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Zum 80. Geburtstag von Doris Lessing
»Verbinden, was unvereinbar scheint«
»Mich würde die Idee reizen«, erzählte sie mir 1997 in einem Interview, »über die Parallelwelten im eigenen Kopf zu schreiben. Man müsste darüber schreiben, wie diese Vielfalt von anderen Leben in das eindringt und es verändert, was man selbst für das wirkliche Leben hält.« Tatsächlich scheint die britische Schriftstellerin Doris Lessing, die am 22. Oktober 1999 in London ihren achtzigsten Geburtstag im Kreis von Freunden und Schriftstellerkollegen wie Brian W. Aldiss feierte, mindestens so viele Leben zu besitzen wie ihre geliebten, in vielen Erzählungen verewigten Katzen. Im Laufe von acht Jahrzehnten hat sie sich selbst immer wieder neu entworfen, nicht zugelassen, dass Etiketten allzu lange auf ihr haften blieben.
Der Wille, bornierte Schranken einzureißen - nicht nur Schranken zwischen Hautfarben, Religionen, Nationen und Geschlechtern, sondern auch zwischen der sogenannten realistischen und der phantastischen Literatur - macht die Kraft dieser leisen, persönlichen Stimme aus, die sich vielleicht gerade deswegen immer wieder Gehör verschafft hat. »Die Freiheit der Literatur ist für uns weltweit unverzichtbar«, sagt sie im März 1989 auf einem internationalen Schriftstellerkongress in einer Solidaritätserklärung für Salman Rushdie, der sich alle Anwesenden anschließen.
Beständigkeit in stetem Wandel: Davon berichtet sie selbst in ihrer zweibändigen Autobiografie Unter der Haut (Hamburg 1994) und Schritte im Schatten (Hamburg 1997). 1919 wird Doris Lessing als Tochter eines britischen Offiziers und späteren Farmers in Persien geboren, 1924 wandert die Familie nach Südrhodesien aus. Im Selbststudium befasst sich das Kind Doris mit europäischer und amerikanischer Literatur und verlässt mit vierzehn Jahren die ungeliebte Schule. Nach zwei gescheiterten Ehen und einigen persönlichen Krisen entflieht sie 1949 der Enge der britischen Kolonialgesellschaft und siedelt nach London um. 1950 veröffentlicht sie dort ihren ersten Roman, Afrikanische Tragödie, engagiert sich als streitbare Linke einige Jahre in der Kommunistischen Partei Großbritanniens, bis sie, 1957, den »schalen Dunst von dreißig Jahren toter politischer Worte« nicht mehr ertragen kann.
Mit Übersetzung ihres großen Werks Das goldene Notizbuch, in England bereits 1961 erschienen, wird sie 1978 auch in Deutschland zur Leitfigur der feministischen Bewegung - eine Rolle, die sie selbst stets als »viel zu eng« abgelehnt hat. In schnellem Wechsel schreibt sie politische Essays, Erzählungen und Reisereportagen, psychologische Romane in eher realistischer Tradition wie Das Tagebuch der Jane Somers und Der Sommer vor der Dunkelheit, Psychogramme und visionäre Apokalypsen wie Anweisung für einen Abstieg zur Hölle und Memoiren einer Überlebenden. Ab Ende der Siebzigerjahre nutzt sie verstärkt Mittel der Science Fiction, um mit dem fünfbändigen Romanzyklus CANOPUS IM ARGOS: ARCHIVE die Menschheitsgeschichte aus kosmischer Perspektive zu betrachten (Shikasta, Die Ehen zwischen den Zonen Drei, Vier und Fünf, Die sirianischen Versuche, Die Entstehung des Repräsentanten von Planet 8, Die sentimentalen Agenten im Reich Volyen).
»Verbinden, was unvereinbar scheint«: Nach diesem Motto macht sich Doris Lessing, bis dato von keinem Kritiker als Science-Fiction-Autorin verdächtigt, unbekümmert an die Konzeption einer groß angelegten Space Opera. Unbekümmert nicht nur, was die literarischen Traditionen und Konventionen des Genres Science Fiction betrifft, unbekümmert auch vom Urteil vieler Feuilletons, die ihren galaktischen Höhenflug als literarischen Niedergang betrauern. Sie selbst erklärt 1989 zum Verhältnis von realistischer und phantastischer Tradition in ihrem Werk: »Ich glaube nicht, dass die eine Form besser ist als die andere. Aber die phantastische Literatur ist tatsächlich die eigentliche Tradition der Menschheit. Der >Realismus< ist ja erst rund 400 Jahre alt. Das vergessen wir scheinbar immer wieder. Interessant, wenn Leute sagen, sie können einfach keine Phantastik lesen. Das bedeutet doch, dass sie etwas verloren haben, was wir früher alle besaßen. Früher war >Literatur< ja das Erzählen von Geschichten, von Mythen und Märchen. Aber die realistische Tradition hat bei manchen Menschen die Vorstellungskraft begrenzt, so dass sie Metaphern und Mythen einfach nicht mehr verstehen. Sie können damit nicht umgehen.«
Im CANOPUS-Zyklus nutzt Lessing eine unendlich weite Raumzeit dazu, vom uralten Kampf zwischen guten und bösen Kräften auf »Shikasta«, der Erde, zu berichten, einem Kampf, wie er in allen Weltreligionen beschrieben ist. Weitere Grundmotive sind der Kampf zwischen den Geschlechtern und der Kampf zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, Sterblichkeit und Transzendenz - das alles erzählt im Stil von Parabeln und eindeutig beeinflusst vom Mystizismus der Sufi-Religion. Dem von indischen Religionen mitgeprägten persischen Sufismus, der in Lessings Werken stets eine große Rolle spielt, geht es nicht zuletzt um die stufenweise Vervollkommnung menschlicher Wahrnehmung, um ein wachsendes Verständnis von Welt und Kosmos, um die Vereinigung des Ichs mit einem höheren universalen Prinzip. »Anscheinend«, sagt Doris Lessing in einem Interview, »kann sich die Spezies Mensch immer nur auf eine Sache gleichzeitig konzentrieren. Wir vergessen so schnell. Ich glaube, wir haben unbegrenzte Möglichkeiten, unangenehme Dinge zu verdrängen. Ich habe oft genug gesagt, dass wir uns immer weiter auf verschiedene Katastrophen zubewegen, und genau das passiert. Nur der Schwerpunkt hat sich verlagert. Er liegt heute stärker als früher auf ökologischen Problemen. Vielleicht stimmt etwas mit der menschlichen Wahrnehmung nicht. Aus irgendeinem Grund können wir die Dinge nie in ihrem Zusammenhang, als Ganzes, erfassen.«
Um »das Ganze«, in diesem Fall um die Aufhebung eingeschränkter Wahrnehmung und Überwindung der Spaltung in schöngeistige, friedliche Frauenwelt und aggressiv-rohe Männerwelt, geht es auch in der Oper Die Ehen zwischen den Zonen Drei, Vier und Fünf, die der amerikanische Komponist Philip Glass nach Lessings gleichnamigem Roman vertont hat. Nach Inszenierung der Oper Die Entstehung des Repräsentanten von Planet 8 in Houston, Texas, 1988 und Kiel 1989 ist es bereits die zweite Zusammenarbeit des amerikanischen Komponisten der »Minimal Music« und der britischen Schriftstellerin. Im Mai 1997 geht die Welturaufführung der »Ehen .« in Anwesenheit von Glass und Lessing im Theater der Stadt Heidelberg über die Bühne. »Für mich«, sagt Doris Lessing während der Generalprobe, »ist das Libretto eine Parabel der Hoffnung. Es geht um die Versöhnung von Archetypen, um die Versöhnung von männlich-militaristischer und weiblich-ästhetischer Welt. Die Menschen lernen dazu. Schließlich tritt in allen Zonen ein Wandel zum Besseren ein, die Zonen öffnen sich, werden zugänglicher, die Stagnation, von der alle Zonen betroffen waren, ist aufgehoben.«
Das hindert die Kritik nicht daran, Romanvorlage wie Opern-Libretto als »moralisierendes Klischee« und »didaktischen Agitprop« in der Luft zu zerreißen und die Musik als einfallslos zu geißeln. Doris Lessing lässt sich davon nicht sonderlich beeindrucken.
Und sie lässt sich durch vielfache Verrisse ihrer CANOPUS-Romane keineswegs davon abhalten, auch mit ihrem jüngsten Roman Mara und Dann - ein Abenteuer gigantische Themen der Menschheitsgeschichte aufzugreifen: Mit der Parabel von Brüderlein und Schwesterlein, die als Waisenkinder in eine feindliche Welt hinausziehen müssen, knüpft sie an uralte Märchentraditionen an und verlegt den Schauplatz gleichzeitig in ein Afrika fernster Zukunft. Unsere Zivilisation ist darin längst untergegangen, unter Bergen von Eis begraben und nur noch stückweise in Museen konserviert. Aus Afrika ist Ifrik, die einzig bekannte Welt, geworden, und die Vergangenheit des Homo sapiens zu seinem künftigen Schicksal. Ein weiter Kreis scheint sich damit auch im Werk von Doris Lessing zu schließen: vom ersten, realistischen Anti-Apartheids-Roman Afrikanische Tragödie bis zur phantastischen Tragödie unserer Zivilisation in Mara und Dann - ein Abenteuer.
Die letzten Jahrzehnte ihres Schaffens sind mehr und mehr von dem Versuch geprägt, aus großer räumlicher und zeitlicher Distanz eine Art zukunftsorientierter Rückschau auf unsere Zivilisation zu halten. Ihr Roman Das fünfte Kind (1988) handelt von einem Wesen, das seiner Familie und Umwelt das Leben zur Hölle macht, weil es nur auf sich selbst bezogen denkt und ihm jedes soziale Gefühl fehlt. »Es geht um ein Lebewesen«, kommentiert Doris Lessing, »das nach seinen eigenen Maßstäben voll entwickelt ist. Aber es lebt zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich habe nur erzählt, was passiert, wenn ein Wesen in unsere hochzivilisierte Gesellschaft platzt, das von einer anderen Stufe unserer Entwicklungsgeschichte stammt, aus der vor-menschlichen Zeit. Eine andere Spezies. Das hat mich an der Geschichte interessiert. Ich habe dieses Wesen nicht als Frankensteinsches Monster gesehen und auch nicht als Symbol des Unbewussten oder was die Leute sonst noch hineininterpretieren mögen. Es war sehr viel einfacher.« Und auch in diesem Roman geht es um menschliche Wahrnehmung und um das Infragestellen der Welt, wie wir sie als »normal« begreifen.
»Vielleicht«,...
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