimer. Und ja, ja, ja: Die Untermatratze ist neu, er hat noch nicht einmal die Plastikfolie entfernt. Also gut, von vorne, geh noch mal in Ruhe alles durch und finde die Lösung. Freiliegende Deckenbalken, ein Eimer, die Untermatratze, die Plastikfolie, ein hohes Fenster, eine lose Diele, eine rote gestrickte Decke .
Ich ordnete jedem Gegenstand eine Zahl zu, um meiner gedanklichen Tüftelei einen wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen. Eine lose Diele (Pluspunkt #4), eine rote gestrickte Decke (Pluspunkt #5), Plastikfolie . Am frühen Morgen von Tag 4 schien die Sammlung bereits so vollständig zu sein, wie sie es unter den gegebenen Umständen sein konnte, aber mir war klar, dass das nicht reichen würde.
Das Knarren der Kiefernholzdielen vor meiner Gefängniszelle, einem einfachen Zimmer mit Bett, riss mich gegen Mittag aus meiner Grübelei. Er ist dort draußen vor der Tür. Mittagessen. Der Riegel bewegte sich von links nach rechts, der Schlüssel drehte sich im Schloss, und dann stürzte er auch schon herein, ohne den Anstand zu besitzen, für einen Moment auf der Türschwelle zu verharren.
Wie bei allen bisherigen Mahlzeiten stellte er ein Tablett mit inzwischen vertrautem Essen, einem weißen Becher Milch und einer Tasse Wasser in Kindergröße auf meinem Bett ab. Kein Besteck. Die Ei-Speck-Quiche kollidierte mit dem selbstgebackenen Brot auf einem altrosa gemusterten Porzellanteller, auf dem eine Frau mit einem Topf und ein Federhut tragender Mann mit Hund abgebildet waren. Ich hasste diesen Teller mit derart widernatürlicher Intensität, dass ich noch heute bei der Erinnerung daran schaudere. Auf der Rückseite stand »Wedgwood« und »Salvator«. Das wird meine fünfte Mahlzeit, seit ich meine Rettung plane. Ich hasse diesen Teller. Ihn werde ich ebenfalls vernichten. Der Teller, der Becher und die Tasse sahen genauso aus wie jene, die ich an Tag 3 meiner Gefangenschaft zum Frühstück, Mittagessen und Abendessen bekommen hatte. Die ersten beiden Tage hatte ich in einem Transporter verbracht.
»Mehr Wasser?«, fragte er mit seiner schroffen, tiefen, gleichförmigen Stimme.
»Ja, bitte.«
Mit diesem Verhaltensmuster hatte er an Tag 3 begonnen, und ich glaube, damit schob er mein Pläneschmieden erst so richtig an. Die Frage wurde Teil unserer täglichen Routine. Er brachte mir meine Mahlzeit und erkundigte sich, ob ich mehr Wasser wolle, und ich beschloss, von nun an jedes Mal mit Ja zu antworten, auch wenn dieser Ablauf vollkommen unlogisch war. Warum bringt er mir nicht gleich eine größere Tasse Wasser? Was soll diese Ineffizienz? Er geht wieder, schließt die Tür ab, in den Wänden des Flurs gluckern die Wasserleitungen, dann ergießt sich mit einem Spritzen ein Schwall Wasser in ein Waschbecken, irgendwo außerhalb des Bereichs, der durchs Schlüsselloch sichtbar ist. Anschließend kommt er mit einem Plastikbecher voll lauwarmem Wasser zurück. Warum? Eines kann ich heute mit Sicherheit sagen: Das Prinzip hinter den vielen unerklärlichen Handlungen meines Gefängniswärters wird auf ewig ein Rätsel bleiben, genau wie unzählige andere ungelöste Phänomene auf dieser Welt.
»Danke«, sagte ich nach seiner Rückkehr.
Bereits in Stunde 2 von Tag 1 hatte ich den Entschluss gefasst, eine geheuchelte Schulmädchen-Höflichkeit an den Tag zu legen und meinem Kidnapper - einem Mann von etwa Mitte vierzig - Dankbarkeit vorzuspielen. Mitte vierzig müsste hinkommen, er sieht ungefähr so alt aus wie mein Vater. Ich hatte schnell verstanden, wie leicht dieser Kerl zu überlisten war. Obwohl ich erst süße sechzehn Jahre alt war, war ich schlau genug, dieses widerwärtige Monstrum zu besiegen, da war ich mir sicher.
Das Mittagessen an Tag 4 schmeckte genauso wie an Tag 3. Trotzdem: Vielleicht hatten mir die Nährstoffe gefehlt, denn direkt nach dem Essen ging mir auf, dass ich noch über viele weitere Pluspunkte verfügte: Zeit, Geduld, unvergänglichen Hass. Während ich die Milch aus dem schweren Restaurant-Becher trank, fiel mir auf, dass der Eimer, der in meinem Zimmer stand, einen Metallhenkel mit spitz zulaufenden Enden besaß. Ich muss ihn nur abmontieren, dann ist er ein eigener Pluspunkt zusätzlich zum Eimer. Außerdem hatte mich mein Kidnapper in einem oberen Stockwerk des Gebäudes untergebracht und nicht in einem Kellerverließ unter der Erde, wie ich an Tag 1 und 2 befürchtet hatte. Die Baumkrone vor meinem Fenster und die drei Treppen, die er mit mir erklommen hatte, um mich in meine Gefängniszelle zu bringen, verrieten mir, dass ich mich aller Wahrscheinlichkeit nach im dritten Stock befand. Und Höhe betrachtete ich ebenfalls als Pluspunkt.
Seltsam, nicht wahr? Mir war immer noch nicht langweilig an Tag 4. Man sollte meinen, es würde den Verstand in den Wahnsinn treiben, allein in einem verschlossenen Raum herumzusitzen, doch ein solches Schicksal blieb mir erspart. Meine ersten beiden Tage in Gefangenschaft verbrachte ich auf der Straße, und aus irgendeinem gigantischen Versehen oder einer massiven Fehleinschätzung heraus benutzte mein Kidnapper für seine Tat einen einfachen Transporter mit getönten Seitenscheiben. So konnte zwar niemand hinein-, aber ich hinausspähen, was es mir ermöglichte, unsere Route nachzuverfolgen und sie ins Logbuch meines Gedächtnisses einzutragen, mitsamt allen nützlichen oder unnützen Details. Die Aufgabe, wie sich die gewonnenen Daten bestmöglich auf die unauslöschliche Festplatte meines Langzeitgedächtnisses übertragen ließen, beschäftigte mich tagelang.
Wenn man mich heute, siebzehn Jahre später, fragen würde, welche Blumen entlang der Ausfahrt 33 wuchsen, könnte ich antworten: Gänseblümchen, durchmischt mit einer kräftigen Portion Wiesen-Habichtskraut. Ich könnte den Himmel beschreiben, sein dunstiges Blaugrau, das nach und nach in ein schmutziges Schlammbraun überging, und die plötzlichen Wetterveränderungen, zum Beispiel das Gewitter, das genau zwei Minuten und vierundzwanzig Sekunden, nachdem wir an den Blumen vorbeigekommen waren, ausbrach, woraufhin aus der schwarzen Wolkenmasse über uns ein Frühlingshagel auf die Straße herunterprasselte. Ich könnte die erbsengroßen Eiskörner schildern, die meinen Kidnapper zwangen, unter einer Brücke zu halten, dreimal laut »Scheiße« zu sagen, eine Zigarette zu rauchen, die Kippe nach draußen zu schnipsen und die Fahrt dann fortzusetzen, drei Minuten und sechs Sekunden nachdem das erste Hagelkorn auf die Kühlerhaube des unseligen Transporters gefallen war. Ich schnitt die achtundvierzig Stunden Fahrt damals zu einem detaillierten Film zusammen, den ich Tag für Tag abspielte, um jede Minute, jede Sekunde, jedes Einzelbild akribisch zu analysieren und auf Anhaltspunkte und Pluspunkte zu prüfen.
Die Seitenfenster des Transporters und meine sitzende Position, aus der heraus ich mühelos nach draußen blicken konnte, ließen nur eine Schlussfolgerung zu: Der Vollstrecker meiner Entführung musste ein einfältiger Affe auf Autopilot sein, eine menschliche Drohne. Zumal ich bequem auf einem Sessel thronte, der mit Schraubbolzen am Boden des Transporters befestigt war. Es verwundert nicht, dass er zwar häufig über meine rutschende Augenbinde murrte, aber zu faul oder zu zerstreut war, den Stofflappen richtig zuzubinden, weshalb ich unsere Fahrtrichtung mithilfe der vorbeirauschenden Anhaltspunkte ermitteln konnte: Westen.
In der ersten Nacht schlief er vier Stunden und achtzehn Minuten. Ich schlief zwei Stunden und sechs Minuten. Nach zwei Tagen und einer Nacht nahmen wir die Ausfahrt 74. An die demütigenden Toilettenpausen auf verwaisten Rastplätzen möchte ich lieber nicht zurückdenken.
Als wir langsam in die Ausfahrt einbogen, beschloss ich, von nun an sorgsam in Sechzigerschritten die Minuten zu zählen, wobei ich den Platzhalter »Mississippi«...
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