Schweitzer Fachinformationen
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2 Nachts wird Amarâq von einer Schwärze übermalt, so dickflüssig wie unvermischte Farbe, dann existieren weder der Fjord noch die Berge, Täler, Seen oder der Fluss, es gibt bloß eine schwarze Masse, ein Nichts, das sich fleckenweise über der Landschaft verteilt, den Rest bedrängt, aber Lücken zulässt, die es mit abstrakten Elementen, Lichtspielen, Lichtwellen, einem Meer aus Licht, füllt.
Nachts verwandelt sich Amarâq in eine weite Ebene, die zweite Dimension verschmilzt mit der dritten, die Erde mit dem Himmel, und alles ist mit einem Mal Himmel. An klaren Nächten funkeln die Sterne wie erleuchtete Fenster eines fernen Ortes, an wolkendichten Tagen gesellt sich zur Finsternis ein Nebel, so undurchlässig, dass man glaubt, jemand habe ein weißes Leintuch über die Stadt gebreitet, das zwar die Dunkelheit verdünnt, Amarâq dafür stark verkleinert: jene Teile, die unter dem Laken liegen, scheinen nicht mehr zu existieren –
bis zum nächsten Wind. In mondarmen Nächten dehnt sich diese Finsternis weiter aus, dann wird die Erde von silbrig schimmernden Eisbergen markiert, die wie Bilder aus einer Vergangenheit durch die Ebenen schweben, undeutlich, unnahbar, und beobachtet man sie, wird man sich im Wunsch verlieren, sie zu fassen, ihre Konturen nachzuzeichnen, ihre Formen, so bizarr sie auch sein mögen, so außerirdisch. Schließlich wird man sich an eine Sehnsucht erinnern, von der man nicht wusste, dass man sie besaß.
Sivke trinkt aus dem Glas, das ihr Jens gegeben hat. Sie steht vor dem Fenster bei den drei Veilchen, die hartnäckig in ihren Töpfen wachen, so überaus fremd am Ende der Welt, so vollkommen fehl am Platz. Sie sind genauso übernächtigt wie das Gespräch, das Jens anstrengt, das aber nach jedem Satz abstirbt, in dieser nüchternen, weißen Wohnung, die, indem sie ausschließlich das Nötigste bereitstellt, jede Stimmung sterilisiert, dabei will Sivke die Worte nicht welken lassen, sie mag Jens, sie glaubt Jens zu mögen, doch die Taubheit des Raumes treibt sie dazu, sich an die Aussicht zu klammern: Es ist wärmer hier, voll Leben, im Licht der Straßenlaterne geht ein Mensch vor dem Haus auf und ab, ein Mädchen.
Julie stand an einem der Fenster, so breit und hoch wie die Wand, mit Blick auf den Fjord. Tatsächlich war sie versucht zu glauben, sie stünde vor einem Aquarium, ohne Fische oder Meeressäuger, dafür gefüllt mit braungrauen Bergen, lichtblauem Wasser, bei Sonnenschein glatt, bei Bewölkung gelockt, und Pyramiden aus Eis, deren Gipfel im Sommer vereinzelt durch die Bucht schwimmen, stark geschrumpft: Eishaie. Abgesehen von einer Sitzgruppe, einem Tisch und vier Stühlen aus hellem Holz, gab es in diesem Raum noch eine Küchenzeile mit Kühlschrank, Mikrowelle und Kaffeemaschine sowie ein braunes Sofa, das durch seine durchdringende Farbe und die Aufstellung in der Raummitte herausstach, als wäre es ein Ausstellungsstück: auf ihm zu sitzen fühlte sich an, wie im Zimmer zu stehen.
Es war der Morgen danach. Während Jens Kaffee kochte, beobachtete er Julie aus den Augenwinkeln. Wie groß sie ist, sie ist ein langes Wesen, dachte er, langgezogen, Tentakel kamen ihm in den Sinn, im Gegensatz dazu sind ihr Mund, die Nase und die Augen sehr klein, sie scheinen sich vom Rand wegbewegt und in der Gesichtsmitte versammelt zu haben, keine friedliche Versammlung, sondern eine Demonstration, ein Protest. Auf den zweiten Blick aber ist Julie die menschliche Entsprechung zur Landschaft Amarâqs: Ihr Körper ist das Gebirge, das Meer, die Weite und Leere, ihr Gesicht dagegen die in der Natur verstreute Flora, Miniaturblumen und -büsche, Moose und Beeren, und man kann sich geradezu in ihrem Blick verirren, dachte er, denn er fordert es heraus, ihn zu studieren, aber die Abzweigung zu vergessen und den falschen Weg einzuschlagen. Er ist klein, dachte Julie, er reicht mir gerade bis ans Kinn, ich muss mich zusammenkauern, wenn ich neben ihm stehe, in die Knie gehen, mich reduzieren um einen Kopf, doch er kommt aus der Ferne, dachte sie und sah, wenn sie ihn ansah, eine Tür, einen Ausgang.
Sein Schlagzeug liegt auf der Straße, die Trommeln, die Lautsprecherbox und der Drahtsitz. Per Kunnak zündet sich eine Zigarette an, Malin hat es draußen liegen gelassen, in der Pfütze, in der sich ihr Haus spiegelt, so hart ist das Wasser, so glatt, ein deutliches Zeichen, dass er nicht mehr willkommen ist.
Dies ist ihre dritte Trennung, und er weiß nicht, ob sie ihn dieses Mal wieder aufnehmen wird, wenn sie sich beruhigt hat, vor allem ist er nicht sicher, ob er wieder aufgenommen werden will. Er schnippt die Asche auf die Erde und setzt sich neben die große Trommel, deren Haut eingerissen ist. Um seinen Hals trägt er die Walflossen-Amulette, die er tagsüber nicht verkaufen konnte, in der rechten Tasche klappern kleine Figuren aus Robbenknochen, Eisbären und Tupilaks, die ebenfalls zum Verkauf stehen, heute jedoch nahm ihm niemand etwas ab, er greift in die linke Jackentasche und wiegt die letzte Dose Bier in der Hand. Während er sie öffnet, überlegt er, wo er die nächste herbekommen wird, vor der Disko in einer halben Stunde, denkt er, dann warten alle auf den Einlass, und die Ungeduldigen werden schon begonnen haben zu feiern, von ihnen Bier zu schnorren ist einfach. Vorher, denkt er, wird er nachsehen, ob Malin Geld im Haus hat, er drückt die Zigarette aus, sie hat immer ein paar Kronen in der Schublade.
Malins Haus ist blau, die Farbe hat sich in all den Jahren vom Holz gelöst, es sieht nun gewaschen aus, geschrubbt, abgeschminkt wie die Nachbarhäuser, deren Dächer mit Planen aus Plastik abgedeckt und deren Fundamente schwarz vor Nässe sind, das Holz morsch; das Geländer ist mit Seilen notdürftig repariert. Auf dem Dach steckt noch die Holzkonstruktion, die Stangen, die er befestigt hat, damit Malin Fische trocknen, einen Vorrat für den Winter anlegen kann. Er geht die Stufen hinauf zur Eingangstür und klopft. Wenn sie öffnet, wird er sich entschuldigen, denkt er, er braucht einen Vorwand, um in die Küche zu gehen und die Schublade neben dem Kühlschrank zu durchsuchen, dort bewahrt sie ihr Erspartes auf.
Niemand antwortet. Es bleibt dunkel. Malin ist ausgegangen. Wahrscheinlich ist sie bei ihrer Mutter und heult sich aus, denkt Per, was kümmert es ihn, er drückt die Klinke hinunter, einen Dreck, er rüttelt an der Tür, abgeschlossen, er wird das Fenster benutzen müssen wie das letzte Mal, er grinst, als sie ihn hinausgeworfen hat wegen Ulrika, sie dachte, er hätte sie betrogen, nicht zum Zeitvertreib lieben, schrieb er sich damals hinter die Ohren, warum denn nicht, denkt er heute Nacht, springt auf die Erde und bückt sich nach einem Stein.
Der Schatten löst sich widerwillig von der Dunkelheit, geht auf Jens’ Haus zu, verschwindet aus Sivkes Sichtfeld, und Sivke drückt ihr Ohr an das Fensterglas. Die Nacht saugt Laute aus der Luft, sie muss sich ihnen nähern, versuchen, sie mit der Ohrmuschel einzufangen –
als sie Jens rufen hört.
Was ist denn? Wo bleibst du?
Sie schüttelt den Kopf, legt den Zeigefinger auf ihre Lippen.
Schsch…
Julie tritt unter dem Hausdach hervor, unter die Straßenlaterne, schlaksig, dünn, die Haare schulterlang, strähnig, das T-Shirt schmuddelig, und Sivke wundert sich, dass sie um diese Uhrzeit in einem dünnen Leibchen herumläuft, die Jacke um die Hüfte gebunden, dann fällt ihr ein, dass sie sie noch nie etwas anderes hat tragen sehen. Wieder hält sie ihr Ohr an die Scheibe, sie möchte hören, was als Nächstes geschieht: Nichts, noch immer vertreibt das Dickicht der Stille die Geräusche der Nacht.
Sivke umfasst die Klinke, sie ist kalt, eisig, drückt sie im Uhrzeigersinn hinunter, das Fenster öffnet sich mit einem Seufzen, in diesem Moment dreht sich Julie um die eigene Achse, eine schnelle Drehung, die eine Spur in der Luft zu hinterlassen scheint, eine Spirale, und sieht Sivke entschlossen an, und die Wortlosigkeit, die diesen Blick umgibt, scheint ihn zu schützen, zu retten, als gehörte er gerettet.
Erst als Jens zum dritten Mal fragt, was denn los sei, warum sie nicht antworte, winkt Sivke ihn zu sich ans Fenster.
Vielleicht möchte sie zu dir?
Er ignoriert ihre Frage, schnappt ihre Hand und führt sie ins Schlafzimmer, die erste Tür im Gang rechts, ein kleiner quadratischer Raum, der durch das Bett und den Kleiderschrank so gut gefüllt ist, dass er kaum Platz zum Umkleiden lässt.
Eine Leine mit dazugehörigem Spielzeughund hing aus Pias Hosentasche, während Caroline, der falsche Zwilling, sie hatte sich Pias Gesicht nur geborgt, Jens bewachte und ihre Klauen in seine Hosenbeine grub. Martin griff nach dem nächsten Umzugskarton, Johanna half ihm, die Schachteln in den Jeep zu schlichten, der Wagen war von Gunnar, dem Taximann, geliehen. Die Mädchen bellten, knurrten, scharrten mit den Füßen, manchmal wedelten sie mit unsichtbaren Schwänzen, diese Woche waren sie Hunde, letzte Woche Vögel, hatten mit ihrem Geflatter die bewegliche Landschaft der Küche versehrt –
Martin griff seinen Töchtern in die Haare, dirigierte sie heimwärts, sie versuchten, ihn zu beißen, schnappten nach seinen Händen, Fingern, er sagte, bye, und zog sie nach draußen, sie bockten, rodelten auf der Erde, er musste sie ein paar Schritte weit mit sich ziehen, sein Abschiedsgruß an Johanna wurde von ihrem Jaulen untermalt.
Jens, endlich frei, nahm seine Taschen und trug sie ins Wohnzimmer. Johanna führte den Mieter durch das Haus, zeigte ihm, wo sich die Sicherungen befanden, wo die Waschmaschine, der Staubsauger, die Töpfe, Pfannen, Teller und Tassen, wo das Bettzeug gestapelt war, wo die Badetücher, Handtücher,...
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