Schweitzer Fachinformationen
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Teil I
(1448)
Am Tag, ehe sie zur Welt kam, half ihre Mutter Bribsun noch bei der Geburt eines Kamelfohlens. Das brachte Glück, und im Übrigen war es bedeutungsvoll. Ihr Vater war einer der wichtigsten Männer der Choros-Sippe und der Schwurbruder ihres Anführers. Niemand respektierte einen Mann, dessen Frau seine Herden vernachlässigte. Bribsun und ihre Dienerin gingen mit der Kamelstute auf und ab, streichelten ihr das Fell, murmelten beruhigende Laute und teilten ihre Wärme mit dem Tier. Die Nächte waren kalt in der Wüste, und Bribsun, in dicke Luchspelze gehüllt, die ihr als Frau eines bedeutenden Mannes zustanden, wünschte sich nur, sie hätte selbst ein Fell. »Bah«, sang sie der Kamelstute vor, »bah«, und das Kind in ihrem Bauch, das sie gerade getreten hatte, wurde ruhiger.
Die Kamelstute gebar schnell. Bribsun brauchte am nächsten Tag vier Stunden, in denen sie mit gespreizten Beinen in Hockstellung halb stand, halb saß, den Oberkörper über einen umgedrehten Korb gelegt. Aber es dauerte nicht so lange wie die Geburt ihres Sohnes im vorletzten Jahr, und so war sie zufrieden, als das Kind aus ihr heraus und auf die Filzmatte glitt, die ihre Dienerin bereitgelegt hatte. Bribsun reinigte ihr Neugeborenes mit Schafswolle von Blut und Schleim, wie es der Brauch gebot, und sah, dass es ein Mädchen war. Nach einem lebenden Sohn würde das Geschlecht ihren Gatten nun nicht kümmern; auch Töchter waren wichtig für die Sippe. Das Kleine hatte den kleinen blauen Fleck am Steiß, den alle wahren Kinder des Ewigen Blauen Himmels besaßen, und so war es gut.
»Das Land war dürr und wasserlos«, sagte Bribsun zu dem Säugling, wie sie es auch ihrem Sohn erzählt hatte, wie alle Mütter es ihren Kindern erzählten, »und unser Urvater wurde von einer Wölfin gesäugt. Als das Wasser zurückkehrte, brachte sie ihn zurück zu den Menschen, aber sie biss ihn vorher, damit sie ihn überall wieder erkennen würde. Deswegen hast du diesen blauen Fleck, denn wir sind alle die Kinder der Wölfin.«
Es gab noch keinen Namen für ihr Mädchen. Namen kamen erst, wenn das Kind alt genug war und das Reiten beherrschte. Wenn es nicht vorher starb, dann würde zudem sein Haar geschnitten und allen Freunden und Verwandten davon geschenkt werden. Erst dann würde es einen Namen erhalten, einen richtigen Namen. Bis dahin durfte es keinen Namen geben, um so die bösen Geister in die Irre zu führen und ihnen weiszumachen, es gäbe gar kein neues Kind, dem sie Gewalt antun konnten.
»Krümelchen«, flüsterte Bribsun, spuckte und rieb einen weiteren Blutfleck vom Körper ihres neugeborenen Mädchens, »Krümelchen, mein Kleines.«
Ihr Sohn, der fast zwei Jahre zählte, war noch immer das Filzchen, aber bald schon würde er einen Namen erhalten und auf dem Pferd sitzen, ohne dass er länger festgehalten werden musste. Er war ein gesundes, fröhliches Kind. Er würde leben, um seinem Vater und ihrer gesamten Sippe Ehre zu machen.
Der Säugling schrie ob der ungewohnten Kälte außerhalb von Bribsuns Bauch, und die Dienerin lachte. »Lauter als das Kamelfohlen«, sagte sie, und Bribsun, so erschöpft sie auch war, lachte ebenfalls. Während sich ihre Magd daranmachte, Bribsuns Beine gleichfalls mit Schafswolle zu reinigen, legte Bribsun sich das Kind an die Brust und begann, es zu wiegen.
»Du kannst dem Herrn sagen, er kann den Hammel schlachten lassen.«
Es würde ein alter Hammel sein, wegen des guten, zähen Fleisches. Nach der Geburt ihres Sohnes hatte sie tagelang nichts als Hammelfleisch gegessen und Hammelbrühe getrunken, um ihre Zähne wieder zu kräftigen. Schließlich musste sie so bald wie möglich wieder auf den Beinen sein. Bei einem Jungen waren ihr drei Tage gegeben worden, aber für dieses Mädchen würde es nur einer sein. Es war Frühling, und der Schwurbruder ihres Gatten hatte große Pläne für die Sippe. Für alle Stämme. Dies war kein Jahr, in dem man sich auf ein langes Sommerlager würde einrichten können.
Es war das Jahr mit dem stärksten aller Tierkreiszeichen: das Jahr des gelben Drachen.
»Wie ist die Beute?«, fragte Esen seinen Schwurbruder, denn nur ein Tölpel, der kein Kind des Ewigen Blauen Himmels war, hätte die Bedeutung dieser Frage nicht verstanden und sich plump nach dem Geschlecht des Kindes erkundigt.
»Eine, die Ziegen melkt«, erwiderte Tsorokbai-Temur, was hieß, dass es ein Mädchen war, und strich seinem Sohn über den Kopf. Er musste fast schreien, denn die Schamanen, die er gebeten hatte, die Geburt seines zweiten Kindes zu deuten, machten mit ihren Trommeln immer noch einen solchen Lärm, dass man sein eigenes Wort kaum verstand. Sie waren längst nicht mehr ansprechbar, so hatten sie sich in Ekstase getanzt. Die beiden Männer saßen in Tsorokbai-Temurs Jurte. Eigentlich wäre Tsorokbai-Temurs Platz auf dem Lager an der Nordseite gewesen und Esens zu seiner Rechten auf der Westseite, wie es Ehrengästen gebührte, aber Esen war nicht irgendein Ehrengast. Er war Taidschi. Zwar gab es einen Khan, aber es war über hundert Jahre her, dass die Kinder des Ewigen Blauen Himmels sich der Herrschaft des jeweiligen Großkhans gebeugt hatten. Inzwischen war es fast bedeutungslos, wen man Khan nannte, denn er hielt keine wirkliche Macht mehr in den Händen. Er zeichnete sich einzig dadurch aus, dass in seinen Adern noch das Blut des Urvaters Dschingis floss.
Der Mann, dem andere Männer auf Beutezüge wie in die Schlacht folgten, das war der Taidschi, der Kriegsfürst. Auch der Taidschi war nur Herr über die Sippen von zwei, drei Stämmen gewesen - bis Esen den Titel errungen hatte. Durch Heiratsverbindungen und Machtkämpfe vereinte er mehr und mehr Sippen unter sich, und nach langen Kriegen gegeneinander glaubten die Kinder des Ewigen Blauen Himmels durch ihn wieder an die Zukunft. Esen, der aus der Choros-Sippe stammte, hatte ihnen gezeigt, dass er nicht nur ein besserer Kämpfer als alle anderen Sippenoberhäupter war, sondern auch ein vorausschauender Stratege. Die Einheit der Mongolen, die der Urvater Dschingis ihnen gebracht hatte, war wieder zu etwas Greifbarem geworden. Mittlerweile glaubte sogar Tsorokbai-Temur, dass Esen das Ziel erreichen würde, von dem sein Schwurbruder schon seit ihrer Jugend sprach: alle Sippen, alle Stämme zu vereinen und so wieder das Heer zu schaffen, vor dem die ganze Welt gezittert hatte; erneut das zu tun, was der Urvater vollbracht hatte. Für solch einen Mann war ein Ehrenplatz zu wenig. Ihm musste man den Platz des Hausherrn zugestehen, die Liege an der Nordseite, von der aus die gesamte Jurte überblickt werden konnte.
»Nun, mein Freund, du hast genügend Ziegen, die gemolken werden müssen«, erwiderte Esen gut gelaunt. »Trotzdem ist es ein Jammer, dass es nicht einer ist, der Zieselmäuse mit der Schlinge fängt. Dies ist ein gutes Geburtsjahr für Jungen. Das beste, aber ich glaube ohnehin, ein Wolf wie du zeugt keine Lämmer. Weißt du, was die Schamanen mir erzählen? Er könnte wiederkehren in diesem Jahr.« Esen kniff die Augen zusammen und senkte die Stimme. »Der Urvater.«
Das Gespräch wurde unterbrochen von den zwei bunt gekleideten Schamanen, die immer noch auf ihre Trommel schlugen, als müssten sie damit auf sich aufmerksam machen.
»Was könnt ihr mir aus dem Jenseits berichten?«, wollte Tsorokbai-Temur von ihnen wissen und schaute sie erwartungsvoll an.
»Wir haben ihn getroffen, den Urvater«, antworteten sie in tiefem Ernst, »und er hat versprochen, seine Hand über Euer Kind zu halten. Er erwarte Großartiges aus der Sippe, und Ihr dürft nicht zulassen, dass Eurem Kind etwas geschieht, so hat er gesagt. Aber die Geier, die uns zu ihm in den Ewig Blauen Himmel brachten, die hassen Euch, weil Ihr ihnen nicht genug Beute lasst, davor wollen wir Euch warnen.« Mit diesen Worten und einem großen Schlauch Airag trollten sie sich, begleitet von dem eintönigen Klang ihrer Trommeln.
»Die Schamanen unserer Sippe treffen für meinen Geschmack den Urvater etwas zu häufig. Ich glaube, alle unsere Geisterbetreuer machen sich nur Sorgen darum, dass sie ohne seine Hilfe keinen Einfluss mehr auf dich haben«, sagte Tsorokbai-Temur lächelnd. »Und auf mich.« Seit eine Magd von der glücklichen Geburt berichtet hatte, tranken sie Airag, gegorene Stutenmilch, und das frische, süße Prickeln des Airag verführte ihn dazu, über Esen zu scherzen. »Nachdem du nun ein Moslem bist.«
Esen grinste. Es war ihm gelungen, einige der Mogulenherrscher im Westen wieder zu unterwerfen, die bereits zur Zeit der Söhne des Urvaters Dschingis zum Islam konvertiert waren, so dass sie eigentlich nicht mehr als Kinder des Ewigen Blauen Himmels zählten. Der Sieg brachte ihm die uneingeschränkte Herrschaft über die längsten Strecken der Seidenstraße und den Zugriff auf die Tribute auf Seide, Tee, auf Gewürze und Glas, welche alle Karawanen an ihn leisten mussten. Er hatte dies durch die Heirat mit der Schwester eines der mächtigsten Mogulenherrscher besiegelt. Da es einer Muslimin aber verboten war, einen Nicht-Moslem zu heiraten, war es Esen gewesen, der danach ein anderes Glaubensbekenntnis sprach, obwohl niemand ihn nach der Eheschließung je wieder die fünf Gebete am Tag verrichten sah.
»Allah war ein nützlicher Gott für mich«, sagte Esen. »Die Schamanen können nicht übelnehmen, was nützt. Und sie bleiben wachsam und sind bemüht, mir ebenfalls nützlich zu sein, denn dieser Allah ist eifersüchtig und will nicht, dass man dem Ewigen Blauen Himmel und Mutter Erde mehr Ehre erweist.«
»Ganz wie du«, gab Tsorokbai-Temur zurück. »Ein Gott, der zu dir passt.«
Esen stieß ihn mit...
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