Schweitzer Fachinformationen
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»Ich habe neulich einen interessanten Artikel gelesen«, sagt Umma und schaut uns über den Rand ihrer Lesebrille an. Sie sitzt mit überschlagenen Beinen auf dem Sofa, ihre Füße zeigen in Richtung Tür. Ji-hyun fällt dieses winzige Detail vielleicht nicht auf, aber mir schon. Immerhin hat meine Mutter schon eine Weile nicht mehr so getan, als müssten Schrank oder Schuhregal aufgeräumt werden, was ich als riesigen Fortschritt verbuche.
Mein Studium hat erst vor wenigen Wochen begonnen, aber ich ertrinke bereits in Arbeit. Ich blicke von meinem Platz am Küchentisch auf, wo ich meine Bücher ausgebreitet habe. Alles ist voller Radierkrümel. Ich wische sie mir vom Pullover und sehe zu, wie sie zu Boden fliegen. Ji-hyun sitzt neben mir und umschlingt mit einem Arm ihre Knie. In der anderen Hand hält sie ihr Handy und scrollt stumpfsinnig vor sich hin. Sie scheint nicht mitbekommen zu haben, dass Umma etwas gesagt hat.
Umma räuspert sich und sagt dann etwas lauter, »Der Artikel war sehr aufschlussreich.«
In letzter Zeit versucht unsere Mutter ständig, uns in dämliche Gespräche zu verwickeln. Sie erwähnt völlig verrückte Dinge, wie Verschwörungstheorien, von denen sie im Internet gelesen hat, oder Nachrichtenmeldungen, die kein normaler Mensch je glauben würde. Neulich Abend beharrte sie darauf, dass die Mondlandung gefakt war. Als Ji-hyun und ich zu diskutieren anfingen, wirkte sie beinahe glücklich, auch wenn wir uns letztendlich fast eine Stunde lang stritten und Ji-hyun am Ende in Tränen aufgelöst war. Ich weiß nicht, ob es an Ummas Einsamkeit liegt oder ob sie Langeweile hat, aber Ji-hyun und ich passen inzwischen lieber auf, was wir sagen.
»Warum ignoriert ihr eure arme Mutter?«
»Tun wir doch gar nicht«, sagt Ji-hyun ausdruckslos und ohne von ihrem Handy aufzublicken.
»Sieht aber so aus.«
»Okay.«
Zerstreut blättere ich durch eines meiner Bücher. In diesem Semester belege ich Philosophie 4: Philosophische Analyse gegenwärtiger moralischer Fragen. Das Seminar ist nicht leicht und der Lesestoff ist sperrig und verwirrend. Immer wenn ich zu jammern anfange, sagt Ji-hyun, ich sei zu streng mit mir selbst.
»Gut«, sagt Umma schnippisch. »Wenn ihr euch nicht für mich interessiert, kann ich ja auch einfach direkt in ein Loch kriechen und sterben. Wenn ich weg bin, werdet ihr euch wünschen, netter zu mir gewesen zu sein.«
Ihre Stimme klingt angespannt, man kann ihre Verzweiflung hören. Umma spricht jetzt schneller, die koreanischen Wörter fließen über ihre Zunge wie Wasser. Sie macht keine Pausen, wie sie es sonst tut, damit wir ihr folgen können. Ji-hyuns Augen werden schmal. Meine Schwester weiß genauso gut wie ich, dass unsere Mutter in Tränen ausbrechen oder ihre Wut an uns auslassen wird, wenn wir sie weiter ignorieren. Seufzend lege ich meinen Bleistift beiseite und wische mir die Grafitspuren vom Handgelenk. »Okay. Ich höre.«
Ummas Stimmung schlägt augenblicklich um, ihre Melancholie ist wie weggeblasen, sie beugt sich vor und legt die Hände zusammen. Das Sofa knarzt unter ihr, als würde es sich über jede ihrer Bewegungen beschweren. »In dem Artikel ging es um eine Frau, die hundert Dates mit hundert verschiedenen Männern hatte«, sagt sie. »Es war ein Experiment, um herauszufinden, welche Männer am besten für Dates geeignet sind und welche am schlechtesten.«
Ji-hyuns Interesse ist geweckt. Sie lässt ihr Handy sinken und schaut Umma erwartungsvoll an. Ich muss ein Kichern unterdrücken. Meine Schwester ist verrückt nach Jungs, was in ihrem Alter vermutlich ganz normal ist. Ji-hyun bemüht sich, ihr Gefühlsleben zu verbergen, und sie wird jedes Mal sehr still, wenn ich sie nach Jungs aus ihrer Schule frage. Sie weiß nicht, dass ich ihr Tagebuch im Schrank gefunden habe, in dem sie ausgiebig von »Andrew« berichtet.
»Und?«, fragt Ji-hyun.
»Was und?«, sagt Umma grinsend.
»Jetzt spann uns nicht auf die Folter«, beschwert sich Ji-hyun. »Sag schon. Wer ist am besten geeignet und wer am schlechtesten?«
Umma holt tief Luft. »Die Frau sagt, weiße Männer sind am besten und koreanische Männer am schlimmsten.«
»Was? Warum?«, frage ich. Umma will uns wieder in eines ihrer haarsträubenden Gespräche verwickeln, aber ich kann nicht anders. Ich bin zu neugierig.
»Ist das nicht offensichtlich? Koreaner sind unhöflich, dickköpfig, launisch und aufbrausend.« Unsere Mutter schnieft laut und schaut kurz zur Tür. »Sie haben keine Ahnung von rücksichtsvollem Verhalten. Sie glauben, alles besser zu wissen. Die Autorin schreibt, dass sie ein Date mit einem Koreaner hatte, der sie dazu brachte, das Essen zu bezahlen, nur um sie dann später am Telefon eiskalt abzuservieren.«
»Ich finde nicht, dass das irgendetwas beweist«, sage ich und lege mir meine Worte zurecht. Ich will sie nicht vor den Kopf stoßen oder einen Streit vom Zaun brechen. »Nur weil dieser eine Kerl furchtbar war, heißt das nicht, dass alle koreanischen Männer furchtbar sind.«
»Doch, das tut es«, schnaubt Umma. »Da kannst du jeden fragen. Zum Beispiel meine Kolleginnen aus dem Supermarkt. Keine von ihnen hat einen anständigen Ehemann. Das sind alles nichtsnutzige Gauner. Und wisst ihr, was sie gemeinsam haben? Es sind Koreaner!«
»Aber wie viele Dates hatte sie denn wirklich?«, frage ich und unterbreche ihre Schimpftirade. »Wenn sie nur einen Koreaner gedatet hat und jetzt behauptet, alle Koreaner seien schrecklich, dann ist das schon schräg, oder? Warum schließt sie von einer Person auf eine ganze Gruppe? Das ist so, als würde jemand davon ausgehen, dass ich ein Ass in Mathe bin oder eine schlechte Autofahrerin, nur weil ich Asiatin bin ...«
»Du bist ja auch eine schlechte Autofahrerin«, sagt Ji-hyun. Ich funkele sie böse an.
Umma macht ein mürrisches Gesicht und verschränkt die Arme vor der Brust. »Könnt ihr nicht einmal meiner Meinung sein?«
Ich schüttele den Kopf und Ji-hyun ist klug genug, um das Thema zu wechseln. »Ich frag mich eher, warum weiße Männer die besten sind«, sagt sie.
»Du glaubst diesen Quatsch doch wohl nicht, oder?«, frage ich.
»Lass Umma doch mal ausreden. Ich will das hören, Unni.«
Umma strahlt. »Meine Süße«, zwitschert sie, bevor sie fortfährt. »Die Autorin schreibt, dass die weißen Männer am höflichsten und aufmerksamsten waren. Sie waren gute Zuhörer und sprachen offen über ihre Gefühle, ganz ohne Feindseligkeit. Sie haben die Frau gefragt, was sie gern unternehmen würde, und haben nicht über Kleinigkeiten mit ihr diskutiert. Einige brachten zur ersten Verabredung sogar Blumen mit.«
»Wie kitschig«, sagt Ji-hyun.
»Das sagst du jetzt, aber warte mal ab, bis du älter bist.« Umma schiebt ihre Brille hoch. Ihr Gesicht glänzt und sie hat Schweißperlen auf der Stirn. »Dann wirst du dich über Blumen freuen. Glaub mir. Habt ihr schon mal von einem weißen Mann gehört, der seine Freundin oder Frau schlecht behandelt? Ich jedenfalls nicht!«
»Das ist doch lächerlich. Du kennst überhaupt keine weißen Männer«, sage ich.
»Stimmt nicht. Ich kenne viele. Einige kaufen manchmal bei uns im Laden ein und die sind sehr freundlich und gut aussehend. Und groß.« Sie hebt die Hand, um das Gesagte zu verdeutlichen.
»Du projizierst doch bloß alles auf andere«, sagt Ji-hyun.
Umma weiß nicht, was projizieren bedeutet, aber sie weiß, dass es etwas Schlechtes ist. Ihre Lippen werden zu einem schmalen Strich und ihr Kinn zittert. Tränen steigen ihr in die Augen und plötzlich fängt sie an zu schluchzen. Ji-hyun und ich springen erschrocken auf und sehen uns an.
»Warum hört ihr mir nicht zu? Ist es denn so schlimm, dass ich nur das Beste für euch beide will?«, ruft Umma. »Ihr seid alles, was ich noch habe. Sonst gibt es niemanden. Ich will doch nur, dass es euch gut geht, dass ihr jemanden kennenlernt, der gut zu euch ist. Ich will nicht . Ich will nicht, dass euch das Gleiche passiert wie mir.« Sie schlägt die Hände vor das Gesicht und sackt in sich zusammen. »Ich bin eine alte, hässliche Frau, die niemand liebt. Ich werde für immer allein bleiben. Ich hätte euren Vater nicht heiraten sollen . Ich hätte warten sollen . Mir einen netten, weißen Mann suchen. Dann wäre jetzt alles anders.«
Die Zeit steht still. In meiner Brust steigt Hitze auf. Meine Mutter so verzweifelt zu sehen - tränenüberströmt und mit weit aufgerissenem Mund - ist mehr, als ich ertragen kann. Ich will aus der Wohnung flüchten, einfach verschwinden. Warum hört sie nicht auf zu weinen? Ich schließe die Augen und Ji-hyuns Stimme übertönt das Geheul.
»Du bist nicht alt«, sagt sie.
Umma wird leiser. »Bin ich nicht?«
»Nein. Du bist erst dreiundfünfzig. Das ist noch jung. Und wie kannst du sagen, dass du hässlich bist? Alle meine Freundinnen finden dich wunderschön. Und wenn du jemand anderen als Appa geheiratet hättest, dann wären Unni und ich nie auf die Welt gekommen.«
Der Knoten in meiner Brust löst sich. Meine Schwester hat ein Talent dafür, Konflikte zu umschiffen, Spannungen abzubauen, Krisen zu beenden. Ich hingegen bin grob und unbeholfen. Stresssituationen machen mich panisch. Umma sagt immer, Ji-hyun habe gutes Nunchi und sie sei aufgrund ihres ausgeprägten Taktgefühls koreanischer als ich.
»Würdest du das wollen?«, fährt Ji-hyun fort. »Ein Leben mit zwei ganz anderen Töchtern und nicht mit uns?«
Ich halte die Luft an und warte auf Ummas Reaktion. Zu meiner Erleichterung kichert sie los.
»Du hast recht«, sagt sie und streckt den Arm aus, um Ji-hyun am...
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