Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ein Großvater, der ein vergessener Vater ist, wartet auf den Flughafenbus, der nie kommt. Er ist krank. Er ist sterbenskrank. Er hustet sich die Lunge aus dem Hals. Er wird bald blind sein und die Nacht wahrscheinlich nicht überleben. An allem sind seine Kinder schuld. Zur Hölle mit diesem Land und seinem kalten Herbstwetter, seinen unverschämten Taxipreisen und öden Fernsehsendern. Er erinnert sich noch genau an das Programm, das lief, als sie gerade hergezogen waren. Erst das Wetter, dann das Kinderfernsehen, zwei verschiedenfarbige Strümpfe mit Paillettenaugen und einem Skelett aus Händen redeten davon, wie wichtig der Klassenkampf ist, um eine glückliche Gesellschaft aufzubauen. Dann noch mehr Wetter. Dann «Das schwarze Brett», eine spezielle Sendung, wo der Staat Tipps gab, wie man Brandverletzungen bei Kindern behandelte (ab unter die Dusche mit ihnen, ohne sie auszuziehen, und 20 Minuten lang mit KÜHLEM, aber nicht KALTEM Wasser abbrausen), dann ein Beitrag darüber, wie wichtig es war, beim Langstreckenschlittschuhlauf immer Eiskrallen dabeizuhaben, dann Nachrichten, dann das Wetter, dann der Film des Tages, der ganz sicher, zu hundert Prozent, ein Dokumentarfilm über lateinamerikanische Lyriker oder ukrainische Imker war. Trotzdem ließ er nachts den Fernseher laufen, wenn er nicht schlafen konnte. Und obwohl er sich einsam fühlte, war er nicht einsam, denn er hatte ja sie. Ihretwegen war er gekommen. Sie hatte ihn dazu gebracht, alles hinter sich zu lassen. Es war keine freie Entscheidung gewesen. Die Liebe ist das Gegenteil einer freien Entscheidung. Die Liebe ist zu hundert Prozent undemokratisch, neunundneunzig Prozent aller Stimmen entfallen auf den Typen mit dem Schnauzbart in Uniform mit einer Vergangenheit im Militär, dessen Porträt an jeder Allee, in jedem Tabakladen, Friseursalon und Café hängt, bis zum Ende der Revolution, wenn alle alten Porträts auf die Straßen geworfen, zertrampelt und verbrannt und vom Bild eines anderen Typen mit Schnauzbart und einer Vergangenheit im Militär ersetzt werden, der sagt, dass sein Vorgänger mit Schnauzbart und einer Vergangenheit im Militär kein richtiger Führer war, sondern korrupt und sich nicht so für dieses Land eingesetzt hat, wie das Land es verdient hätte. Die Liebe ist eine Diktatur, denkt der Vater, und Diktaturen sind gut, denn er selbst war am glücklichsten, als er am wenigsten Freiheit hatte, als er an nichts anderes denken konnte als daran, dass alles untergehen würde, wenn er nicht in ihrer Nähe sein dürfte. Bei ihr. Seiner Frau. Seiner Exfrau. Und wenn er eines aus der gescheiterten Revolution mitgenommen hat, dann die Tatsache, dass ein starker Mann im Zentrum auch Vorteile hat. Die Stimmen einzelner Menschen haben keinen Eigenwert. Menschen sind Idioten. Menschen sind wie Ameisen. Sie wissen nicht, was am besten für sie ist. Sie müssen kontrolliert werden, damit sie nicht überall Ameisenhaufen bauen und in fremde Ferienhäuser eindringen. Er weiß nicht mehr, wer das gesagt hat. Vielleicht ist er sogar selbst drauf gekommen. Das ist gut möglich, weil er hundert Prozent schlauer ist als hundert Prozent der Weltbevölkerung. Er weiß Dinge, die normale Menschen gar nicht zu wissen wagen. Er weiß, dass die Chinesen bald die Weltherrschaft übernehmen werden. Er weiß, dass neun der zehn mächtigsten Medienmogule auf der Welt Juden sind. Er weiß, dass die CIA hinter dem Anschlag auf das World Trade Center steckt. Er weiß, dass die NASA die Mondlandung gefakt und das FBI Malcom X, Martin Luther King, JFK, John Lennon und JR Ewing ermordet hat. Er weiß, dass wir nur deshalb mit Karte zahlen sollen, damit die Banken uns überwachen können, denn dann wissen sie, wo wir uns aufhalten, sie erlangen die Kontrolle über jeden kleinen Menschen und können uns von oben lenken, als wären wir Ameisen. Aber Menschen sind keine Ameisen. Menschen sind schlauer als Ameisen, größer als Ameisen, wir sind intelligent, wir können sprechen, wir haben zwei Beine statt sechs, wir haben Hände statt Fühlern, wir gehen aufrecht statt mit dem Bauch über dem Boden, und das sind nur einige von vielen Beispielen dafür, warum wir nie akzeptieren werden, dass uns ein Diktator beherrscht.
Der Großvater hatte versucht, all das der Frau zu erklären, die das Glück hatte, im Flugzeug neben ihm zu sitzen. Sie war von seinem Wissen beeindruckt, aber leider fiel es ihrem armen Gehirn schwer, die ganzen Informationen zu verarbeiten. Nach dem Essen gähnte sie und sagte, sie müsse jetzt schlafen. Schlafen Sie nur, sagte der Großvater, der zwei kleine Weinflaschen getrunken und eine dritte im Handgepäck versteckt hatte. Schlafen Sie gut. Die Wahrheit nimmt man am besten nur in kleinen Dosen zu sich. Die Frau setzte ihre Kopfhörer auf und schlief sofort ein.
Jetzt steht er hier auf dem Bürgersteig. Der Wind kommt von der Seite. Ein Auto nähert sich. Kann das wirklich sein? Das kann doch nicht sein? Nein, es sind auch nicht seine Kinder. Sein Sohn ist zu Hause und hört Musik, die keine Musik ist. Seine Tochter ist in der Stadt unterwegs und säuft. Sie denken nur an sich. Der Großvater erkennt die Beifahrerin im Auto wieder. Es ist die Frau, die neben ihm im Flugzeug saß. Ihre Blicke treffen sich. Sie sagt etwas zu dem Mann hinter dem Steuer. Sie sagt: Halt sofort an, Schatz! Das ist der interessante Mann, mit dem ich im Flugzeug sprechen durfte, der Mann mit den mutigen Gedanken. Schau ihn dir an. Er sieht müde aus. Komm, wir fahren ihn den ganzen Weg bis nach Hause, damit er nicht hier im Wind stehen und auf den Flughafenbus warten muss. Der Großvater lächelt und hebt die Hand in die Autoscheinwerfer. Die Frau schaut weg. Der Typ hinter dem Steuer beugt sich vor und starrt ihn an, ehe er Gas gibt und in Richtung Autobahn braust.
Irgendwie gelingt es dem Vater, der ein Großvater ist, am Ende doch, mit dem Bus bis zum Hauptbahnhof zu kommen. Mit letzter Kraft schleppt er seinen Koffer nach unten zur roten Linie. Es ist fast halb zwei in der Nacht, als er endlich an der richtigen U-Bahn-Station aussteigt, wo ihm ein freundlicher bärtiger Typ mit orangefarbenen Kopfhörern und verdächtig großen Pupillen hilft, das Gepäck die Treppe hinaufzutragen.
Der Großvater geht durch das Waldstück, vorbei am Eckladen, vorbei an der Kneipe. Er steht vor der Haustür zum Büro seines Sohnes. Er schafft es nicht, seine Koffer die Stufen hochzuhieven. Er gibt auf. Er sinkt zusammen. Er rappelt sich auf und sammelt all seine Kräfte. Er schafft es. Er schafft es gerade so. Er öffnet die Tür und wuchtet die Koffer in den ersten Stock. Dann schläft er in seinen Klamotten auf dem Sofa ein. Er schafft es nicht mehr, sein Handy ans Ladekabel zu hängen. Oder sich die Zähne zu putzen. Das Einzige, was er noch schafft, ist TV 4 einzuschalten, laut genug, um dabei einschlafen zu können.
Ein Sohn in Elternzeit wacht an einem schlechten Tag um vier auf und an einem guten Tag um halb fünf. Der Einjährige wird zuerst munter, manchmal kann man ihn noch eine Weile ruhigstellen, indem man ihn durch die Stäbe des Gitterbetts mit Pixiebüchern und Stofftieren versorgt, meistens verliert er aber schon nach einer Viertelstunde die Geduld und will aufstehen. Er stemmt sich hoch und zeigt auf die Tür. Er ruft Muuuh. Er presst einen Morgenschiss in die Nachtwindel, die jeden Moment leckzuschlagen droht. Wenn der Vater schließlich das Licht anmacht, lacht der Einjährige und versucht sich über das Gitter zu ziehen. Die Vierjährige wacht gegen fünf auf und kommt blinzelnd und mit wirrem Haar aus ihrem Zimmer. Sie hat ihre Nuckelflasche dabei, die sie immer noch benutzt, manchmal schlägt der Vater versuchsweise vor, sie könne doch stattdessen aus einem Glas trinken oder einem Plastikbecher oder einer supercoolen Sportflasche. Aber die Tochter bleibt stur. Sie will ihre Nuckelflasche behalten. Lass sie doch, sagt die Mutter. Es ist ihr letztes Baby-Ding. Und der Vater lässt ihr die Flasche. Gleichzeitig hätte er lieber, dass sie damit aufhört. Er sagt, wenn man als Vierjährige mit einer Nuckelflasche rumläuft, kann es gut passieren, dass die Freunde aus dem Kindergarten das sehen und einen hänseln. Sie könnten Baby rufen oder Nuckelflaschentrulla oder was auch immer, und deshalb finde ich, du solltest damit aufhören. Die Tochter sieht ihn nur an und zuckt mit den Schultern. Die anderen sind mir doch egal, sagt sie und steckt sich die Nuckelflasche wie eine Pistole in den Schlafanzughosenbund. Da hörst du's, sagt die Mutter, die gerade mit nassen Haaren aus der Dusche kommt und sich Kaffee einschenkt. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, erwidert der Vater. In diesem ganz bestimmten Fall ist der Apfel jedenfalls unglaublich weit weg vom Vaterstamm gelandet, sagt seine Freundin. Sie lacht und gibt ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Ich bin so um fünf wieder da, sagt sie und trinkt ihren Kaffee im Stehen neben der Arbeitsplatte. Du bist im Leben nicht um fünf da, denkt er, sagt aber nichts. Schick mir 'ne Nachricht, wenn ich was einkaufen soll. Brauchst du nicht, antwortet er. Ich mach das schon.
Sie läuft mit ihrer neuen Tasche, ihrer neuen Frisur, ihrem Mantel, ihren Handschuhen zur U-Bahn, sie sieht durch und durch professionell aus, wenn sie in die Welt hinausgeht. Er bleibt zu Hause im Küchenchaos zurück, in einem Bademantel mit der Spucke des Einjährigen auf der Schulter und den Schmierfingerabdrücken der Vierjährigen...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.