Schweitzer Fachinformationen
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Ein Diener, ein alter Mann mit einem verkrüppelten Arm, trat Yaltha, Lavi und mir am Tor entgegen. »Meine Tante und ich sind gekommen, um Tabitha unsere Aufwartung zu machen.«
Er musterte uns. »Ihre Mutter hat mich angewiesen, dass niemand zu ihr darf.«
Yaltha schlug einen gebieterischen Ton an. »Dann sag ihrer Mutter, hier steht die Tochter des Matthias, des Obersten Schriftgelehrten von Herodes Antipas und Vorgesetzten ihres Mannes. Sag ihr, er würde Anstoß daran nehmen, wenn seine Tochter zurückgewiesen wird.«
Der Diener schlurfte zurück ins Haus und war wenige Minuten später wieder da, um das Tor zu öffnen. »Nur das Mädchen«, sagte er. Yaltha nickte mir zu. »Lavi und ich warten hier auf dich.«
Das Haus war nicht so prachtvoll wie das unsere, verfügte jedoch, wie die meisten Behausungen von Palastangestellten, über ein oberes Stockwerk und zwei Höfe. Tabithas Mutter, eine beleibte Frau mit einem Gesicht wie eine Zwiebel, führte mich zu einer geschlossenen Tür am anderen Ende des Hauses. »Meiner Tochter geht es nicht gut. Du darfst nur ein paar Minuten hinein«, sagte sie und ließ mich zu meiner Erleichterung allein eintreten. Als ich den Riegel zurückschob, schlug mein Herz wie eine Trommel.
Tabitha lag zusammengerollt auf einer Matte in der Ecke. Als sie mich erblickte, drehte sie das Gesicht zur Wand. Ich blieb einen Moment lang stehen, damit meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, unschlüssig, was ich tun sollte.
Schließlich ging ich zu ihr hinüber, setzte mich neben sie und legte ihr nach kurzem Zögern die Hand auf den Arm. In diesem Moment drehte sie sich zu mir, berührte mich mit der Hand, und ich sah, dass ihr Auge vollkommen zugeschwollen war. Ihre Lippen waren grün und blau verfärbt, die Backen aufgedunsen, als hätte sie den Mund voller Speisen. Eine Schale - es war eine besonders kostbare aus Gold - stand neben ihr auf dem Boden und schimmerte im Zwielicht, angefüllt mit etwas, das aussah wie eine Mischung aus Blut und Speichel. Ein Schluchzen entrang sich meiner Kehle. »Oh, Tabitha.«
Ich zog ihren Kopf an meine Schulter und strich ihr übers Haar. Ich hatte ihr nichts zu bieten, als hier an ihrer Seite zu sitzen und ihr in ihrem Kummer und Schmerz beizustehen. »Ich bin hier«, murmelte ich. Als sie nichts erwiderte, sang ich ein altbekanntes Schlaflied für sie, das einzige, das mir einfiel. »Schlaf, mein Kleines, schlaf ein. Die Nacht ist da, der Morgen fern, und ich, ich hab dich gern.« Ich sang es wieder und wieder, schaukelte sie in meinen Armen wie in einer Wiege.
Als ich aufhörte zu singen, schenkte sie mir ein mattes Lächeln, und erst jetzt sah ich den Stofffetzen, der seitlich aus ihrem Mund hing. Ohne mich aus den Augen zu lassen, nahm sie ihn und zog ihn langsam durch ihre Lippen, ein langer Streifen Leinen, der kein Ende zu haben schien. Als sie ihn endlich entfernt hatte, hob sie die Schale an und spuckte hinein.
Ekel wallte in mir auf, doch ich ließ mir nichts anmerken. »Was ist mit deinem Mund passiert?«
Sie öffnete ihn, sodass ich hineinschauen konnte. Ihre Zunge - oder das, was von ihr übrig war - war nur noch eine Masse aus rohem, verstümmeltem Fleisch. Sie zuckte hilflos in ihrem Mund, als Tabitha zu sprechen versuchte, doch es kam nur ein unverständliches Lallen heraus. Ich starrte sie fassungslos an, dann traf mich die Wahrheit wie ein Schlag. Man hatte ihr die Zunge herausgeschnitten. Die Zunge aus meiner Vorahnung.
»Tabitha!«, rief ich. »Wer hat dir das angetan?«
»Vaaa-er. Vaaaah-er.« Ein rotes Rinnsal tröpfelte ihr übers Kinn.
»Versuchst du zu sagen >Vater<?«
Sie packte mich an der Hand, nickte.
Ich weiß nur noch, dass ich aufsprang, benommen und verzweifelt. Ich erinnere mich nicht daran, geschrien zu haben, doch die Tür wurde aufgerissen, und ihre Mutter stand vor mir, schüttelte mich, versuchte, mich zur Räson zu bringen. Ich machte mich von ihr los. »Wagt es nicht, mich anzufassen!«
Mein Atem ging nur noch stoßweise, so zornig war ich. »Was für ein Verbrechen hat Eure Tochter begangen, dass ihr Vater ihr die Zunge aus dem Mund schneidet? Ist es Sünde, auf der Straße zu stehen, seine Pein hinauszuschreien und um Gerechtigkeit zu flehen?«
»Sie hat ihrem Vater und diesem Haus Schande gebracht«, rief ihre Mutter heftig aus. »Ihre Strafe steht in der Heiligen Schrift - die falsche Zunge wird ausgerottet.«
»Ihr habt sie ihre Schändung ein zweites Mal erleben lassen!« Ich presste die Worte langsam durch meine Zähne.
Nachdem Vater Yaltha einmal wegen ihres Mangels an Demut getadelt hatte, sagte sie zu mir: »Demut. Es ist nicht Demut, was ich brauche, sondern Wut.« Das hatte ich nicht vergessen. Ich kniete neben meiner Freundin.
Wieder fiel mir das Schimmern der Schale ins Auge, und auf einmal wusste ich, was bis dahin verborgen geblieben war. Ich sprang auf, packte die Schale, darauf bedacht, ihren Inhalt nicht zu verschütten, und fragte Tabithas Mutter mit grollender Stimme: »Wo ist das Arbeitszimmer Eures Mannes?« Sie runzelte die Stirn und gab mir keine Antwort. »Zeigt es mir, oder ich finde es selbst.«
Als ihre Mutter keine Anstalten machte, erhob sich Tabitha von ihrer Matte und führte mich zu einem kleinen Raum, während ihre Mutter uns folgte und mich anschrie, ich solle auf der Stelle ihr Haus verlassen. Das Allerheiligste ihres Vaters war mit einem Tisch, einer Sitzbank und zwei Holzregalen eingerichtet, Letztere beladen mit den Insignien seiner Tätigkeit als Schriftgelehrter, mit Schals und Hüten, sowie, wie ich vermutet hatte, den drei anderen goldenen Schalen, die aus Antipas' Palast entwendet worden waren.
Ich sah Tabitha an. Ja, ich würde mehr für sie tun als ihr nur ein Gutenachtlied zu singen; ich würde meine ganze Wut für sie einsetzen. Ich schleuderte die Schale von mir und verspritzte ihren Inhalt auf die Wände, den Tisch, die Schals und Hüte, auf Antipas' Schüsseln, die Schriftrollen, die Tintenfläschchen und die sauberen Pergamente. Und ich tat es mit größter Ruhe und Gemessenheit. Weder konnte ich Tabithas Schänder bestrafen noch ihr die Zunge zurückgeben, doch diesen einen Akt des Aufbegehrens, diese kleine Rache konnte ich ihr schenken, damit ihr Vater wusste, dass seine Rohheit nicht ungeahndet bleiben würde. So wäre mein Zorn ihm zumindest eine Mahnung.
Tabithas Mutter stürzte sich auf mich, doch zu spät - die Schale war leer. »Mein Mann wird für deine Bestrafung sorgen«, schrie sie. »Glaubst du denn, er wird nicht deinen Vater aufsuchen?«
»Sagt ihm, dass mein Vater damit beauftragt wurde, denjenigen aufzuspüren, der Herodes Antipas' Schalen gestohlen hat. Ich würde Vater mit Freuden davon in Kenntnis setzen, wer der Dieb ist.«
Ihre Gesichtszüge sanken in sich zusammen, und sie schien jegliche Angriffslust verloren zu haben. Sie hatte meine Drohung verstanden. Mein Vater, das wusste ich, würde von all dem niemals etwas erfahren.
***
WEIL TABITHA SO SEHR DARUM GEKÄMPFT HATTE, das, was ihr widerfahren war, bekanntzumachen und man sie dafür zum Schweigen gebracht hatte, zog ich die letzten beiden Papyrusblätter aus dem Ziegenlederbeutel unter meinem Bett und schrieb die Geschichte ihrer Schändung und der Verstümmelung ihrer Zunge nieder. Wieder einmal setzte ich mich mit dem Rücken zur Tür, denn ich wusste, wenn Mutter nach mir suchte, konnte ich sie nicht lange davon abhalten, in mein Zimmer einzudringen. Sie würde hereinstürmen, mich auf frischer Tat beim Schreiben ertappen, mein Zimmer durchsuchen und die versteckten Schriftrollen finden. Ich sah sie vor mir, wie sie sie las - die Worte der Liebe und des Verlangens, die ich Jesus gewidmet hatte, und die Schilderung, wie ich die Wände in Tabithas Haus mit Blut bespritzt hatte.
Ich ging ein großes Risiko ein, doch ich konnte nicht anders, als ihre Geschichte aufzuzeichnen. Ich schrieb beide Papyri voll. Kummer und Wut strömten aus meinen Fingern. Die Wut machte mich kühn und der Kummer selbstgewiss.
Die Lichtung, in der ich Jesus hatte beten sehen, war leer, spitze Schatten bohrten sich in die Morgenluft. Ich war früh genug gekommen, um mit dem Vergraben meines Schatzes fertig zu sein, ehe er auftauchte; noch bevor die Sonne ihren roten Bauch über die Hügelkuppen schob, hatten wir uns aus dem Haus gestohlen. Lavi trug das Bündel mit den Schriftrollen, die Tontafel, auf die ich meine Verwünschung geschrieben hatte, und ein Grabwerkzeug. Die Zauberschale hatte ich unter meinem Mantel verborgen. Die Vorstellung, Jesus könnte zurückkehren, jagte mir einen Schauder durch den Körper, in dem sich Freude und Furcht mischten. Ich konnte nicht sagen, was ich tun würde - ob ich ihn ansprechen oder doch nur wieder weglaufen würde wie beim letzten Mal.
Ich wartete an der Öffnung der Höhle, während Lavi sie auf Banditen, Schlangen und andere bedrohliche Wesen untersuchte. Als er nichts dergleichen entdeckte, winkte er mich hinein; im Inneren der Höhle war es kühl und finster, der Boden gesprenkelt mit Fledermausmist und Scherben von Steingut, von denen ich einige aufhob. Ich hielt mir einen Zipfel meines Kopftuchs vor die Nase, um den Geruch nach tierischem Unrat und Moder abzuschwächen, und stieß auf eine Stelle ganz hinten in der Höhle, neben einer Steinsäule, die leicht zu erkennen war, wenn ich zurückkommen würde, um meine Habseligkeiten zu holen. Lavi stieß ein paarmal mit dem Grabwerkzeug in die Erde, bis sich eine Vertiefung auftat. Staub wirbelte auf. Spinnweben schwebten durch die Luft und ließen sich wie zarte Netze auf...
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