Schweitzer Fachinformationen
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Erinnerungen sind unbarmherzig. Sie lauern flüsternd oder verschwiegen in finsteren Gräben und warten nur darauf, sich ins Niemandsland unserer Träume zu stehlen. Sie wissen, woran wir uns erinnern wollen und was wir zu vergessen hoffen. Und sie wissen: Gerüchte und unsere Vorstellungskraft werden alle Lücken schließen.
Doch ich wusste nur, was mir erzählt worden war.
Es war ein goldener Augustabend, als meine Mutter sich von allen Fesseln befreite. Der Fluss muss geschimmert haben, als sie hineinlief und unterging. Das Wasser muss ihren Schmerz gelindert und fortgespült haben. Als ihr Leben zu Ende ging, kurz bevor ihr Herz stehen blieb und die Flut sie stromaufwärts trieb, musste sie doch gewiss an mich gedacht haben? Denn es war derselbe goldene Abend, an dem ich geboren worden war.
Dass mein eigener Anfang und das Ende meiner Mutter zusammenfielen, ließ mich häufig rätseln, ob es einen fließenden Übergang gab, ob die Leidenschaft, die an jenem Tag ihre Sinne überflutet hatte, in mich hineingeströmt war, ob auch meinen Namen eines Tages niemand aussprechen würde. Aber Kitty versicherte mir, dass ich nicht so sei wie meine Mutter. Nicht meine Geburt habe ihr jeglichen Halt geraubt, sagte sie; eine uneheliche Liebschaft war ihr Verderben gewesen.
Kitty war meine Großtante und die Frau, die mich großzog. In einem Punkt - wie in den meisten anderen Punkten auch - hatte sie recht: Ich war nicht wie meine Mutter. Mit dreiundzwanzig Jahren hatte ich eine angesehene Stellung und war beinahe verlobt. Mit dreiundzwanzig hatte ich bereits in fünf verschiedenen Grafschaften gelebt und die vage Absicht, alle einmal durchzuprobieren, alle Grafschaften Englands. Es war das Wörtchen reisen in der Annonce, das verlockend klang - der Zeitpunkt war rein zufällig.
Nur ein paar Tage später setzte mich Mrs. Bart unter Tränen darüber in Kenntnis, dass sie bei ihrer Schwester einziehen werde. Selbstverständlich erwähnte ich ihr gegenüber nicht, dass ich mich bereits um eine neue Stelle beworben hatte. Ich erklärte ihr, wie leid es mir täte, und sie sagte, sie und Mr. Darcy seien ebenfalls sehr traurig. Das war eine glatte Lüge. Ich wusste, dass der inkontinente Mops mich genauso hasste wie ich ihn. Aber Mrs. Bart meinte, sie werde dafür sorgen, dass ich für alle Unannehmlichkeiten entlohnt werde, und versprach mir ein hervorragendes Arbeitszeugnis.
Mein Jahr bei der alten Dame war nicht vergeblich gewesen. Als wenig begüterte Witwe habe sie mich gerne »eingearbeitet«, wie sie sagte, und ihr Faible für Vortragskunst und französische Ausdrücke war nicht spurlos an mir vorübergegangen. Aber in Wahrheit war ich für Mrs. Bart mehr eine Gesellschafterin als eine Kammerdienerin gewesen oder vielleicht mehr noch eine Zuhörerin, denn sie mochte es, wenn ich den Erzählungen aus ihrem Leben lauschte. Sie sprudelten nur so aus ihr hervor, ohne zeitliche Einordnung, ohne Erklärung, bis sie am Ende ganz ruhig und still wurde und keine Worte mehr übrig waren - bis zum nächsten Tag, wenn ein Traum oder ein halb vergessener Gegenstand die nächste Welle an Erinnerungen auslöste, die sie ins Dorset ihrer Kindheit versetzte. Sie beschrieb alles so verzückt, dass ich an Enden und Anfänge denken musste, denn Mrs. Bart, die sich ihrem Ende näherte und den Kreis schloss, kehrte zu ihren Anfängen zurück.
Mrs. Bart gab mir Der diskrete Schatten, eine Art Handbuch für Kammerdienerinnen in Pamphletgröße, das sie in einem Antiquariat gefunden hatte. Abgesehen von der altmodischen Sprache und einigen überholten Gepflogenheiten entsprach es dem gesunden Menschenverstand, denn Ehrlichkeit, Taktgefühl und Anstand blieben die notwendigen Voraussetzungen jeder Dienstanstellung. Dem gesunden Menschenverstand entsprang auch der Ratschlag: Eine Kammerdienerin muss eine ordentliche Person sein, zudem habe sie freundlich und ruhig zu reden und gut lesen und schreiben zu können. Und obwohl mir anfangs der Titel gefiel und das Zitat, dem er entnommen war - Eine Kammerdienerin ist der diskrete Schatten ihrer Herrin - , empörte mich der darauf folgende Satz: Sie ist nur spärlich zu sehen oder zu hören. Ein diskreter Schatten, der nur spärlich zu sehen oder zu hören war, klang eher nach einem Geist als nach einer Bediensteten aus Fleisch und Blut.
Zum Vorstellungsgespräch im Londoner Empress Club an der Dover Street fuhr ich mit dem Zug. Er galt, wie ich von Mrs. B. erfuhr, als der renommierteste und erlesenste aller Damenclubs in London. Sie hatte mich ermahnt, an mein Zwerchfell und eine aufrechte Haltung zu denken, meinem Gegenüber in die Augen zu blicken und beim Sprechen zu atmen - ein . und aus . und ein . und aus . Und sie hatte mir eingeschärft, nicht in mein Londoner F zurückzufallen. Aber sie übertrieb; das Londoner F war bei mir nie ausgeprägt gewesen - anders als bei Stanley, der immer irritiert war, wenn ich ihn darauf hinwies. »Th, Stanley«, mahnte ich und schob meine Zunge vorn an die Zähne, wie Mrs. B. es mich gelehrt hatte. »Es heißt think und nicht fink.«
Es dauerte nur einen Augenblick, bis Lady Ottoline die Lobby betrat, nachdem sie über mein Kommen benachrichtigt worden war. Lächelnd reichte sie mir die Hand. »Ottoline Campbell.«
»Pearl Gibson, Eure Ladyschaft.«
Ich war mit der korrekten Etikette nicht völlig vertraut, deutete aber einen leichten Knicks an. Ich hielt ihn bei der Begrüßung einer Dame von Stand für angemessen. Und die Geste schien sie zu freuen, denn ihr Lächeln wurde weicher, und sie sagte: »Welch überaus hübscher Hut.«
Als ich ihr erzählte, dass ich jede einzelne Seidenkirsche eigenhändig genäht hatte, klatschte Lady Ottoline in die Hände und hob die Augenbrauen: »Ach, dann können Sie ja gut mit der Nadel umgehen. Das ist beruhigend zu wissen.«
Sie war groß und hübsch, hatte eine glatte blasse Haut und mandelförmige braune Augen mit schweren Lidern. Ihr dunkles Haar wurde an den Schläfen ein wenig grau, und sie machte den zerstreuten Anschein - ein rascher Blick über meine Schulter, ein unterdrücktes Gähnen - von jemandem, der leicht gelangweilt war vom Leben.
»Bitte, hier entlang«, sagte sie.
Ich folgte dem süßen Duft von Gardenien durch einen lang gestreckten Salon, in dem eine Kapelle spielte und Bedienstete Teetabletts hierhin und dorthin trugen. Als ich die vorbildliche Haltung Ihrer Ladyschaft bemerkte, den langen Hals, den Rücken, so gerade wie die Säule für Lord Nelson, da richtete ich mich selbst noch weiter auf. Wir betraten einen weiteren, weniger prunkvollen Raum.
Das Rauschen des Seidenchiffons verklang. »Nehmen Sie Platz, Miss Gibson.«
Überall im Raum saßen etliche Damen, lasen oder schrieben schweigend Briefe, und ein leises Geflüster vom anderen Ende des Raumes lenkte meinen Blick auf ein Mädchen wie mich, das von einer silberhaarigen Frau mit Zwicker befragt wurde, die keinerlei Ähnlichkeit mit Lady Ottoline aufwies. Das Mädchen und ich tauschten einen kurzen Blick aus, und ich wusste, was sie dachte: Deine ist angenehmer.
»Sie kommen also aus Bournemouth?«
»Ja, Eure Ladyschaft, aber geboren wurde ich in London.«
»Aha, aber Sie waren kein GUM-Mädchen, nicht wahr?«
Ich kannte diesen Begriff und wusste, dass er nicht für Gehorsam und Manieren stand, wie einige der Mädchen, mit denen ich gearbeitet hatte, behaupteten. Die Abkürzung stand vielmehr für die Gesellschaft zur Unterstützung junger Mägde, einer Vereinigung, die Mädchen aus den Arbeitshäusern ausbildete, um sie von der Prostitution und Trunksucht abzuhalten und in gute Dienstmädchen zu verwandeln.
»Nein, ich war niemals ein GUM-Mädchen«, sagte ich und richtete mich in dem hohen Lederstuhl noch weiter auf.
Lady Ottolines Lächeln verschwand, sie senkte den Blick, und einen Augenblick lang dachte ich, sie wäre enttäuscht. Aber dann fuhr sie fort, fragte nach meinen Erfahrungen, und ich erzählte ihr, dass ich in Kent angefangen und mich weiter emporgearbeitet hätte. Sie erkundigte sich nach meinen Zeugnissen, und ich reichte ihr eins nach dem anderen, wobei ich das beste bis zum Schluss aufbewahrte.
»Grundgütiger«, sagte sie und hob den Blick von Mrs. B.s kunstvoller Handschrift. »Ich glaube, ich habe noch nie ein solch . überschwängliches Empfehlungsschreiben gelesen.«
Mrs. B. hatte mir freundlicherweise gestattet, ihren ersten Entwurf zu lesen und ihr beim Schreiben des zweiten Entwurfs zu helfen. Ich schlug nur drei Veränderungen vor: das Wort vorbildlich gegen mustergültig auszutauschen, geschätzt gegen verehrt und Bedauern gegen Trauer.
Lady Ottoline faltete das Papier zusammen und reichte es mir. Sie erkundigte sich nach meinen persönlichen Verhältnissen. Ich teilte ihr mit, dass ich keine Familie hätte, von der ich ihr erzählen könne. Ich wusste, dass ich Stanley besser nicht erwähnte - zumal der ungeklärte Umstand unserer Verlobung ohnehin eine private Angelegenheit war.
»Ich verstehe«, sagte sie. »Und keinerlei Verehrer?«
»Nein, keine, Eure Ladyschaft.«
»Quel dommage . Aus meiner Sicht allerdings wahrscheinlich nicht«, fügte sie zwinkernd hinzu. »Sehen Sie, ich benötige jemanden, der sich verpflichten kann . und zwar für mindestens zwei Jahre.«
»Das ist kein Hindernis. Ich suche nach einer langfristigen...
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