- 1 Das Ende einer Ära
»Das kann doch nicht dein Ernst sein«, sagte Jana verärgert. Ihr war anzusehen, dass sie alles andere als begeistert war. Aber früher oder später hätte Alina mit ihr darüber sprechen müssen. Sie hatte es schon eine ganze Weile vor sich hergeschoben. Leider änderte das Aufschieben nichts an der Tatsache: Sie würde ausziehen. Und nun hatte sie es Jana endlich gesagt.
Vielleicht war es nicht der richtige Zeitpunkt gewesen? Nein, daran hatte es bestimmt nicht gelegen. Egal, ob sie ihr diese Nachricht beim Frühstück oder beim Abendbrot mitgeteilt hätte, es blieb die gleiche Nachricht. Eben die Nachricht, die Jana nicht gefiel.
»Mal schauen, wie schnell ich einen neuen Mitbewohner finde. Hast du vor, noch diesen Monat auszuziehen?«, fragte Jana und fuhr sich nervös durch ihr blondgefärbtes Haar.
»Ich weiß noch nicht. Ich will es dir ja auch nicht schwer machen. Also kann ich gerne warten, bis du jemanden gefunden hast.« Das war wohl das Mindeste, und Alina hoffte, dass diese Worte Jana milde stimmen konnten. Das war aber nicht der Fall.
»Zu gütig von dir«, gab diese ironisch zurück. »Wie lange seid ihr eigentlich schon ein Paar?«
Alina verstand nicht hundertprozentig, was das mit ihrem Auszug zu tun hatte, aber sie gab Jana nach einem kurzen Räuspern eine ehrliche Antwort: »Drei Monate.«
Jana atmete tief durch und fragte dann: »Und da willst du mit ihm zusammenziehen?«
Die Frage ihrer Freundin störte Alina. Schließlich hatte sie noch nie in Betracht gezogen, mit einem Mann zusammenzuziehen. Bisher hatte sie immer Angst gehabt, dass es zu früh sein könnte oder dass das gemeinsame Wohnen die Beziehung zerstörte. Diese Angst hatte sie bezüglich ihres neuen Freundes Gabriel ganz gut verdrängt. Zumindest bis jetzt. Dass ihre Freundin nun so skeptisch war, ärgerte Alina und sie verschränkte die Arme vor der Brust. Ein paar Sekunden später änderte sie die Pose aber schon wieder, weil sie die Situation nervös machte. Kein Wunder, dass Janas Frage sie verunsicherte. Alina vertraute ihrer besten Freundin. Die beiden waren wie Schwestern und teilten nahezu alles miteinander. Trotzdem ließ sich Alina nichts anmerken.
»Das ist meine Entscheidung, okay?« Alina konnte nicht verhindern, dass sie etwas forsch klang. »Außerdem dachte ich, dass du dich freust. Das ist für Gabriel und mich ein großer Schritt, und wir beide glauben, dass es das Richtige ist.« Jana schwieg, also setzte Alina hinterher: »Na, komm schon. Ich werde dich und unsere WG auch vermissen, aber wir wussten, dass eine von uns beiden früher oder später ausziehen würde, oder?«
»Anscheinend eher früher. Und lass es mich so sagen. Sogar viel zu früh. Du bist mit Gabriel gerade einmal drei Monate zusammen. Du kennst ihn noch gar nicht. Wer weiß? Vielleicht hat er Geheimnisse vor dir? Vielleicht ist er in Wirklichkeit ein Psychopath. Ja, sowas gibt es: Vollkommen normale, nette Männer stellen sich plötzlich als Alptraum heraus. Warst du überhaupt schon einmal in dem Keller seiner Wohnung und weißt, was er dort lagert? Vielleicht benutzt er dich nur als Tarnung, um wie der charmante, junge Mann von nebenan zu wirken.«
Alina verdrehte die Augen. »Hör bitte auf, Stephen King zu lesen. Das tut dir nicht gut. Oder ist das eine Taktik von dir? Versuchst du mir Angst vor Gabriel zu machen, damit ich den Umzug wieder vergesse?«
Jana zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, vielleicht aber auch nicht.«
Immerhin zeigte Janas Verhalten, dass sie zwar eingeschnappt, aber nicht ernsthaft böse war. Ansonsten hätte sie das Szenario >Gabriel, der Psychopath< wohl nicht entworfen.
»Gut, dann geht nun eine Ära zu Ende. Wir schmeißen auf jeden Fall eine Abschiedsparty«, meinte Jana dann.
Alina nickte und schloss ihre Freundin in die Arme. Eigentlich war das Gespräch gut gelaufen. Jana war nicht begeistert, aber das war zu erwarten gewesen. Das Einzige, was Alina an dem Gespräch störte, war Janas Meinung, dass der Einzug zu schnell ging. Was, wenn Jana recht hatte? Bisher hatte sie in ihrem Leben diesen Schritt vermieden. Oft hatte sie Bedenken gehabt, aber bei Gabriel hatte sie diese ausgeblendet, weil sie sich so gut mit ihm fühlte. Vielleicht hieß das, dass sie bereit war? Trotzdem blieben gewisse Bedenken, wenn man Ernst machte. Gut möglich, dass sie sich früher zu viele Gedanken gemacht hatte und nun zu wenig. Aber das war das Problem. Alina geriet oft ins Grübeln und das wollte sie vermeiden, weil sie wusste, dass Grübelei viel kaputtmachte.
Sie zog sich schnell für die Arbeit um und verließ die Wohnung. Sie hatte Glück, dass sie heute eine kurze Schicht in der Tankstelle hatte. Ungeduldig rechnete sie sich aus, wie viele Minuten sie noch hinter der Theke stehen musste, bis sie frei hatte und Gabriel sie abholen würde. Die Zeit verging viel zu langsam, und sie hatte heute auch mit einigen nervigen Kunden zu kämpfen.
Doch auch dieser Arbeitstag neigte sich dem Ende zu und dann stand endlich Gabriel in der Tür. Er lächelte sie verschmitzt an.
»Hallo, schöne Frau. Sie haben nicht zufälligerweise ein Taxi mit einem gutaussehenden Fahrer bestellt?«, fragte er.
In diesem Augenblick strahlte Alina über das ganze Gesicht. Ja, sie war sicher. Sie wollte mit diesem Mann zusammenziehen. Denn allein dieser Satz brachte sie zum Schmunzeln und der langweilige Arbeitstag war vollkommen vergessen.
»Guten Abend, gutaussehender Fahrer. Das kann sein. Ein Taxi käme ganz gelegen. Was kostet denn eine Fahrt bei Ihnen?«
»Oh, mit dem Fahrer inklusive wird das nicht gerade billig. Aber ich akzeptiere auch alternative Zahlungsweisen.« Er trat ein Stückchen auf sie zu und gab ihr einen kurzen Kuss zur Begrüßung.
»Soso. Ich habe meinen Lohn diesen Monat noch nicht bekommen. Also bin ich für die alternativen Zahlungsweisen.«
»Die sind mir persönlich auch deutlich lieber«, flüsterte Gabriel und zog sie noch etwas näher zu sich. Alina musste kichern, aber hörte dann auch gleich ein Räuspern. Anscheinend waren sie nicht mehr alleine. Pascal war gekommen, um sie abzulösen.
Peinlich berührt löste sie sich von Gabriel und schaute Pascal nicht an. Trotzdem bemerkte sie aus den Augenwinkeln, dass er grinste.
»Schönen Abend euch beiden noch«, rief er Gabriel und Alina hinterher, als sie das kleine Häuschen verließen.
»Pascal hat wirklich ein sehr schlechtes Timing«, bemerkte Alina.
»Ach, stör dich nicht an ihm. Er ist höchstens neidisch.« Gabriel küsste Alina auf die Stirn und schaute sie dann fragend an. »Wie war dein Tag?«
»So lala.« Alina wollte in den Wagen einsteigen, aber Gabriel hielt sie zurück.
»Alina, ein bisschen mehr Details wären schön. Muss ich dir alles aus der Nase ziehen?« Er hob die Augenbrauen und warf ihr einen fragenden Blick zu. Alina hatte eine grobe Vermutung, welches Thema er gleich anschneiden würde.
»Hast du endlich mit Jana gesprochen?«
Volltreffer, es ging um den Auszug. Sie hatte richtig gelegen.
Alina nickte. »Ja, habe ich.«
»Und? Was hat sie gesagt?«
»Sie ist nicht begeistert, aber akzeptiert es.«
»Hab ich doch gesagt. Es wäre auch echt albern, wenn sie deswegen ernsthaft wütend wäre. Ich bin froh, dass du das hinter dich gebracht hast. Dann steht deinem Umzug nichts mehr im Wege, oder?«
Gabriel hatte recht. Es gab nun nichts mehr, was dagegen sprach, dass sie zusammenzogen. Sie nickte glücklich und schmiegte sich an ihn. Da die Sache mit Jana geklärt war, hoffte Alina, dass ihnen nun keine Steine mehr in den Weg gelegt würden.
Alina übernachtete zwar bei Gabriel, aber schaute am nächsten Morgen gleich wieder bei Jana vorbei. Sie wollte anfangen ein paar Sachen in Kartons zu packen. Um die Schränke abzubauen, würde sie Hilfe benötigen.
Als es an der Haustür klingelte, wurde Alina bei ihrer Arbeit unterbrochen. Sie betätigte gleich den Summer und hörte, wie jemand die Treppenstufen heraufstieg. Kurz darauf stand ein schlankes Mädchen mit rabenschwarzem Haar vor ihr. Alina war ein wenig irritiert.
»Guten Morgen, wer sind Sie?«, fragte sie verwirrt, worauf das Mädchen lächelte und ihr die Hand entgegenhielt.
»Ich bin Amy und hier wegen der Wohnungsbesichtigung. Du kannst mich übrigens duzen.«
Alina war in diesem Augenblick wirklich überrascht. Natürlich wollte Jana nach einem neuen Mitbewohner oder einer neuen Mitbewohnerin suchen. Aber Alina hatte nicht erwartet, dass ihre beste Freundin so schnell damit anfangen würde. Schließlich hatte sie ihr erst gestern gesagt, dass sie ausziehen würde. Alina war sich nicht ganz sicher, ob Jana das nicht vielleicht tat, um ihr eins auszuwischen.
»Okay. Dann komm erst einmal rein.« Sie ließ das Mädchen herein und rief nach Jana, die sogleich aus ihrem Zimmer kam. Noch immer ein wenig überrumpelt schaute Alina sie an. »Du hast mir gar nicht gesagt, dass du heute schon eine Wohnungsbesichtigung hast.«
»Wie denn? Du bist erst heute Morgen wiedergekommen. Gestern warst du ja bei Gabriel.«
»Du hättest mir schreiben können.«
Jana seufzte. »Ich muss dir doch jetzt nicht ständig mitteilen, wenn ich eine Besichtigung plane, oder?«, fragte sie zurück. »Abgesehen davon war es auch für mich überraschend. Ich habe eben Glück gehabt.«
Für Jana war das Gespräch damit beendet und sie drehte sich zu Amy. »Hey, herzlich willkommen in der Wohnung. Ich bin Jana, aber wir haben...