Schweitzer Fachinformationen
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I
Mein Vater, Reginald Coal, war ein außergewöhnlicher Mann; umso mehr, wenn man seinen außerordentlich schwierigen Start ins Leben bedachte. Von seiner unverheirateten Mutter ausgesetzt und sich selbst überlassen in den blutgetränkten Laken, in die er geboren worden war, grenzte es an ein Wunder, dass man ihn überhaupt gefunden hatte, bevor die Kälte des Winters seinem kurzen Leben ein Ende setzen konnte.
Die Haushälterin der Lloyds hatte sich gerade zur Nachtruhe fertig gemacht, als sie von draußen aus der Gasse die Schreie einer Katze zu hören glaubte. Damit die gnädige Frau nicht gestört wurde, stand sie auf, um das Tier zu verscheuchen - und bekam den Schreck ihres Lebens.
Ich nehme an, die Absicht meiner Großmutter - mal abgesehen davon, dass sie nicht mit der Schande leben wollte, als die ein Kind der Liebe in solch ungnädigen Zeiten nun einmal galt - war es gewesen, meinen Vater bei einer wohlhabenden Familie unterzubringen. Und eine solche waren die Lloyds. Sie rühmten sich einer langen, illustren Ahnenreihe, besaßen ihre eigene Loge in Ascot und einen Haufen Aktien, der sie bis zum Börsencrash 1929 finanziell in trockenen Tüchern hielt. Leider erhalten Familien wie die Lloyds ihre erlesene Ahnenreihe nicht dadurch, dass sie jedes hergelaufene Waisenkind adoptieren, das ihnen irgendjemand in den Kohlenschuppen legt.
»Nehmen Sie es mit«, verfügte Mr. Lloyd knapp, als der Arzt ihm mitteilte, dass der kleine Reginald außer Gefahr sei.
»Natürlich«, buckelte der Doktor. »Ganz wie Sie wünschen.«
Anstatt in privilegiertem Luxus verbrachte Reginald seine ersten zehn Jahre deshalb im örtlichen Waisenhaus, chronisch unterversorgt mit Liebe und Vitamin D. Von hier aus hätte alles auch ganz anders kommen können, aber eines Tages, im Frühling des Jahres 1932, erbarmte der Reverend Charles Eckett sich des schlaksigsten Waisenjungen im Heim St Mary's of the Blessed Salvation (und ganz Norwich). Er bot ihm an, wovon alle Waisenkinder der Welt bei Tag und Nacht träumen: ein Zuhause und eine Familie ganz für sich allein.
Wisst ihr, der gute Reverend und seine Frau konnten nämlich keine eigenen Kinder bekommen, also taten sie ein Werk christlicher Nächstenliebe und holten sich ein Kind von der Müllkippe des Lebens. Je elender und bedauernswerter dieses Kind war, so meinten sie, umso heller strahlte dadurch das Licht ihrer noblen Geste.
Reginald Coal erhielt zum ersten Mal in seinem kurzen Leben saubere Bettwäsche und warme Umarmungen, und er gewöhnte sich sehr schnell daran. Die Rachitis, die seine frühen Jahre überschattet hatte, verschwand und er wuchs mit der Zeit zu einem stattlichen jungen Mann heran. Wenn Reichskanzler Hitler die Laufbahn meines Vaters nicht durch seinen Einmarsch in Polen abgelenkt hätte, wer weiß, ob er unter anderen Umständen nicht nach Oxford oder Cambridge gegangen wäre? Unter den gegebenen Umständen ging er nach Nordafrika.
Wie so viele Kriegsveteranen sprach mein Vater selten von seinen Erlebnissen, aber er muss sich wohl in der Schlacht bewährt haben, denn er begann als einfacher Gefreiter in Tobruk und kam als Captain in Rom an. Als Reiseandenken hatte er die Brust voller Medaillen, darunter auch das Victoria-Kreuz.
Jetzt hätten Oma Coal und die Lloyds sich bestimmt nur zu gerne mit Reginald sehen lassen.
Er machte allerdings nie viel Aufhebens um seine Auszeichnungen. Sie waren nichts anderes als Sinnbilder dafür, dass er seine Pflicht getan hatte. Er hatte zu viele Kameraden verloren, als dass er Lust gehabt hätte, mit seinen Medaillen anzugeben, also legte er sie nach seiner Heimkehr in eine Blechdose, tauschte sein Schiffchen gegen eine Melone und kümmerte sich um seine Ausbildung.
Und so kam es, dass zwei Jahre (und tausend während nächtlichen Lernens abgebrannte Kerzen) später Reginald Coal schließlich doch noch in Oxford angenommen wurde.
»Warum hieß er immer noch Coal?«
»Was?«
»Warum hieß er immer noch Coal? Warum hat er seinen Namen nicht in Eckett geändert, so wie sein neuer Vater, der Reverend?«, fragte Tommy.
»Er hatte den Namen Coal in seinen ersten zehn Lebensjahren getragen. Man hatte ihn so genannt, weil er im Kohleschuppen gefunden worden war«, erklärte ich. »Der Reverend hielt es für wichtig, dass mein Vater seine Wurzeln nicht vergaß. Wie dem auch sei, ihr sollt mich nicht unterbrechen«, rügte ich, klopfte meine Pfeife gegen die Wand des Ölfasses und griff in meinen Tabaksbeutel, um sie aufzufüllen.
Jedenfalls war das eine erstaunliche Leistung für ein uneheliches Kind, das auf einem Haufen Kohle zum Sterben abgelegt worden war. Und sie wird noch erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass er, während er für das Examen lernte, noch in Vollzeit arbeitete, um mich und meine Mutter zu ernähren.
Ich wurde 1945 geboren, beinahe auf den Tag genau neun Monate, nachdem die Royal Air Force den gefeierten Captain Coal aus Italien für eine Woche in den verdienten Heimaturlaub geschickt hatte. Als er 1946 dann endgültig nach Hause kam, warteten wir schon in einem Cottage in der Nähe von King's Lynn auf ihn. Meine Mutter, Rhea Eckett, war die Nichte des Reverends, und mein Vater hatte sie wahrscheinlich aus Pflichtgefühl seinem Adoptivvater gegenüber geheiratet, oder weil er merkte, dass Geduld doch nicht mehr die höchste Tugend war, wenn einem erst die Maschinengewehrkugeln um die Ohren flogen. Ich weiß nicht, vielleicht bin ich auch etwas ungerecht zu meinen Eltern. Vielleicht liebte mein Vater meine Mutter aufrichtig und war mit ihr auf eine Weise verbunden, die man nur mit dem Herzen erfassen kann. Schon möglich. Weil ich sie aber nicht nur als meine geliebte Mutter kannte, sondern auch als die ewig nörgelnde alte Schreckschraube, die sie leider war, bin ich mir ziemlich sicher, dass Kriegsheld Captain Coal durchaus etwas Besseres hätte finden können. Nach fünf weiteren Jahren voll mit Lernen, Pauken, Büffeln und Schuften wurde mein Vater 1953 endlich Anwalt, und später zu einem der besten Strafverteidiger, die seine Generation hervorgebracht hat.
Über die nächsten fünfzehn Jahre vertrat er sie alle, von Donald Cooper, dem Kühltruhenkiller (gehängt), bis Sir Henry Davenport-Fielding, dem Hausmädchen mordenden Ehebrecher mit einflussreichen Freunden (auch gehängt - seine Freunde waren offenbar gerade nicht da, als er sie gebraucht hätte). Natürlich hatte mein Vater auch seine Erfolge, zum Beispiel Penny Wilson, die Witwe von Wimborne, die dem Galgen entkam, nur um für den Rest ihrer Tage in einer Zelle in Holloway Schals zu stricken - genau solche Schals wie die, die ihren Liebhabern immer die Luft abgeschnürt hatten, wenn sie gerade mit der armen Penny Schluss machen wollten. Dann war da noch Ryan Douglas, der Kidnapper von Colchester, der nicht nur von jedem Verdacht freigesprochen wurde, irgendetwas mit dem Verschwinden von Beryl Ashby zu tun zu haben, sondern es später noch zu einem berühmten Dichter brachte. Avantgardistische Poesieliebhaber und Kritiker bejubelten seine Anthologie Mit den Augen eines Geistes, die nach seiner Verhandlung herauskam. Darin stellte er seine und Beryls stürmische Liebesbeziehung dar, die am Ende in Beryls (rein fiktiver) Entführung und Ermordung durch seine Hand gipfelte. Sie machte den jungen Douglas zum Star, und wahrscheinlich hätte er noch größere literarische Höhen erklommen, wenn Beryls Vater, Gordon Ashby, sich damit begnügt hätte, ihn nach seiner Lesung im The Black Cat nach einem Autogramm zu fragen, anstatt ihm gleich ein Messer in den Hals zu stoßen. Wie auch immer, Gordon Ashby gab daraufhin seinerseits einen sehr sympathischen Angeklagten ab, und das Ansehen meines Vaters wuchs enorm, weil er während des folgenden Gerichtsverfahrens nicht von seiner Seite wich, bis sich schließlich die Falltür unter Ashbys Füßen öffnete.
Tja, so war das in den Fünfzigern. Vergesst die Popstars und Filmidole; Kidnapper und Killer waren damals ebenso groß in den Schlagzeilen wie irgendein Sänger mit wackelnden Knien, der ein kurzes Strohfeuer entfachte - besonders, wenn sie schlussendlich baumeln mussten. Und durch seinen unermüdlichen Beistand für aufsehenerregende Mörder und seinen tadellosen Ruf aus Kriegszeiten wurde der Name meines Vaters berühmt.
Ich sollte am besten von vornherein erwähnen, dass ich immer große Ehrfurcht, um nicht zu sagen: Furcht, vor meinem Vater hatte. Nicht, weil er ein besonders strenger Mann gewesen wäre - ganz im Gegenteil - sondern weil er ein so bewundernswert guter Mann war. In meinen frühen Jahren hatte ich immer das Gefühl, dass ich so unglaublich hohen Anforderungen, wie er sie stellte, niemals gerecht werden könnte. Zwar sagte er nie ein böses Wort zu mir, er verhielt sich auch nicht herablassend oder grausam, aber sein Lob kam nie von ganzem Herzen und seine Anerkennung war eher oberflächlich als aufrichtig.
Aber wie schon gesagt: Denkt bitte nicht schlecht über meinen Vater, denn er war kein schlechter Mensch. Ich war wohl eher ein enttäuschender Sohn, wenn ich ehrlich bin.
Im Herbst '62 ging Mutter für immer in das große Modegeschäft im Himmel ein. Das war damals sehr hart für mich, besonders weil ich ein Einzelkind war, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, denn ich wollte vor meinem Vater nicht als Weichei dastehen. Stattdessen gewöhnten wir uns eine stramme Routine an, lernten die Wäschemangel zu bedienen und erledigten zusammen gerade genug Hausarbeit, um sicherzustellen, dass uns die Unterhemden, Socken oder sauberen Taschentücher unter der Woche nicht ausgingen.
Ich hatte inzwischen die Schule verlassen und bei einem örtlichen Elektriker eine Lehre angefangen....
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