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Meißen, Sachsen, 1835
»Sie sind tot. Alle beide.«
Louise hatte gehofft, es würde für sie glaubhafter, wenn sie es sich nur oft genug laut vorsagte. Ihre Eltern waren tot. Keinen von beiden würde sie je wiedersehen. Nicht ihre Mutter, die vor fünf Monaten an Tuberkulose gestorben war, die Mutter, die zum Schluss so wenig bei sich gewesen war, dass sie, als man Louise und ihre Schwestern zu ihr brachte, um sich zu verabschieden, nur geschrien hatte: »Nehmt die tote Frau aus dem Bett, die da neben mir liegt!«
Nicht ihren Vater, Papa, der die Mutter nur um vier Monate überlebt hatte und gestorben war, weil der Arzt seine Blutvergiftung nicht rechtzeitig erkannt und geglaubt hatte, mit der Amputation eines Zehs alle Probleme gelöst zu haben. »Keine Sorge, Herr Gerichtsdirektor«, hatte der Mann getönt, während Papa vor Schmerzen schrie, »in ein paar Tagen geht es Ihnen wieder glänzend, und Sie werden die Dörfer besuchen und Recht sprechen.«
Papa war tot, genau wie die Mutter, und Louise würde nie, nie wieder einem Arzt trauen.
Sie war siebzehn Jahre alt und diejenige in der Familie, der immer ein frühes Ende prophezeit worden war. Die Jüngste, zu klein, zu zerbrechlich. Als der Vater sich weigerte, sie weiter unterrichten zu lassen, kurz bevor die Mutter krank wurde, hatte Louise in ihrer Enttäuschung geglaubt, das sei der eigentliche Grund, und war wütend genug gewesen, um es laut auszusprechen: »Glaubt ihr denn, es sei Geldverschwendung, weil ich ohnehin bald sterbe wie Clementine?«
Die Scham darüber brannte in ihr, jetzt mehr denn je. Danach hatte die Krankheit der Mutter jedes weitere Gespräch über die Zukunft unmöglich gemacht. Die Eltern mussten mit der Erinnerung an eine trotzige Louise in den Tod gegangen sein, an einen erbitterten Streit. Ihre Eltern, die immer liebevoll gewesen waren, die darauf bestanden hatten, von Louise und ihren älteren Schwestern geduzt zu werden - »Ihr sagt ja auch nicht zum lieben Gott Sie!«, hatte der Vater gelacht, ganz anders, als es die übrigen Familien in Meißen hielten, in denen die Väter etwas darstellten.
Sie bildete sich ein, dass Antonie und Franziska sie vorwurfsvoll anschauten. Schon vor dem Tod der Eltern hatten ihre Schwestern nicht verstanden, warum Louise überhaupt mehr Schulunterricht wollte. »Du weißt schon genug, um deinem Mann keine Schande zu machen, ganz gleich wen du heiratest, und wenn du unbedingt weiter über Bücher reden willst, kannst du einen Salon gründen«, hatte Antonie erklärt, und Franziska wollte nur wissen, ob Louise am Ende für die Lehrerin der Privatschule schwärme, die sie bis zu ihrer Konfirmation hatte besuchen dürfen.
Der Notar räusperte sich. »Fräulein Antonie, Fräulein Franziska, Fräulein Louise, ich wünschte, ich könnte es Ihnen ersparen, in der Zeit Ihrer Trauer so unerfreuliche Dinge wie ein Testament anhören zu müssen, aber das Gesetz will es so.«
Antonie tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen und flüsterte: »Wäre es nicht möglich, dass mein Verlobter diese Angelegenheit mit Ihnen regelt?«
Unter anderen Umständen, in einer glücklicheren Zeit, hätte Louise die Augen gerollt. Erst am Vortag hatte Julius Dennhardt seinen Heiratsantrag gemacht, und seither konnte Antonie nicht aufhören, »mein Verlobter« oder »mein zukünftiger Gatte« zu sagen und ihn in jedem Gespräch zu erwähnen, selbst wenn es um das Schälen von Äpfeln ging oder darum, ob Tante Matthäi, die Schwester ihrer Mutter, das Dienstmädchen übernehmen würde. Wenn das die Art von Verhalten war, das die Liebe mit sich brachte, dann war Louise froh, selbst bisher nur für Schillers Helden zu schwärmen.
»Es wäre mir eine Ehre«, tönte ihr zukünftiger Schwager und warf sich in die Brust, als hätte er gerade angeboten, für Antonie eine Heldentat zu begehen. »Zarte Frauen sollte man ohnehin nie mit der Last von Rechtsangelegenheiten beschweren.«
»Herr Dennhardt, als angehender Gerichtsdirektor sollten Sie doch wissen, dass dergleichen rechtlich nicht zulässig ist«, entgegnete der Notar mit einem Unterton von Tadel. »Nach Ihrer Hochzeit können Sie selbstverständlich die Interessen Ihrer Gemahlin vertreten, doch hier und jetzt .«
»Die Interessen meiner Gemahlin und ihrer Schwestern«, unterbrach Julius Dennhardt. »Ich werde selbstverständlich ein treusorgender Vormund und zweiter Vater für meine Schwägerinnen sein, und deshalb denke ich, dass es doch dem Geist des Gesetzes entspräche, wenn ich jetzt schon .«
Die Mischung aus Trauer und Schuldgefühlen, die Louise seit Wochen das Herz abdrückte, wich mehr und mehr ungläubiger Empörung.
»Ich brauche keinen zweiten Vater. Ich bin kein Kind mehr!«, platzte sie heraus. Ihre Schwestern starrten sie bestürzt an.
»Der Schmerz macht das Kind rasend«, sagte Tante Matthäi hastig.
»Ja, Liebster, bitte verzeihen Sie der Kleinen«, fügte Antonie hastig hinzu. »Es ist ein großes Glück für uns drei, dass wir nicht alleine in der Welt sein werden, sondern dass ein Ehrenmann wie Sie sich um uns kümmern wird.«
Louise schaute zu Franziska, doch Franziska machte keine Anstalten, zu protestieren. Im Gegenteil, sie nickte beifällig. Nun, Franziska hatte auch immer bei ihr, Louise, abgeschrieben, obwohl sie die Ältere war, und war froh gewesen, den Schulunterricht hinter sich zu haben. Natürlich freute sich Franziska, wenn ihr jemand Rechtsbelehrungen ersparte oder das Nachdenken über die Zukunft. Andererseits hatte Franziska doch auch immer Sinn für Humor gehabt und gerne die Pompöseren unter Papas Kollegen parodiert, wenn sie unter sich waren. Wollte sie denn wirklich ihr Leben diesem Julius Dennhardt anvertrauen, der Antonie erst einen Heiratsantrag gemacht hatte, als Papa tot war? Julius Dennhardt, der Louise den Eindruck verschaffte, in Gedanken bereits alle Möbel hier im Haus vermessen zu haben und alle vierzehn Fenster? Der Papas Schreiber bereits entlassen hatte - zwei Männer, die jahrelang für Louises Vater gearbeitet hatten -, ohne den Mädchen die geringste Chance zu geben, sich zu verabschieden?
Jeder im Raum außer dem Notar blickte tadelnd zu Louise, als hätte sie Julius Dennhardt mit ihren paar Worten ins Gesicht gespuckt. Als die Tante auch noch »Entschuldige dich, Kind« murmelte, wurde es ihr zu viel. »Papa hat uns erzählt, dass es in Sachsen keine Geschlechtsvormundschaft mehr gibt seit der letzten Gesetzesreform«, sagte Louise, an den Notar gewandt. »Das heißt doch, dass Frauen keinen Kurator für ihr Vermögen mehr brauchen, richtig, Herr Lindner?«
Der Notar räusperte sich. Er war um mehrere Ecken mit ihnen verwandt, und seine Mutter war die beste Freundin ihrer Mutter gewesen. Wenn Antonie sich in ihn verliebt hätte, dann hätte Louise das schon eher verstanden, aber Otto Lindner war bereits verlobt.
»Das stimmt. In den übrigen deutschen Fürstentümern ist die Rechtslage anders, doch in unserem Sachsen hat eine Frau nun das Recht, ohne männliche Vormundschaft über ihr Vermögen und ihr Leben zu entscheiden.«
»Eine Frau«, ergänzte Julius Dennhardt, der Louise mit wachsender Feindseligkeit musterte. »Kein halbwüchsiges Mädchen. Fräulein Louise, Sie sind in Sachsen wie in jedem anderen Staat noch minderjährig, und Ihr Verhalten hier und jetzt unterstreicht Ihren Mangel an Reife nur. Oder sehen Sie das anders, liebste Antonie?«, schloss er mit einem gebieterischen Blick auf Louises älteste Schwester.
»Ganz und gar nicht«, beteuerte diese hastig. Louise versuchte es der Schwester nachzusehen. Antonie hatte vor Dennhardt noch nie einen Verehrer gehabt und einmal gesagt, sie könne sich kein schlimmeres Schicksal vorstellen als das von Tante Matthäi: unverheiratet, eine alte Jungfer ohne eigenes Zuhause, immer darauf angewiesen, bei Verwandten zu leben.
Einen Moment lang war Louise versucht nachzugeben. Nur weil sie Dennhardt nicht mochte, hieß das noch lange nicht, dass er ein schlechter Mensch war. Es gab keinen bösen Klatsch über ihn in Meißen, und ihm stand wirklich eine Beförderung zum Rang eines Gerichtsdirektors ins Haus. Er würde vermutlich mit ihrem Teil des Erbes verantwortungsbewusst umgehen.
Aber Louise hatte Träume. Und Julius Dennhardt würde ihr ganz bestimmt nicht erlauben, sie zu verwirklichen. So, wie er von »zarten Frauen« sprach, würde er ihr noch nicht einmal gestatten, die politischen Journale zu lesen, wie es Papa getan hatte, und von der Welt mehr als Meißen und Umgebung zu sehen, vielleicht gerade noch Dresden. Selbst das würde er ihr als ihr Vormund verbieten können, wenn er erst einmal in der Lage dazu wäre. Antonie und Franziska würden ihr in so einem Fall bestimmt nicht zu Hilfe kommen, das machten die beiden gerade deutlich. Und Tante Matthäi erst recht nicht. Die hatte zu sehr Angst, von Dennhardt aus dem Haus komplimentiert zu werden, auf etwas freundlichere, aber genauso bestimmte Art, wie es den Schreibern geschehen war.
»Es gibt genügend Frauen in meinem Alter, die bereits verheiratet sind und Kinder haben«, sagte Louise und setzte sich etwas aufrechter. »Wenn ich alt genug bin, um zu heiraten und Kinder aufzuziehen, dann bin ich auch alt genug, um mich selbst um mein Geld und Gut zu kümmern.«
»Im Fall einer Ehe wäre es doch Ihr Gatte, der sich um alles kümmern und Ihnen diese Last abnehmen würde«, protestierte ihr zukünftiger Schwager und wandte sich an den Notar. »Frauen brauchen nun einmal den Verstand und den Schutz eines Mannes, das sehen Sie doch gewiss genauso, werter Kollege.«
Ich mache mir Sorgen um dich, murmelte Louises Mutter in ihrer Erinnerung. Wohin soll das noch führen, all diese Bücher? Du wirst nicht in...
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