Schweitzer Fachinformationen
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Lee Uhwan hatte keinerlei Erinnerung an seine Kindheit. Er konnte nicht sagen, ob er seine Kindheitserinnerungen verloren hatte, weil er sich nicht an sie erinnern wollte; er ging schlichtweg davon aus, dass er von Anfang an unumstößlich ein wertloser Erwachsener gewesen war. Er hatte nichts, woran er sich erinnern und dabei zufrieden lächeln konnte, wenn er sich mal an einem Sommernachmittag eine kurze Pause im Schatten gönnte.
Uhwan arbeitete in der Küche einer Gaststätte. Nicht als Koch, sondern als Küchenhilfe. Er verbrachte den ganzen Tag in einer engen, schwülheißen, stinkenden Küche und schlief in einem engen, schwülheißen, stinkenden Zimmer, das sich neben der Vorratskammer der Gaststätte befand. Jeden Tag stand er in der Morgendämmerung auf. Noch Schlaf in den Augen, nahm er schon das Messer in die Hand. Jene Dinger zu schlachten, das war der Beginn seiner täglichen Arbeit. Es wäre besser gewesen, wenn diese Dinger bereits tot geliefert worden wären, aber die Schlachtung kostete Geld, das der Gaststättenbesitzer nicht ausgeben wollte. Deswegen wurden die Dinger immer lebendig geliefert. Und sie machten einen höllischen Lärm, solange sie am Leben waren. Ein Geräusch, das weder von einer Ratte noch von einem Schwein und genauso wenig von einem Rind stammen konnte. Uhwan schlachtete die Dinger, indem er ihnen nacheinander in die Kehle stach. Anschließend zog er die Haut vom Hinterteil aus bis zum Hals ab. Die Schlachtung und das Hautabziehen dauerten etwa drei Stunden. Danach zerstückelte er sie. Meistens in drei Stücke, oder auch mal in vier, wenn es große Exemplare waren. Die Innereien wurden nicht aussortiert. Es hieß, dass der Geschmack der Suppe aus den Innereien gewonnen werden muss. Uhwan legte die Dinger in einen großen, hohen Topf und gab Wasser dazu. Sie wurden sehr lange gekocht, bis sie sich fast vollständig aufgelöst hatten. Je länger sie gekocht wurden, desto stärker wurde der ekelhafte Gestank. Menschen kannten diesen Gestank als den Geruch von Fleischsuppe.
Lee Uhwan selbst aß die Suppe nicht, die in den Gaststätten angeboten wurde. Ein einziges Mal hatte er sie vor Jahren probiert, aber es war ein Geschmack gewesen, der in seiner Erinnerung weder unter den guten noch unter den schlechten abgespeichert gewesen war. Als der Koch ihm angeboten hatte, ihm beizubringen, wie man die Fleischsuppe kocht, hatte er es abgelehnt. Er war Mitte 40. Er hatte vor, auch im nächsten Jahr, im Jahr 2064, Mitte 40 und als Küchenhilfe tätig zu sein.
In der Gaststätte arbeitete neben dem Besitzer, dem Koch und Uhwan noch eine Küchenhilfe. Der Besitzer war ein alter Mann Ende 80. Für sein Alter war er jedoch durchaus fit und sah gesund aus, obwohl ihm der rechte Arm fehlte. Wie er seinen Arm verloren und was er früher gemacht hatte, bevor er die Gaststätte eröffnete, wusste keiner. Für einen alten Mann Ende 80 interessierte sich schließlich niemand.
Die Lieblingsbeschäftigung des alten Mannes war es, jemanden zu sich zu zitieren und ihm eine Geschichte zu erzählen. Derjenige, der vor ihm Platz nehmen und ihm zuhören musste, war meistens der Koch. Immer wenn er ein bisschen Zeit hatte, erzählte der Gaststättenbesitzer von der Fleischsuppe, die er früher einmal gegessen hatte. Auch heute war er gerade dabei, dem Koch von dieser Suppe zu erzählen.
Für diese Suppe wurde ein bestimmter Teil eines Rindes sehr lange in Wasser gekocht, und vor dem Servieren gab man klein geschnittene Frühlingszwiebeln hinzu. Mal nannte der alte Mann diese Suppe »Knochenbrühe« und mal »Knochensuppe«. Uhwan bekam ebenfalls Lust auf jene Suppe, sobald er das verträumte Gesicht seines Chefs sah, wie er sich an den Geschmack erinnerte und dabei erklärte, welcher Genuss die Brühe für seinen Gaumen und wie schmackhaft das Fleisch in der Suppe gewesen war. Im Vergleich zu Uhwan wirkte der Koch jedes Mal hilflos, wenn sein Chef von der Knochensuppe erzählte, denn er hatte tatsächlich schon einmal die Knochensuppe gegessen. Allerdings in seiner Kindheit, weswegen er sich an ihren Geschmack nicht mehr erinnern konnte. Überdies kochte er die Suppe, die im Lokal angeboten wurde, genau nach jenem Rezept der Rindfleischsuppe, das er von seinem Chef erhalten hatte. Mehr Möglichkeiten standen ihm nicht zur Verfügung. Er kannte keine andere Methode, näher an den Geschmack heranzukommen, von dem der Gaststättenbesitzer schwärmte. Doch der alte Mann gab nicht auf. Uhwan dachte, dass ein Geschmack wohl wie eine schöne Erinnerung sein musste. Ein unvergesslicher Geschmack war wie eine unvergessliche Erinnerung. Sonst gab es keine Erklärung dafür, wie man jeden Tag von ein und demselben Geschmack reden konnte, und das auch noch mit so viel Passion und Elan.
Uhwan war im Begriff, die Gaststätte zu schließen und in sein kleines Zimmer zu gehen, um sich schlafen zu legen, aber der Koch wollte noch mal mit ihm reden. Er sah genauso hilflos aus, wie wenn er dem alten Mann zuhören musste.
»Äh . Kennst du . vielleicht . eine Beinscheibe?«
»Wie bitte? Was für eine Beinscheibe? Meinst du die Kniescheibe? Ist jemandem die Kniescheibe zertrümmert worden?«
Uhwan war zumindest bekannt, was eine Kniescheibe war. Aber die Frage des Kochs rief in ihm ein ungutes Gefühl hervor. Eine Beinscheibe? Er fühlte sich unbehaglich. Intuitiv spürte er, dass es um etwas Ernstes ging, aber worum genau, konnte er nicht einmal erahnen. Er hatte nur so ein Gefühl, dass etwas Entsetzliches geschehen war.
Der Koch sagte noch zögerlicher und mühsamer: »Machst du . vielleicht . verreist du vielleicht gerne?«
Uhwan sagte nichts.
Nun verstand er den Koch. Etwas Entsetzliches war geschehen, und dies könnte auch Auswirkungen auf ihn haben, weshalb er von hier abhauen sollte. Was jedoch war überhaupt passiert? Uhwan war dem Koch plötzlich dankbar dafür, dass er sich um ihn kümmerte. Als er jedoch so darüber nachdachte, kam ihm in den Sinn, dass der Koch kein Mensch war, der einfach so nett zu jemandem ist. Er würde sich nicht um andere kümmern, nur weil jemandem eine Kniescheibe zertrümmert worden war. Die Worte des Kochs konnten auch durchaus bedeuten, dass Uhwan gefeuert war. Er hatte länger in dieser Gaststätte gearbeitet als der Koch selbst, dennoch war er letzten Endes nichts weiter als eine Küchenhilfe. Es gab auch noch Bongsu, der ebenfalls als Küchenhilfe arbeitete, aber dieser war verheiratet. Wenn er das Ganze so betrachtete, musste er sich eingestehen, dass es nur fair war, wenn ihm und nicht Bongsu gekündigt wurde. Trotz allem war auch das eine nicht ganz überzeugende Erklärung für das Verhalten des Kochs .
Bongsu war sofort auf Hundertachtzig, als Uhwan ihm von dem Gespräch erzählte. Und das, bevor er überhaupt Genaueres wusste.
»Und? Weißt du etwas darüber? Ich meine, ob du weißt, wie eine Beinscheibe aussieht?«
»Äh . so wie das hier. Er hat mehrere Bilder gezeichnet und mir gegeben«, sagte Uhwan und zeigte Bongsu eines davon.
Bongsu schaute sich das Bild äußerst konzentriert an, weil auch er die Beinscheibe nicht kannte. Was er zu sehen bekam, war ein Kreis, der aber nicht symmetrisch, sondern seitlich etwas eingedrückt war. Als hätte jemand einen Kreis gezeichnet, während jemand anderes permanent an seiner Hand gezogen hatte, sodass nur unter großer Anstrengung so etwas wie ein Kreis zustande gekommen war. Etwas, unter dem sich auch Bongsu absolut nichts vorstellen konnte.
»Was für ein Scheiß! Wie soll man mit so einer Zeichnung diese Beinscheibe finden?«
Uhwan schwieg.
»Verdammte Scheiße! Für den lächerlichen Geschmack einer Suppe sollst du dich in Lebensgefahr begeben?«
Uhwan schwieg weiter.
»Hör mir zu. Diese Zeitreise, von der der Koch geschwatzt hat, heißt nur Zeitreise. Von dieser sogenannten Reise ist noch kein Schwein jemals zurückgekehrt. Alle beißen ins Gras. Denk mal nach. Warum sollen nur mittellose Schweine wie wir diese Reise antreten, wenn sie wirklich so fantastisch sein sollte? Warum nur diejenigen, die Geld brauchen? Weil es gefährlich ist. Weil es verdammt gefährlich ist! Deswegen! Was hast du davon, wenn der Chef dir deine eigene Gaststätte gibt? Hast du nicht gesagt, dass du kein Interesse hast, Koch zu werden? Nehmen wir einfach mal an, auch wenn es denkbar unrealistisch ist, also nehmen wir einfach mal an, dass du richtig gelernt hast, wie man diese verdammte Knochensuppe oder was auch immer kocht, und dass du auch jede Menge von diesen Beinscheiben hier auf dem Bild eingekauft hast. Was bringt dir das denn, wenn du nicht zurückkehren kannst, sondern dabei draufgehst? Wenn man tot ist, ist alles gelaufen. Alles gelaufen, hörst du?«
Uhwan erwiderte nichts.
Für ihn ging es jedoch nicht nur ums Geld. Er hatte abgemacht, die...
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