Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
"Eins, zwei, drei." Lynkos setzte eine Pfote vor die andere. Er zählte sie wieder, die Schritte, die er machte, obwohl er längst wusste, dass er niemals über eine bestimmte Zahl hinauskommen würde. Aber was sollte man sonst tun, hier in diesem engen Gehege? Es gab keinen anderen Zeitvertreib und Lynkos wurde nicht müde, ihn zu wiederholen. Tagein, tagaus.
"Vier, fünf, s."
"Heee, Lynkos, alter Knabe. Wie geht's, wie steht's? Alles fit auf der anderen Seite des Zauns?"
Lynkos war so konzentriert gewesen, dass er Whiskers plötzliches Auftauchen nicht bemerkt hatte. Eins musste man dem Kerl lassen, er konnte sich anschleichen wie kaum ein anderer.
"Was willst du?", knurrte Lynkos. Das Fell in seinem Nacken stellte sich auf. Ein Zeichen seines Unmuts, den er nicht einmal versuchte zu verbergen. Whisker wusste ohnehin, was Lynkos von ihm hielt, und das war weniger als nichts.
"Ach", sagte Whisker und sein kurzer Stummelschwanz ragte dabei steil in die Höhe. "Ich wollte auf meiner Runde nur nachsehen, wie es dir mit dem Zählen geht, und dir bei dieser Gelegenheit gleich Guten Tag sagen."
"Das hättest du dir sparen können. Genauso wie gestern und vorgestern und morgen und übermorgen und überhaupt an jedem verflixten Tag, der noch kommen wird", fauchte Lynkos. Whisker hatte ihm zwar geholfen, diesen wunderbaren Zeitvertreib des Schrittezählens zu entdecken, aber das hieß noch lange nicht, dass die beiden Luchse Freunde waren. Ein Luchs hat keine Freunde. Er ist ein Einzelgänger, aber dafür braucht es Freiheit - und Lynkos war nicht frei. Er saß in diesem Gehege fest und musste die Anwesenheit eines anderen ertragen, der schon so lange bei den Menschen lebte, dass er sogar die Kunst des Zählens erlernt hatte. Lynkos zögerte kurz, weil ihm bewusst wurde, dass diese Tatsache nun auch auf ihn selbst zutraf. Kein gutes Zeichen.
"Da ist wohl jemand eindeutig mit der falschen Pfote aufgestanden", stellte Whisker fest und wich einen Schritt zurück. Er wusste, dass Lynkos unmöglich aus seinem winzigen Gehege ausbrechen konnte und von ihm deshalb keine Gefahr ausging. Trotzdem waren in seinem Gesicht die Spuren seiner schwindenden Geduld eindeutig zu erkennen, und obwohl Whisker an Frechheit kaum zu überbieten war, hatte er vor seinem Kameraden doch gehörigen Respekt.
"Beruhig dich mal, Kanadaluchs", erwiderte Whisker und gab sich Mühe, dabei möglichst gelassen zu klingen. "Ein kurzes Pläuschchen hat noch niemandem geschadet."
"Luchse plaudern nicht", erinnerte der Kanadaluchs den anderen. "Wir sind Einzelgänger. Wann merkst du dir das endlich?" Lynkos machte einen Schritt vorwärts und stellte fest, dass er in all der Aufregung vergessen hatte, wie weit er bereits gezählt hatte. "Verdammter Rotluchs", presste er hervor, wandte sich um und trottete zurück an den nördlichen Rand des Geheges.
"Eins, zwei, drei", begann er zu zählen.
"Weiter als bis dreißig kommst du doch sowieso nicht", rief Whisker ihm zu. Lynkos aber ignorierte ihn. Diesmal würde er ohne Unterbrechung ans andere Ende gelangen.
"Elf, zwölf, dreizehn ." Neuer Tag, neues Glück. Vielleicht war das Gehege über Nacht ja ein wenig größer geworden. Lynkos amüsierte sich fast über seinen eigenen naiven Gedanken. Größer wurde hier gar nichts, ganz im Gegenteil. Mit jedem weiteren Tag, den er hier verbrachte, schien sich der Zaun enger um ihn zu schließen. Platz. Lynkos brauchte Platz! Unweigerlich schoss ihm die Erinnerung an eine Zeit durch den Kopf, die so weit zurücklag, dass die Bilder langsam zu verblassen begannen. Der Kanadaluchs dachte an die endlosen Fichtenwälder, an den tiefen Schnee und an die weißen Hasen, die so schnell und wendig waren, dass die Jagd nach ihnen eine warme Freude in seinem Herzen ausgelöst hatte. Jetzt war alles anders. Und wenn er nicht vergessen wollte, woher er kam, musste Lynkos die Erinnerung an seine alte Heimat hüten und pflegen. Immer wieder überrollte ihn die fürchterliche Angst, er könne eines Morgens aufwachen und vergessen haben, woher er gekommen war.
"Vierzehn, fünfzehn, sechzehn."
Lynkos wandte den Blick über die Schulter. Dort, hinter den Büschen, in denen Whisker so gern seine Tage verbrachte, sah man die weißen Mauern eines riesigen Gebäudes. Der Mensch wohnte dort. Lynkos verspürte allein bei dem Gedanken an ihn eine Mischung aus Wut und Angst. Der Mensch war laut und anders als Lynkos war er kein Einzelgänger. Er bekam oft Besuch von Artgenossen und gemeinsam verursachten die Zweibeiner noch mehr Krach. Zweimal am Tag betrat der Mensch den Garten und brachte Lynkos etwas zu fressen, das nicht annähernd so gut war wie ein frisch gefangener Schneeschuhhase. Das Futter lief auch nicht davon, denn es war längst tot. Ein matschiger, undefinierbarer Brei, der vermutlich aus den Resten dessen bestand, was der Mensch selbst nicht fraß. Lynkos vermisste die Jagd. Der Luchs spürte die unbändige Energie, die sich während der letzten Monate in seinen Beinen angesammelt hatte. Manchmal glaubte er, jede Zelle seiner Muskeln könnte vor überschüssiger Kraft einfach explodieren und ihn in Stücke reißen. Er musste rennen! Endlich wieder rennen.
"Siebzehn, achtzehn, neun."
"Hallihallo, Sidra. Wie geht es dir, meine langbeinige Schönheit?"
Lynkos fror mitten in der Bewegung ein. "Whisker .", knurrte er. Und rief etwas lauter: "Lass Sidra in Ruhe!"
"Ich mach doch gar nichts!", ertönte es aus der anderen Ecke des Gartens. Das Gelände, das von einer hohen Mauer umgeben wurde, war weitläufig und durch die zahlreichen Büsche und Bäume konnte Lynkos den Rotluchs nicht entdecken. Dank seines hervorragenden Hörsinns entging ihm jedoch kein einziger Laut. Offensichtlich hatte Whisker es heute auf Sidra abgesehen, dabei hasste die Iberische Luchsin Gesellschaft. Mehr noch als Lynkos. Und Whisker verabscheute sie sowieso. Mehr noch, als Lynkos es tat.
"Verzieh dich!", zischte Sidra in diesem Moment.
"Heee!", rief Whisker erbost. "Wer wird denn hier beleidigend?"
"Ich", erwiderte Sidra trocken. "Und wenn du weiter vor meinem Gehege herumstehst, lasse ich mir noch ganz andere Dinge einfallen. Haustier!" In Sidras letztem Wort lag so viel Verachtung, dass selbst Lynkos, der ausreichend Abstand zu der Iberischen Luchsin hatte und ihren Gesichtsausdruck nur erahnen konnte, ein kalter Schauer über den Rücken lief.
Whisker stieß ein erbostes Miauen aus. "Ihr seid nicht nett. Du und Lynkos, ihr glaubt doch, dass ihr etwas Besseres seid. Wird man so, wenn man in einem Käfig hockt?" Er machte eine kurze Pause. Anscheinend musste er sein Köpfchen anstrengen, ob das, was er gerade von sich gegeben hatte, wirklich Sinn ergab. "Nein, daran kann es eigentlich nicht liegen", fuhr er nachdenklich fort. "Lucia ist auch eingesperrt und sie ist trotzdem nicht so verbittert wie ihr. Am Zaun kann es also nicht liegen."
Whisker hatte recht. Lucia war anders. Sie hatte von Natur aus ein fröhliches Wesen und Lynkos beneidete sie manchmal um ihre Zuversicht, die sie sich trotz allem, was man ihr angetan hatte, bewahrte.
"Es wird gut werden", sagte Lucia oft. "Ihr werdet sehen! Am Ende wird alles gut sein."
Aber Lynkos konnte diese Hoffnung einfach nicht teilen. Seiner Meinung nach waren sie längst am Ende angekommen und nichts, rein gar nichts war gut. Es gab keinen Ausweg. Sie waren gefangen. Lucia, die Eurasische Luchsin. Sidra, die Iberische Luchsin, die selbst die Bezeichnung Pardelluchsin bevorzugte, weil der Klang dieses zweiten Namens ihren hübschen Pinselohren schmeichelte. Lynkos, der Kanadaluchs, der sich nach den Weiten und der klirrenden Kälte der Wälder seiner Heimat mit dem arktischen Klima sehnte. Und Whisker. Ja, wenn man es genau betrachtete, dann war auch Whisker gefangen. Der Rotluchs genoss zwar mehr Freiheiten als die anderen, da er sich uneingeschränkt durch den ganzen Garten bewegen konnte und Zutritt zu dem Haus des Menschen hatte. Das war nichts, worum Lynkos ihn beneidete, doch Whisker wirkte dennoch ausgeglichener. Er war aber ohnehin anders, als ein Luchs hätte sein sollen, und die Wurzel dessen musste irgendwo in seiner Geschichte vergraben liegen. Die vier Luchse erzählten einander jedoch nicht allzu viel. Lucia, Lynkos und Sidra hatten einander noch nie gesehen. Ihre Gehege lagen so, dass sie sich nur hören und riechen konnten, die anderen aber niemals zu Gesicht bekamen. Whisker lief zwischen ihnen hin und her. Er schien Gesellschaft zu suchen. Oder vielleicht war ihm auch nur stinklangweilig. Das Leben als Haustier bietet einem Rotluchs wie Whisker nicht die notwendige Abwechslung, die eine Wildkatze braucht. Der Kuder, wie man männliche Luchse auch nennt, hatte sich mit seinem Leben allerdings ganz gut arrangiert. Er spielte das Spiel, das der Mensch ihnen allen aufgezwungen hatte, am besten. Ein braves Haustier war aus ihm geworden, wie Sidra nicht müde wurde zu betonen. Wann auch immer sie das sagte, wurde Whisker zornig. Manche können die grausame Wahrheit eben nicht ertragen. Dann zeigte der Rotluchs, wie wenig Haustier in ihm steckte und wie wild er trotz allem noch war. Er ging ins Haus und zerstörte dort wahllos einen Gegenstand. Hauptsache, der Akt der Vernichtung war laut genug, sodass Sidra mit ihrem feinen Gehör Zeugin werden konnte. Sie sollte wissen, wie wild Whisker war und dass er, anders als ein echtes Haustier, die drohenden Konsequenzen keineswegs fürchtete. Zur Strafe ließ der Mensch ihn für gewöhnlich eine Woche nicht mehr zu sich kommen. Die Tür des Hauses wurde versperrt und öffnete sich selbst dann nicht, wenn Whisker die Krallen gegen...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.