Schweitzer Fachinformationen
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Als wir oben am letzten Festungsturm angelangt sind, treffen wir die Kinder wieder. Nun sitzen sie in der Falle und es gibt für sie kein Entrinnen. Den Lehrerinnen ist es offensichtlich gelungen, sie an dieser engen, grasüberwachsenen Stelle zu sammeln. Bergauf hatten sie uns mit fröhlichem Geschrei überholt und uns im Vorbeigehen zugewinkt - »Hello!« Irgendwie hatten sie es geschafft, sich an uns vorbeizuschlängeln und auf dem schmalen und steilen Pfad den Berg hinaufzurennen. »Hello!«
Nicht nur die Kinder halten mich für einen Ausländer, sondern auch ihre keuchenden Lehrerinnen. Die Ärmsten haben sich für den Ausflug extra schick gemacht und stöckeln nun mit ihren High Heels mühsam den Hang hinauf. Sie bemühen sich, die vorwegströmenden Kinder durch ihre Rufe zu zügeln.
Damit ihnen dieser Ausflug auf die Chornabudschi-Festung ja nicht zum Verhängnis wird; damit nicht eines der ihnen anvertrauten und über die Felsvorsprünge davonrennenden Kinder irgendwo abstürzt. Sie schreien, flehen und drohen. Doch all ihre Mühe ist vergebens. Wer kann Kinder schon einholen, sie zügeln?
Viel weiter können wir auch nicht gelangen und richten uns gleich dort ein, am Rande der kleinen Aussichtsplattform. Ich bin mit Stativ, Teleskop, Fernglas und zwei Fotoapparaten vollgehängt und lade nun eins nach dem anderen ab. Außer einer Wasserflasche und einer Canon habe ich nichts Eigenes dabei. Alles gehört meinem alten Engländer, es ist sein Hobby. Er ist auch mit zur Festung aufgestiegen. Ich habe gewusst, dass er das schaffen würde. Beim beschwerlichen Aufstieg hat er sich am Gras und den Dornenhecken festgehalten und immer wieder eine Pause eingelegt. Woher nimmt er bloß seine Kraft, der verschrumpelte Mann, dessen dürre Beine aus den weißen Shorts ragen? Keine Ahnung, ich wusste nur, dass er das schaffen würde, so wie alle anderen Höhen, die wir in den letzten zehn Tagen bestiegen haben. Was bleibt ihm anderes übrig, es ist ein bergiges Land, mit Auf und Ab. Wenn man was sehen will, muss man hochsteigen.
Wir bauen alles auf, und die Kinder interessieren sich viel mehr für das Teleskop als die Erzählungen ihrer Lehrerin. Hier haben sie aber keine Chance, irgendwohin zu entwischen.
»Was ist das für ein Vogel?« Der Engländer zeigt zum Himmel und reicht mir das Fernglas, ehe er richtig verschnauft hat.
»Ein Zwergadler.« Ich erkenne ihn auch ohne Fernglas. Die habe ich schon öfters hier gesehen.
»Stimmt, sieht so aus .« Und ob das stimmt! Die Kinder können kaum abwarten zu sehen, was wir mit unserem Teleskop und Fernglas beobachten und wonach wir suchen. Mir hängt das Beobachten schon zum Halse raus. Am liebsten würde ich auf der Stelle ein Nickerchen machen. Die Sonne scheint mild, und es ist weder heiß noch kalt. In der Nähe zirpt eine Grille und unten im Tal fließt der Alasani im Einklang mit der monotonen Stimme der Lehrerin, die den Kindern vom blutgetränkten Land der Vorfahren erzählt und dem hohen Preis für den Erhalt der eigenen Nation, des Glaubens und der Bräuche. Es sind drei Lehrerinnen. Während eine erzählt, zischen die anderen zwei. Sobald die Kinder von einer Unruhe- oder Flüsterwelle erfasst werden, fauchen sie sehr komisch. König Wachtang, Königin Tamar und der Held Giorgi Saakadse - alles wohl bekannte Protagonisten. Und noch etwas: König Teimuras hatte wohl die Oberhäupter der Familie Dschawachischwili im Verlies der Chornabudschi-Festung gefangen gehalten. Das war mir auch nicht bekannt. Interessant, was sie wohl verbrochen hatten? Und dann noch die Überfälle der Lekis und das heldenhafte Kisikenheer unter König Erekle, dem Oberhaupt der Ostgeorgier, und sein grimmig flüsterndes Schwert.
Und siehe da, irgendwo ganz in der Nähe kreischt ein Wanderfalke. Seinem Gesichtsausdruck nach hat der Engländer ihn erkannt. Völlig ahnungslos scheint er ja nicht zu sein, doch als Birdwatcher ist er noch ein Dilettant, eben ein Anfänger. Da bin ich schon ganz anderen Leuten vom Fach begegnet, die ich begleiten durfte. Es braucht viele Jahre, um sich so zu vervollkommnen. Der Engländer wird das kaum noch schaffen; dafür reicht die Zeit nicht mehr aus. Er hat sich einfach im Rentenalter ein Hobby gesucht. Mit einem Swarovski-Fernglas ausgestattet, füllt er seine Freizeit. Doch er spricht viel lieber über seine frühere Tätigkeit als über die Vögel. Wäre er nicht so gesprächig, würde ich fast denken, er befinde sich immer noch auf einer Mission und tarne sich nur mit dem Birdwatching. Aber es macht ihm tatsächlich Spaß, die Vögel zu beobachten und die Trümmer eines Landes zu besichtigen, an dessen Zerstörung er selbst beteiligt war; auch er hat dabei einige Steine abgetragen. Darauf ist er wirklich stolz. »Der kleine Bauer im großen Spiel«, so stellte er sich vor zehn Tagen vor.
Den Wanderfalken können wir nicht ausfindig machen. Sein Schrei dringt von irgendwo unten bis zu uns herauf. Ihre Nester befinden sich entlang des steilen Falkentales. Wenn die Falken im Frühling ihre Jungen füttern, gibt es nichts Schöneres, als ihrem Kreisen vor den Nestern zuzuschauen.
Die Kinder und Lehrerinnen sind schon im Begriff zu gehen. Nun bemühen sich die Lehrerinnen, nicht den gleichen Fehler wie vorhin zu begehen, sondern die Kinder in einer Reihe gefahrlos hinunterzubefördern. Die Lehrerin, die oben erzählt hat, geht mit Hilfe eines recht kräftig aussehenden Schülers voran und befiehlt, keiner dürfe sie überholen. Während die Mädchen mit gleichgültiger Miene an uns vorbeilaufen, beäugen die Jungen gierig Fernglas und Teleskop des Engländers. Als Kind war für mich das Fernglas, das bei uns zu Hause in der Schublade eines Holztisches aufbewahrt wurde, auch ein faszinierender Gegenstand gewesen. Schon der Tisch war etwas ganz Besonderes - in seinen Schubladen verbarg sich eine für mich bis dahin unbekannte Welt. Meine Welterkundungen begann ich mit der Anziehungskraft, weil der Magnet eines der sonderbarsten Dinge war, die ich dort entdeckt habe. In der Schublade, die sich nur mit Mühe öffnen ließ, lag ein Magnet in Form eines Hufeisens und zog sämtliche Nägel so fest und haufenweise an sich, dass ich sie kaum abreißen konnte. Auch an die Kühlschranktür klebte sich der Magnet mit einem dumpfen Geräusch, doch aus irgendeinem Grund wollte er mit der Aluminiumklinke am selben Kühlschrank nichts zu tun haben. Der Anziehungskraft folgte das Licht - eine silberne Taschenlampe, aus einer anderen Schublade im selben Tisch, mit der ich in den Nächten heimlich unter die Bettdecke leuchtete. Und zuletzt die verkürzte Entfernung - ein altes Fernglas im Lederfutteral, mit dem ich die Spatzen auf der Wäscheleine und am Fenster unserer Nachbarn beobachten konnte. All dies wurde von einem Duft begleitet, dem Duft einer zu erkundenden Welt, der sich in den Schubladen des massiven Holztisches eingenistet hatte .
Der Tisch steht immer noch an der alten Stelle. Was aus dem Magnet und der Taschenlampe geworden ist, weiß ich nicht. Den Duft habe ich auch schon längst vergessen. Das alte Fernglas aber, das sich neben dem von Swarovski nicht vorzeigen lässt, habe ich dabei, im Handschuhfach meines Land Rovers, den ich am Fuße der Chornabudschi-Festung geparkt habe. Mein ehrliches Fernglas haust immer noch im selben Lederfutteral. Es ist tatsächlich ehrlich, denn im verlogenen Swarovski sieht man die Welt viel bunter und schöner als in der Realität. Mein Fernglas ist hingegen echt, alt und durch kein anderes ersetzbar .
»Kannst du mir was von dieser Festung erzählen?«
Da am klaren Himmel nicht mal der kleinste Vogel zu sehen ist, muss ich eine Geschichte von der Festung erzählen. Der Engländer ist kein gewöhnlicher Kunde. Die Birdwatcher sind sonst ein ganz anderes Volk. Außer Vögeln interessiert sie kaum etwas, vielleicht noch hin und wieder mal ein Säugetier. Beim Besteigen der Höhlenstadt Wardsia haben sie nur Augen für die Felsenkleiber und Blaumerlen. Im David-Garedschi-Kloster fragen sie nicht einmal nach Herkunft und Alter der Wüstenfresken; man zeige ihnen nur einen Felsensperling und lasse sie die Schmutzgeier und Gänsegeier beobachten, die am Himmel kreisen. Der Engländer ist anders. Lieber erzähle ich ihm was, ehe er anfängt zu reden.
»Auf den Weg nach oben haben wir Höhlen gesehen. Vor einem Eingang hängt immer noch eine Eisentür. Der hiesige König soll dort seine Gefangenen gehalten haben.«
»Von welchem Jahrhundert redest du?«
»Vom zwanzigsten.«
Es gelingt mir, ihn in Staunen zu versetzen. Er legt das Fernglas zur Seite und mustert mich, um zu verstehen, ob ich mich über ihn lustig mache oder nicht.
»An das genaue Datum kann ich mich nicht erinnern, aber das geschah alles in den Neunzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts, Anfang der Neunziger. Erinnern Sie sich noch an den Mann, der uns heute Morgen auf dem Markt von Dedoplistskaro begegnet ist?«
Der Engländer nickt.
»Trotz der frühen Stunde hat der Mann betrunken...
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