Schweitzer Fachinformationen
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In ihrer faltigen Hand wirkte das Messer riesig.
»Möchtest du auch eine Stulle, Puttchen?«
Den knusprigen Brotlaib an die geblümte Schürze gedrückt, schnitt Amalie geschickt eine fingerdicke Scheibe herunter. »Akki schmiere ich auf jeden Fall etwas für die Fahrt. Man weiß ja nicht, ob ihr unterwegs was bekommt.«
»Das ist lieb von dir, Mama!« Brigitte schob eine Haarnadel in ihren Beehive und lächelte tapfer, ehe sie aufs Neue vergebens versuchte, den Kloß in ihrer Kehle hinunterzuwürgen.
Sie würde ihre Mutter womöglich nie wiedersehen. Aber es musste sein. Heute.
Dieter hatte ihr eine Nachricht zugespielt und ihr eingeschärft, die Aktion unter allen Umständen wie einen harmlosen Ausflug aussehen zu lassen.
Das Knarzen des Küchenstuhls riss Brigitte aus ihren Gedanken. Ihre Mutter legte den sorgsam in ein Leinentuch gewickelten Brotlaib zurück in die Vorratskammer.
Besorgt musterte Amalie ihre Tochter. »Hast du was auf dem Herzen, Puttchen?«
Brigitte umarmte ihre zierliche Mutter und presste sie an sich. Tief sog sie den vertrauten Veilchenduft ein. Wie damals, als sie als kleines Mädchen mit ihr vor den Russen aus Pommern nach Berlin geflohen war.
»Aber Puttchen, was ist nur los mit dir? Ihr fahrt doch nur zwei Tage ins Grüne.« Verlegen zupfte Amalie ihren Blusenkragen zurecht.
Brigitte atmete tief in den Bauch und blinzelte gegen die aufsteigenden Tränen an.
Krachend flog die Küchentür auf, und die Frauen zuckten erschrocken zusammen.
»Mutti! Meinst du, wir brauchen auch noch Badezeug?« Mit roten Wangen stürzte Axel in die Küche und wuchtete seinen Rucksack auf den Holztisch neben die Butterdose.
»Herrgott, Akki! Der ist ja so vollgestopft, dass er aussieht wie ein Kugelfisch.« Lachend wuschelte seine Großmutter ihm durch die kurz geschnittenen dichten Locken und schob das Brotmesser beiseite.
»Ich meine ja nur für alle Fälle, falls es doch noch heiß wird. 'nen Köpper in den See fänd ich toll.«
»Nein, Akki, der Sommer ist ja noch lang.« Brigitte hob den Rucksack vom Tisch und drückte ihn ihrem Sohn in die Arme. »Für die kurze Fahrt pack doch bitte wirklich nur das Nötigste ein. Ich komme gleich rüber und helfe dir.«
Axel schnappte sich ein mit Zucker bestreutes Butterbrot vom Küchentisch und biss herzhaft hinein. »Danke, Omi! Du bist einfach die Beste!«, nuschelte er mit vollen Backen, gab seiner Oma einen fettigen Kuss auf die Wange und hüpfte aus der Küche. Kopfschüttelnd blickten die Frauen auf die Zuckerspur, die das Linoleum zierte.
Ganz oben in die schmale gepackte Ledertasche legte Brigitte ihr Hochzeitsfoto. Mit weißen Spitzenhandschuhen hielt sie den Brautstrauß aus roséfarbenen Rosen. Dieter, im eleganten Anzug, strahlte sie an.
Alle Freundinnen hatten sie um Dieter beneidet. Und ja, sie hatten recht, er sah genau wie Peter Kraus aus. Zärtlich strich Brigitte über das Foto.
Als der Westberliner Dieter vor zwei Jahren sein frisiertes Motorrad mit quietschenden Rädern vor dem Kino parkte, hatte sie sich sofort in ihn verliebt. Lässig lehnte er in Bikerjacke am Schaukasten des Tivoli und lud sie ins Kino ein.
Nach ihrer ersten gescheiterten Ehe, aus der ihr Sohn Axel stammte, schwebte sie mit Dieter auf Wolke sieben.
Ohne zu zögern, ließ er sich in die DDR einbürgern, um im Gegenzug die Erlaubnis zur Hochzeit mit Brigitte zu erhalten. Sie wurden gemeinsam mit Amalie und Axel die perfekte kleine Familie.
Bis zum August 1961. In der Nacht vom zwölften zum dreizehnten sperrte die DDR die Sektorengrenze Berlins mit Stacheldrahtverhauen und Steinwällen ab. Dieter geriet in Panik. Er würde sich nicht wie ein Tier einsperren lassen!
Er sprang auf einen Zug Richtung Westen auf. In einem Hinterhof in der Marienstraße war die Bahn schon angefahren und ratterte gleich drauf mit Volldampf über die Schienen. Dieter rannte auf dem Schotter mit und zog sich im letzten Moment an der Halterung hoch.
Keuchend ließ er sich auf einen Notsitz fallen und presste die Fäuste an die Schläfe. Seine Halsschlagader wummerte im Takt der ratternden Räder.
»Wie spät ist es, Mama?« Brigitte zog den Reißverschluss der Ledertasche mit einem Ruck zu.
»Kurz nach elf. Wenn ihr um zwölf verabredet seid, müsst ihr langsam in die Puschen kommen.« Amalie wischte mit einem karierten Lappen die Krümel vom Tisch.
»Also, Beeilung, Mutti!« Strahlend hielt Axel Brigitte den abgespeckten Rucksack entgegen und grinste verschmitzt seine Großmutter an. »Tschüss, Omi! Langweile dich nicht ohne mich, und wehe, du gehst an mein Naschzeug!« Er schlang die Arme um die schmale Frau und drückte sein Gesicht an ihren Bauch.
Amalie schob Axel sanft von sich und legte den Finger auf die Lippen. »Pst!«
Brigitte erstarrte.
Im Hausflur des vierstöckigen Mehrfamilienhauses rumorte es. Schwere Männerschritte schallten im Treppenflur und polterten zügig bis ins Obergeschoss. Brigittes Herz pochte bis zum Hals. Das Blut schoss ihr in den Kopf, und sie ließ Axels Rucksack auf den Teppich fallen.
Sekunden später hämmerte es an die Wohnungstür. Axel starrte zwischen den Frauen hin und her und krallte sich in die schwitzige Hand seiner Mutter.
Amalie lief steifbeinig in den Flur. Ihre Stimme klang brüchig. »Ja, bitte?« Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Ihre wächsernen Finger zitterten.
»Staatssicherheit. Öffnen Sie! Sofort!«
»Was ist los?« Hilflos hob Amalie die Hände.
Brigitte wurde schwindlig. Wankend umklammerte sie Axels kleine Kinderhand. »Es tut mir so leid, Mama! Ich konnte dich und Akki nicht einweihen! Das wäre zu gefährlich gewesen.« Verzweifelt wischte sie sich mit dem Handrücken über die Stirn.
Erneut hämmerte es an das Türblatt, und der Weidenkranz fiel vom Nagel. »Aufmachen! Wird's bald!«
Zaghaft öffnete Amalie einen Spaltbreit die Tür. Ruckartig wurde die aufgestoßen, und vier Kerle in Ledermänteln drängten sich in den Flur, der augenblicklich nach kaltem Zigarettenrauch stank. Achtlos trampelte die Meute über den Weidenkranz. Brigitte zog Axel hastig ins Zimmer zurück.
»Staatssicherheit!« Ein Offizier mit schmierigen Haaren hielt Amalie seinen Ausweis unter die Nase.
Ein anderer schaute zu Brigitte und Axel hinein. »Na, wollen wir eine kleine Reise unternehmen? Die Taschen sind gepackt?«
Axel sank auf die Bettkante, hob seinen Rucksack auf und drückte ihn wie einen Schatz an sich. »Mutti und ich wollen übers Wochenende wegfahren. Sie hat gesagt, es soll eine Überraschung für mich sein!«
»So, so, übers Wochenende also. Heute ist Donnerstag, Junge, was ist denn mit Schulpflicht?« Seine Stimme war schneidend, wie sein Blick, der jetzt starr Brigitte fixierte.
»Meine Tochter fährt mit ihrem Sohn und einer Freundin nach Rheinsberg. Ist das verboten?« Mit zusammengekniffenen Augen schaute Amalie den langen Kerl an. Sie musste dabei den Kopf in den Nacken legen.
»Die Freundin heißt wohl Dieter, und Rheinsberg liegt neuerdings in Westberlin.« Zynisch verzog er die Lippen.
Amalie starrte hilflos auf den Stasioffizier. »Was reden Sie denn da?«
Unwirsch schubste der sie beiseite. »Brigitte Hötger! Sie begleiten uns zur Klärung eines Sachverhaltes. Ihr Sohn Axel kommt in Arrest.«
»Das können Sie nicht machen!« Fassungslos umklammerte Brigitte ihren Sohn. »Axel ist ein Kind. Nehmen Sie mich mit, aber lassen Sie den Jungen bei meiner Mutter!«
»Seien Sie still! Sonst kann Ihre Mutter gleich mitkommen.« Die Stimme des Stasioffiziers war schneidend. »Darüber hätten Sie nachdenken sollen, bevor Sie sich von Ihrem landesverräterischen Ehegatten zur Republikflucht haben anstiften lassen.«
Die Offiziere zerrten den schluchzenden Axel in Richtung Wohnungstür.
»Mutti, Mutti! Was wollen die? Wo bringen die mich hin?« Panisch riss Axel sich los und versteckte sich hinter seiner Großmutter.
»Komm jetzt, Junge!« Der Stasioffizier hielt ihn eisern am Kragen. »Du kannst dich bei deiner Mutter bedanken. Wehren hat doch keinen Zweck.«
Tränenüberströmt ließ sich Axel wie ein Kalb zur Schlachtbank aus der Wohnung führen.
Brigitte griff Amalies Hände.
»Ich liebe dich, Mama! Es tut mir schrecklich leid. Ich werde alles tun, damit Axel zu dir zurückkann.«
»Raus jetzt mit Ihnen!«, brüllte der Kerl mit den schmierigen Haaren und packte Brigitte bei den Schultern. Sein zu enger Ehering schnitt sich tief in den feisten Finger. »Das ist hier kein Kaffeeklatsch!«
Die beiden anderen nahmen Brigitte in die Mitte und bugsierten sie zur Treppe, um sie hinunterzuschleifen.
Der Schmierige trat zuletzt in den Hausflur und zog krachend die Wohnungstür hinter sich zu. Mit zwei Schritten war Amalie an der Tür, um Tochter und Enkel nachzurennen.
Sie drückte die Klinke. Ruckartig schwang die Tür wieder auf und schlug Amalie mit voller Kraft an die Stirn. Sie taumelte benommen an die Wand. Ein gerahmtes Foto von Brigitte, Axel und Dieter, die lachend in die Kamera winkten, krachte scheppernd auf die Dielen. Das Glas zersprang, und die Splitter verteilten sich auf dem Boden.
»Sie verhalten sich ruhig!« Schweißperlen standen dem Schmierigen auf der Oberlippe. »Sonst haben Sie Ihren Enkel heute das letzte Mal umarmt.« Sein Zeigefinger bohrte sich in Amalies Schulter.
Krachend fiel die Tür ins Schloss, und der Gestank nach kaltem Zigarettenrauch blieb im Flur hängen. Wie betäubt taumelte Amalie über den...
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