Schweitzer Fachinformationen
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»Kein Mensch zieht von Österreich nach Bosnien«, sagt Magda.
Seit einem halben Jahr versucht sie, mir diese Tatsache vor Augen zu führen.
»Schau sie dir an, die Leute dort, alle wollen sie nach Österreich. Dort kann man nicht leben, Katja, dort ist alles kaputt.«
»Sarajevo ist wiederaufgebaut, und es ist eine schöne Stadt.«
»Ja, als Touristin, aber doch nicht, um dort zu leben.«
Das Schlimme ist: Ich weiß, dass sie recht hat. Trotzdem werde ich nach Sarajevo ziehen. Ich habe mich entschieden. Ich will dort sein, wo Danijel ist. Wenn ich einmal auf dem Sterbebett liege, möchte ich sagen können: Ich war mutig genug, meiner Liebe zu folgen. Auf keinen Fall möchte ich wie Oma sagen müssen: Das Einzige, was ich bereue ist, damals so feig gewesen zu sein.
Hätte sich meine Großmutter für Urs Keller und die Schweiz entschieden, gäbe es mich heute nicht. Aus der Distanz der Gegenwart ist es nur eine kleine Abzweigung. Meine Großmutter stand vor einer Gabelung, links oder rechts. Sie packte ihre Koffer, kam nach Solburg zurück und fragte sich ihr ganzes Leben, wie dieses wohl verlaufen wäre, wenn sie geblieben wäre.
Magda und ich sitzen in der Küche und warten darauf, dass die Pizza fertig ist. Immer schon sind wir an diesem Tisch gesessen, wenn wir zu zweit waren. Den Tisch im Wohnzimmer benutzten wir nur, wenn Gäste da waren. An Feiertagen waren es meine Wiener Großeltern, wenn wir ausnahmsweise nicht in ihrem Haus aßen, sondern hier, weil Magda es sich so gewünscht hatte.
Manchmal waren die Gäste Männer. Magda kochte und stellte eine Flasche Rotwein auf den Tisch. Beim Essen kicherte sie wie ein Teenager. Ich habe mich geschämt für die gackernde Mutter. Für ihre tiefausgeschnittenen T-Shirts und die zerrissenen Jeans, die nicht zu ihr passten. Magda hatte Angst, alt zu wirken. Mit einer Tochter im Teenageralter fühlt man sich immer alt, auch wenn man erst Mitte dreißig ist.
»Wie früher, findest du nicht?«, fragt Magda, als sie die Pizza aus dem Rohr hebt und in zwei Hälften teilt.
Die Samstagnachmittage sind immer unsere besten gewesen. An den Samstagvormittagen, während ich in der Schule war, erledigte Magda den Haushalt, und wenn ich nach Hause kam, war sie gutgelaunt. Wir aßen Pizza, gingen spazieren, und danach drehten wir den Fernseher auf. Knabberten Kekse und versteckten unsere kalten Füße unter Plüschdecken. Am Sonntag wussten wir nichts mehr miteinander anzufangen. Wir vermieden jedes Wort, um nicht aneinanderzugeraten.
»Hast du das Buch schon?«, fragt Magda.
»Ich habe dir doch gesagt, dass es erst Ende August erscheint«, kaue ich.
»Warum dauert das denn so lange? Das verstehe ich nicht.«
Natürlich weiß Magda, wann das Buch in den Handel kommt. Und natürlich weiß sie, dass es ein Verlagsprogramm gibt, dass man auch ein Bilderbuch nicht einfach auf den Markt wirft, dass es einen Veröffentlichungstermin gibt, dass es auf der Kinderbuchmesse vorgestellt werden soll. Aber das Buch ist ein gutes Gesprächsthema. Es verhindert, dass wir über Sarajevo sprechen. Wenn es wenigstens Mailand wäre. Oder Paris. Von mir aus auch Rom oder Avignon, sagen Magdas Augen.
Meine Mutter ist Dolmetscherin für Französisch und Italienisch. Sie hat hart für ihren Beruf gekämpft, damals, nach der Matura, als ich bei meiner Oma im Lusniztal war und mein Vater den ganzen Tag auf einer fleckigen Matratze lag, Gras rauchte und seine leere Leinwand anstarrte, weil er bereit sein wollte, wenn ihn die Inspiration ansprang.
»Woher soll sie denn kommen, die Inspiration, du Idiot? Du hast ja nicht einmal das Fenster offen!«, rief Magda und riss die Fensterflügel auf, um den fauligen Geruch zu vertreiben. Das war dann schon am Ende ihrer Beziehung.
»Damals ist mir ein Licht aufgegangen«, sagt Magda, wenn sie heute davon erzählt. »An dem Tag, an dem ich deinen Vater verließ, bin ich erwachsen geworden.«
Der Tag, an dem meine Mutter ihre Sachen packte, um wieder bei ihren Eltern einzuziehen, war der Tag vor ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag. An ihrem Geburtstag selbst fuhr sie mit dem Zug über den Berg (Let's Iltendorf, Baby!) und von dort weiter ins Lusniztal, wo sie ihre kleine Tochter besuchte.
Ich saß auf dem orangefarbenen Hüpfball, den ich Flora nannte.
»Wer ist Flora?«, fragte Magda.
Die Mutter meines Vaters holte das Buch mit dem dicken Nilpferd, und als sie damit in den Garten zurückkam, setzte ich mich auf ihren Schoß, lehnte meinen verschwitzten Kopf an ihre Brust und zeigte auf das Bild. Als Magda sich vorbeugte, um mir einen Kuss zu geben, habe ich sie weggeschubst. Mit der Handfläche habe ich gegen ihren Kopf geschlagen, sie störte mich und Oma beim Lesen. Zum Weinen ging Magda aufs Klo. Dort setzte sie sich auf den Klodeckel, danach klatschte sie sich kaltes Wasser auf die geschwollenen Augen, damit ihre Schwiegermutter nicht sah, dass sie geweint hatte.
In den Wochen nach Magdas Wiederkehr schraubte mein Wiener Großvater ein Brett an den Kleiderschrank im Kabinett. Ein zwei Meter vierunddreißig langes, mit Birkenfurnier überzogenes Sperrholzbrett, das bis zum Bücherregal reichte. Die ausziehbare Couch wurde ins andere Eck geschoben, das Tischchen mit dem Spitzendeckchen und der Kristallvase verschwand in der Garage, in der schon lange kein Auto mehr stand, weil mein Großvater es lieber auf der Gasse stehen ließ.
Die Bildbände meines Großvaters landeten in der Wohnzimmerbank im oberen Stock, deren Sitzfläche man hochklappen konnte. Magda brauchte Platz für die Vokabeln, die sie auf kleine Karteikärtchen schrieb und von Fach zu Fach wandern ließ. Nach einem halben Jahr wurden alle Vokabeln aus dem obersten Fach noch einmal durchgenommen. Die meisten von ihnen landeten im Müll, nur jene, die Magda in den letzten sechs Monaten aus dem Gedächtnis gerutscht waren, kamen wieder in die Karteikästen ganz unten.
Während Magda lernte, tapezierte mein Großvater Magdas ehemaliges Kinderzimmer, das nun mein Zimmer werden sollte. Auf der Tapete tanzten Nilpferde. Die Tapete war teurer gewesen als alle anderen, und meine Wiener Großmutter hatte mit Magda geschimpft: »Warum müssen es denn ausgerechnet Nilpferde sein, die mit den Enten ist doch auch hübsch«, aber Magda hatte nicht mit sich reden lassen. Nilpferde mussten es sein und basta.
Magda erzählt mir von ihrem Chef und den Kolleginnen. Dass sie sich wohlfühle in dem kleinen Büro. Dass sie sich heute nicht mehr vorstellen könne, so zu arbeiten wie früher, ständig auf dem Sprung für den Chef, mit dem ewig gepackten Koffer.
»Ich brauche Sie, Frau Köhler, können Sie nicht Ihre Mutter bitten, einzuspringen?«
Manchmal entschied Magdas Chef am Vorabend seiner Abreise, dass Magda mitkommen musste, dann rief sie Oma an, und Oma kam, und wenn sie in der Tür stand, seufzte sie: »So kann das doch nicht weitergehen, ich werde schließlich auch älter.«
Meine Mutter reiste ab, meine Großmutter übernahm das Abendbrot, und am nächsten Tag gab es statt Ovomaltine echten Kakao. Meine Großmutter verrührte zwei Löffel des dunkelbraunen Pulvers und einen Löffel Zucker mit etwas Milch zu einem sämigen Brei, den sie mit dem Schneebesen in die warme Milch rührte. Dann ließ sie das Ganze aufkochen und wieder abkühlen und leerte den Kakao durch ein Sieb in eine Tasse. Omas Kakao schmeckte tausendmal besser als Magdas Ovomaltine. Vor allem gab es keine Hautfetzen, die ich mit dem Finger herausfischen musste. Meine Oma bestrich Semmeln mit Butter und Marmelade, und während ich aß, schnitt sie eine weitere Semmel auf und belegte sie mit Wiener Wurst, Emmentaler und Essiggurken, klappte die beiden Semmelhälften wieder zusammen, umwickelte sie mit Stanniol und legte sie mitsamt einer Packung Manner Schnitten und einer Birne in meine Schultasche. Die Birnen aus Omas Garten waren saftig und weich, und die neuen Schulbücher hatten bereits im Oktober braune Ecken.
»Kannst du nicht aufpassen?«, schimpfte Magda, wenn sie zurückkam. »Schau dir an, wie das jetzt ausschaut!«
Ich frage mich, was sie tun wird, wenn ich nicht mehr da bin. Wenn ich nicht mehr alle zwei Wochen zu ihr kommen werde, um mit ihr am Küchentisch zu sitzen. Magda ist zu oft allein. Allein mit sich, den fremdsprachigen Romanen und den Wörterbüchern. Jetzt hat sie angefangen, Portugiesisch zu lernen. »Man weiß ja nie«, sagt sie, »mit Italienisch und Französisch kommst du heute nicht mehr weit, mit Portugiesisch auch nicht, aber besser, du beherrschst drei Sprachen, die jeder kann, als nur zwei.«
Magda hat Angst, ersetzbar zu sein. Mit vierundfünfzig ist sie froh, in einer kleinen Firma einen Platz als Übersetzerin gefunden zu haben.
Wir tun uns schwer, seit wir nicht mehr offen reden können. So schwer, wie wir uns früher miteinander getan haben. Dazwischen hat es eine Zeit gegeben, da ging es leichter, da sind wir einander so etwas wie Freundinnen gewesen, aber über Sarajevo will Magda nicht reden, nicht so, als wäre sie bloß meine Freundin, die mir Glück wünscht. Das war schon immer so. Wenn ich mir eine Freundin gewünscht habe, ist Magda Mutter gewesen, und wenn ich eine Mutter gebraucht hätte, hat Magda eine Freundin in mir gesucht.
Wir sitzen auf dem Sofa. Magda hat ein Fläschchen Kinderschaumwein für mich und ein Fläschchen Prosecco für sich geöffnet und erzählt vom zehnjährigen Kind ihrer Kollegin. Die Flüssigkeit in meinem Glas ist rosa, prickelnd, sämig und süß und schmeckt mir besser als der Prosecco, den ich sonst immer mit Magda trinke.
»Ein verzogenes Balg«,...
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