Schweitzer Fachinformationen
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Fast zwanzig Jahre gehe ich nun schon abends über diesen Weg, den Großteil meines Lebens, wie es scheint, und zwar barfuß, sodass die Erde gegen die Wölbung meiner Füße drückt. Nur selten habe ich eine Taschenlampe dabei, damit mich allein der Weg durch die Dunkelheit der Adirondack Mountains trägt. Die Füße berühren den Boden wie Finger eine Klaviertastatur und spielen aus dem Gedächtnis ein schönes, altes Lied, eines von Kiefernnadeln und Sand. Unbewusst steige ich über die dicke Wurzel beim Zuckerahorn, wo sich morgens immer die Strumpfbandnattern sonnen. Dort habe ich mir einmal den Zeh verstaucht, deshalb passe ich auf. Am Fuß des Hügels, wo der Regen den Pfad auswäscht, gehe ich ein paar Schritte durch die Farne, um den spitzen Kieseln auszuweichen. Dann folgt ein Streifen glatter Granit, und ich spüre noch die Wärme des Tages im Stein. Der Rest ist einfach, Sand und Gras, vorbei an der Stelle, wo meine Tochter Larkin als Sechsjährige in ein Wespennest getreten ist, vorbei an dem Dickicht aus Streifenahorn, in dem wir einmal eine ganze Familie Baby-Kreischeulen entdeckt haben, auf einem Ast aufgereiht und tief schlafend. Ich biege ab zu meiner Hütte, genau dort, wo ich die Quelle tropfen höre, ihre Feuchtigkeit riechen und spüren kann, wie das Wasser zwischen meinen Zehen aufsteigt.
Das erste Mal kam ich als Studentin her, um an der Cranberry Lake Biological Station mein vorgeschriebenes Praktikum in Feldbiologie abzuleisten. Hier kam es zu meiner ersten Begegnung mit Moosen, als ich Dr. Ketchledge durch den Wald folgte und mit einer Standard-Handlupe, einer Ward's Scientific Student, die ich aus dem Geräteraum bekommen hatte und an einem speckigen Band um den Hals trug, die Moose entdeckte. Ich wusste, dass ich ihnen verfallen war, als ich am Ende des Kurses einen Teil meiner kargen College-Ersparnisse nahm und mir eine professionelle Lupe von Bausch & Lomb bestellte, die gleiche wie er.
Die habe ich immer noch, und ich trage sie an einer roten Schnur um den Hals, wenn ich meine eigenen Studenten über die Wege am Cranberry Lake führe, wohin ich zurückgekehrt bin, um dem Lehrkörper beizutreten und irgendwann die Bio-Station zu leiten. In all diesen Jahren haben sich die Moose längst nicht so stark verändert wie ich. Der kleine Fleck Pogonatum, den Ketch uns am Tower Trail gezeigt hat, ist immer noch da. Sommer für Sommer halte ich an, um ihn mir genauer anzusehen und über seine Langlebigkeit zu staunen.
In den letzten Jahren haben meine Studenten und ich uns mit Gestein beschäftigt und anhand der Kolonienbildung diverser Moosspezies versucht, so viel wie möglich über ihr Zusammenleben auf Felsblöcken zu erfahren. Jeder Gesteinsblock steht so einsam wie eine Insel in der wogenden See des Waldes. Seine einzigen Bewohner sind die Moose. Wir versuchen herauszufinden, warum auf dem einen Felsblock zehn oder noch mehr Moos-Arten friedlich zusammenleben, während ein nahegelegener Stein, äußerlich gleich, von einem einzigen, singulär hier wachsenden Moos beherrscht wird. Welches sind die Bedingungen, die nicht nur Individuen, sondern darüber hinaus auch gemischte Gemeinschaften ermöglichen? Das ist eine komplexe Fragestellung für Moose, von uns Menschen ganz zu schweigen. Am Ende des Sommers haben wir hoffentlich eine kleine Publikation fertig, unseren gelehrten Beitrag zur Wahrheit über Steine und Moose.
Die Adirondacks sind voll mit glazialen Felsblöcken, klobigen, wie zufällig hingeworfenen Granitstücken, die das Eis vor zehntausend Jahren hier zurückgelassen hat. Ihre moosbewachsenen Ausmaße lassen die Wälder urzeitlich wirken, und dennoch weiß ich, wie sehr sich die Szenerie um sie herum verändert hat, vom Tag, an dem sie hier auf einer unfruchtbaren Fläche des Gletscher-Abriebs gestrandet sind, bis zu den dichten Ahornwäldern, die sie heute umgeben.
Die meisten Blöcke reichen mir nur bis zu den Schultern, aber bei manchen brauchen wir eine Leiter, um sie vollständig untersuchen zu können. Meine Studenten und ich wickeln ein Maßband um sie herum. Wir messen Lichteinfall und pH-Wert, notieren die Anzahl der Spalten und die Stärke ihrer dünnen Humusschicht. Sorgfältig katalogisieren wir die Position sämtlicher Moos-Arten und sagen dabei laut ihre Namen. Dicranum scoparium. Plagiothecium denticulatum. Die Studentin, die alles mitschreiben muss, bittet um kürzere Bezeichnungen. Aber Moose haben in Amerika keine Spitznamen, denn niemand hat sich je für sie interessiert. Sie besitzen nur die wissenschaftlichen Bezeichnungen, die ihnen protokollgemäß und mit juristischer Präzision Carolus Linnaeus gegeben hat, der große Pflanzentaxonom. Sogar sein eigener Name, Carl Linné, erhalten von der schwedischen Mutter, wurde im Dienste der Wissenschaft latinisiert.
Etliche der Felsen hier haben Namen, die rund um den See als Bezugspunkte benutzt werden: Chair Rock, Gull Rock, Burnt Rock, Elephant Rock, Sliding Rock. Jeder Name erzählt eine Geschichte und verbindet uns immer, wenn wir ihn aussprechen, mit der Vergangenheit und gleichzeitig der Gegenwart dieses Ortes. Meine Töchter, die hier aufgewachsen sind und deshalb glauben, dass Felsen einfach Namen haben, erfinden eigene: Bread Rock, Cheese Rock, Whale Rock, Reading Rock, Diving Rock.
Die Bezeichnungen, die wir für Steine oder andere Wesen verwenden, hängen von unserer Sichtweise ab, also davon, ob wir von innerhalb oder außerhalb des Kreises sprechen. Der Name auf unseren Lippen enthüllt das Wissen, das wir voneinander haben, daher die süßen, geheimen Ausdrücke für unsere Liebsten. Die Namen, die wir uns selbst geben, sind eine mächtige Art der Selbst-Bestimmung, der Unabhängigkeitserklärung. Außerhalb des Kreises mögen die wissenschaftlichen Namen ausreichen, aber wie nennen sich innerhalb des Kreises die Moose selbst?
Ein großer Vorzug der Bio-Station ist, dass sie sich von Sommer zu Sommer kaum verändert. Wir können im Juni einfach hineinschlüpfen wie in ein verwaschenes Flanellhemd, das nach dem Holzrauch vom Vorjahr riecht. Sie ist eine Art Lebensgrundlage, unser wahres Zuhause, eine Konstante inmitten der anderweitigen Veränderungen. Es gab keinen einzigen Sommer, in dem in den Fichten beim Speisesaal keine Meisenwaldsänger genistet hätten. Mitte Juli, also bevor die Blaubeeren reif sind, streift regelmäßig ein hungriger Bär durchs Camp. Pünktlich wie die Uhr schwimmen zwanzig Minuten nach Sonnenuntergang die Biber am vorderen Steg vorbei, und der letzte Morgennebel findet sich immer am Südhang des Bear Mountain. Oh, manchmal verändert sich doch etwas. In einem harten Winter schiebt das Eis vielleicht Treibholz ans Ufer. Einmal ist ein silbriger, alter Stamm, dessen einer Ast wie der Hals eines Reihers aussieht, in der Bucht zwanzig Meter weitergewandert. Und in einem der Sommer fanden sich die Saftleckerspechte in einem anderen Baum wieder, nachdem die Krone der alten Zitterpappel vom Sturm weggeblasen wurde. Sogar die Veränderungen bilden bekannte Muster, etwa die Abdrücke der Wellen im Sand, der Wechsel von glatter Seeoberfläche zu meterhohem Wellengang, das Rascheln des Espenlaubs lange vor dem Regen, die abendlichen Wolken, deren Aussehen die Windstärke des nächsten Tages ankündigt. Ich schöpfe Kraft und Trost aus dieser körperlichen Intimität mit der Umgebung, dem Gefühl, die Namen der Felsen und außerdem meinen Platz auf der Welt zu kennen. An diesem wilden Ufer ist meine innere Landschaft ein nahezu perfektes Spiegelbild der äußeren Welt.
Umso faszinierter war ich von dem, was ich heute entdeckt habe, auf einem wohlbekannten Uferweg und nur wenige Meilen von der Hütte entfernt. Mich traf fast der Schlag. Orientierungslos schnappte ich nach Luft und blickte umher, um mich zu vergewissern, dass ich immer noch auf demselben Weg und nicht in irgendeiner Zwischenwelt war, wo die Dinge anders sind als gedacht. Ich bin diesen Weg öfter gegangen, als ich hier aufzählen kann, und dennoch war ich erst heute in der Lage, sie auch zu sehen: fünf Felsblöcke, jeder so groß wie ein Schulbus, dicht beisammen liegend und ineinandergeschmiegt wie ein altes Ehepaar, in den Armen des jeweils anderen sicher und geborgen. Der Gletscher muss sie in diese Liebesstellung geschoben und sich dann weiterbewegt haben. Andächtig umkreiste ich das Felsgebilde und ließ dabei die Fingerspitzen über seinen Moosbewuchs gleiten.
Auf der östlichen Seite befindet sich eine Öffnung, eine höhlenartige Dunkelheit zwischen den Steinen. Irgendwie wusste ich, dass sie da sein würde. Diese Tür, die ich noch nie zuvor gesehen habe, kommt mir eigenartig bekannt vor. Meine Familie gehört zum Bären-Clan der Potawatomi. Der Bär besitzt die Medizinkenntnis für das Volk und hat eine besondere Beziehung zu den Pflanzen. Er ist derjenige, der sie mit Namen anredet und ihre jeweilige Geschichte kennt. Wir rufen ihn an, um über eine Vision die Aufgabe zu finden, für die wir bestimmt sind. Mir scheint, ich folge dem Bären.
Die Landschaft ringsum wirkt alarmiert - jedes Detail hat eine...
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