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Ungeduldig rüttelte sie am riesigen stählernen Gittertor, dass es anfing zu vibrieren. «Hausmeister!», drang es hell in die morgendliche Stille. Mehrmals. Dann kam er herangeschlurft, brummte ein «Ach, du» und schloss das Tor mit geübten Griffen auf.
Jeden Morgen war es das gleiche Spiel. Er kannte das schon seit ein paar Wochen. Sie klopfte und rief, er kam verschlafen zu ihr und schloss auf. In aller Frühe, fünf Uhr dreißig war es gerade, schlüpfte Jinok durch das Tor und hinein in das große ehrfurchterregende Schulgebäude, das noch ganz leer war. Die Schülerinnen und Schüler, die später lärmend hereinströmen würden, lagen noch zu Hause in ihren Betten; zwei Stunden Zeit also für Jinoks großen Traum. Sie hatte bereits eine halbe Stunde Fußmarsch hinter sich, hatte zu Hause Reis gekocht und ihren Proviant für die Mittagspause vorbereitet. Die Rektorin hatte ihr erlaubt, vor dem Unterricht in eines der Musikzimmer gehen und dort zu üben. Rauf und runter ging es dort mit der Stimme und ebenso auf den Tasten des Klaviers. Immer wieder, jeden Tag, denn es war ein immenses Pensum, das sie in knapp fünf Monaten zu lernen hatte.
Ich hatte keine andere Wahl, es war meine einzige Chance. Der damalige seelische Ausnahmezustand ist ihr noch heute, nach vierundfünfzig Jahren, vollkommen gegenwärtig. Wie kam es dazu? Dafür müssen wir weitere acht Jahre zurückgehen.
Mit zehn Jahren erhielt Jinok ihren ersten Klavierunterricht. Ganz hingerissen war sie von den betörenden Klängen, die sich hinter den weißen und schwarzen Tasten versteckten und nur darauf warteten, gleichsam in Emotion versetzt zu werden. Für Jinok, für ihren Körper, ihre Arme, ihre Hände und Finger und für ihre Ohren eine vollkommen neue Erfahrung. Sie saugte alles auf, lernte rasend schnell. Lieder, die sie bei fortgeschrittenen Schülerinnen gehört hatte, konnte sie sofort am Klavier nachspielen, ohne eine Note gesehen zu haben. Ihre Lehrerin ahnte, dass ein roher Diamant vor ihr am Klavier saß, und nahm Jinok mit in die Welten der Musik. Ein Zauber, der unendlich groß und magisch klang, ein fremdartiges Reich, das Wanderungen in seltsamste, bisher nicht bekannte Ecken der Seele versprach.
Nur ein halbes Jahr später fand all das ein abruptes Ende. Ihr Vater starb. Ab diesem Tag musste die kleine Familie, Mutter und drei Geschwister, alles unternehmen, um finanziell über die Runden zu kommen. Die Mutter ging arbeiten, und Jinok kümmerte sich nach der Schule um den jüngeren Bruder. Unterricht am Klavier, das gab der schmale Geldbeutel nicht her. Die geliebten Tasten, die ihr damit verwehrt waren, malte Jinok auf Papier, und das Papier legte sie vor sich auf den Küchentisch. Täglich spielte sie auf den gemalten Papiertasten. Und ließ den Zauber der Musik erklingen. Ja, doch! Sehr deutlich habe sie die Töne und die Musik vernommen, erzählt Jinok ganz trocken, und noch heute kann man sie ab und zu beobachten, wie ihre Hände auf einem Tisch in die Luft musizieren.
Oft, auch später als Erwachsene, auch in Deutschland und nachdem wir längst ein gemeinsames Zuhause gegründet hatten, kam die schmerzhafte Erinnerung an den Vater hoch, ein Verlust, der zu früh kam und das innige Verhältnis unbarmherzig zerstörte. Wieder und wieder sah sie den Vater im Geiste, wie er abends in ihr Zimmer kam und geröstete Kastanien neben ihrem Kopf auf den Nachttisch legte, damit sie am nächsten Morgen von dem süßen Aroma begrüßt würde. Dabei tat sie nur so, als würde sie schlafen. Dann, eines Tages, waren da keine Kastanien mehr. Seitdem steht Jinok in aller Frühe auf, die schönste Zeit, sagt sie, die produktivste und wachste. Gleichsam die Wärme des verlorenen Vaters einatmend.
Vielleicht war es dieser Hauch, vielleicht war es diese innig empfundene und nach dem Tod ausbleibende doppelte Wärme - die des Vaters und die der Musik -, die etwas auslöste. Allerdings nicht sofort. Es brauchte etliche Zufälle, die sich vielleicht gar nicht so zufällig anbahnten, bis etwas ganz Außergewöhnliches geschah.
Zunächst gingen die Jahre dahin. Die ältere Schwester verließ früh das Elternhaus und gründete eine eigene Familie, sodass die Verantwortung für die häuslichen Aufgaben und für ihren Bruder allein auf Jinoks Schultern lag. In der Schule hatte sie viele Freundinnen, durch ihr offenes Wesen wurde sie Klassensprecherin, und sie nahm regelmäßig an den Veranstaltungen des Schulchores teil. Nur eines gab es nicht, Privatunterricht, Musikunterricht.
Jinok war siebzehn, sie stand kurz vor dem Schulabschluss, als ein Gesangswettbewerb aller Seouler Schulen stattfand. Ihre Freundinnen überredeten sie, daran teilzunehmen. Nun muss man wissen, dass koreanische Eltern unbeschreiblich ehrgeizig sind. Sie investieren Unsummen in die Ausbildung der Kinder. Was diese in der Schule lernen, ist ihnen längst nicht genug, nach Unterrichtsschluss werden die Kinder die Woche über und am Wochenende zu teuren Privatdozenten geschickt. Wie Eltern das finanzieren, ist oft ein Rätsel; wie Kinder das aushalten, ebenso. Das Gleiche gilt für den Gesang. Wer an diesem Wettbewerb teilzunehmen gedachte, hatte jahrelangen privaten Einzelunterricht hinter sich und verfügte obendrein über beste Kontakte. Jinok, die nur auf den gemalten Papiertasten am Küchentisch Musik in ihr Herz zauberte, ohne eine einzige Gesangsstunde, sollte also wirklich neben diesen geschulten und getrimmten Kindern singen?
Sie tat es. Wenigstens einmal im Leben wollte sie auf einer Bühne stehen und singen, bevor sie anfangen würde, Geld zu verdienen, möglichst schnell nach dem Schulabschluss und ohne Studium, um die Familie zu unterstützen. Dieses einzige Mal tat sie etwas für sich - und sie gewann den Wettbewerb.
Wer nun aber denkt, das wäre der große Durchbruch gewesen, alle Tore hätten sich ihr geöffnet, der irrt. Sicher, sie hatte großes Talent, aber Talent allein ist kein Selbstläufer. Es muss gefordert werden, braucht intensives Training, Investition in eine Ausbildung und Förderung durch hervorragende Lehrmeister. Dafür fehlten jedoch nach wie vor die finanziellen Mittel. Zwar fand eine Professorin aus der Jury, die ihr empfahl, sich an der Hochschule für Gesang zu bewerben, eine preiswerte Lehrerin. Aber nach einem Monat brach Jinok den Unterricht ab. Die Art des Unterrichts, die Lehrerin, dafür das wenige Geld, das sie hatten, ausgeben zu müssen - das alles gefiel ihr nicht. So ging sie also wieder in den gewohnten Unterricht, und das «normale» Leben hatte sie zurück. Damit hätte die Episode enden können. Die Umstände erlaubten es nicht, dass dieses Talent sich entfaltete.
Sechs lange Monate vergingen. Äußerlich schien sich nichts zu ändern. Dann aber, im siebenten Monat, schrieb Jinok ihrem Schwager einen langen Brief. Sie erklärte ihm, dass sie gern Gesang studieren wolle und dass die Seoul National University die einzige bezahlbare Schule sei (die Studiengebühren an privaten Universitäten sind außerordentlich hoch); dass es sehr schwierig sei, einen Platz an dieser staatlichen Elite-Uni zu erhalten, und dass sie sich deshalb mit einer guten Lehrerin intensiv auf die Aufnahmeprüfung vorbereiten wolle. Ebendeshalb bat sie ihn um finanzielle Unterstützung.
Sechs Monate hatte es also gedauert, bis diese Idee reif genug war, bis Jinok allen Mut zusammennahm - und schrieb. Schon am nächsten Tag kam der Schwager und half bereitwillig aus. Einmal die Woche konnte Jinok nun Unterricht bei einer Professorin nehmen. Dafür ist sie ihrem Schwager zeitlebens unbeschreiblich dankbar.
Doch nüchtern betrachtet, was hatte Jinok damit eigentlich erreicht? In fünf Monaten stand die Aufnahmeprüfung an. Das waren gerade mal zwanzig Unterrichtsstunden. Das waren gerade mal fünf Monate, die sie Zeit hatte, um vierzig Etüden und fünf Arien technisch zu meistern, einzustudieren und auswendig zu lernen. Fünf Monate Vorbereitung für ein Studium mit Klavier im Nebenfach, Gesang im Hauptfach, für Stimmbildung, Interpretation und Vom-Blatt-Spielen. Wie sollte sie das alles schaffen?
Das ist die Vorgeschichte, weshalb Jinok jeden Tag in aller Frühe am großen Eisentor stand. Im menschenleeren Gebäude, lange bevor alle anderen Schüler kamen, übte sie voller Leidenschaft, fünf intensive Monate. Dann, einen Monat vor der Prüfung, erfuhr sie - zum Glück, muss man ja fast schon sagen -, dass auch das Fach Musiktheorie abgefragt würde. Sie fand eine Studentin, die mit ihr den ganzen theoretischen Teil büffelte. Alles erschien ihr irgendwie machbar, es war wie im Rausch, ohne nachzudenken, ackerte sie einfach weiter und weiter und weiter, die Zeit raste, einen Wecker brauchte sie nicht, der Hausmeister war willig, die Rektorin vertraute ihr, so lernte sie und lernte.
Dann kam die Prüfung an der Seoul National University. Die Aufnahmekandidaten standen vor einem Vorhang, hinter dem die Aufnahmejury saß, man sah sich beiderseitig nicht. Hier ging es um ihre Chance auf eine akademische Ausbildung, unabhängig von den eigenen finanziellen Möglichkeiten. Nur für wenige im Land öffnete sich an diesem Tag der Weg an die renommierte Hochschule, und einigen von den wenigen wurde geholfen mit einem Stipendium.
Nun, man ahnt es wahrscheinlich: Ja, Jinok wurde aufgenommen, und ja, sie bekam das begehrte Stipendium. Obendrein durfte sie der Professorin, die ihr die Bewerbung nahegelegt hatte, ab dem ersten Semester assistieren. Dabei verdiente sie ausreichend, um die Familie zu finanzieren. Ihre Mutter musste seitdem nicht mehr arbeiten...
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