Schweitzer Fachinformationen
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Im Verlauf des Frühjahrs 1965 wachte dein Vater weiterhin des Nachts auf. Die Differenz war nur, dass er jetzt sowohl sich selbst als auch uns andere wach schreien konnte. In manchen Nächten sah ich heimlich zu ihm hinüber, wie er da nass von Transpiration mit aufgerissenen Augen lag. Wenn die Dämmerung kam, lokalisierte er sich am Fenster und sah über den Hof. In einer Nacht schlich ich vorsichtig zu deinem Vater, wie er da mit auf und ab zuckenden Schultern im Fenster zusammengekauert saß. Sein Weinen geschah leise, und in der Hand umklammerte er seine angebetete Kastanie.
«Wie ist es eigentlich um deine Gesundheit bestellt?», flüsterte ich mit der Fürsorge eines Bruders.
Abbas trocknete schnell seine Tränen und versuchte, wieder zur Normalität zurückzukehren.
«Sehr gut. Danke der Nachfrage.»
«Und warum wirst du von solchen wiederkehrenden Albträumen gejagt?»
Dein Vater schaute auf seine Kastanie herab und sagte: «Kannst du ein Geheimnis bewahren, das du niemandem erzählen darfst?»
«Ich verspreche es.»
«Bei aller existierender Ehre bis in alle Ewigkeit?»
«Ich war nicht ganz ehrlich, mit meiner Geschichte .»
«Inwiefern?» (Und ich muss zugeben, dass ich hier die Art von Freude empfand, die man verspüren kann, wenn Misstrauen bestätigt wird.) «Ist das nicht dein Vater auf der Fotografie?»
«Doch, das ist er. Und er ist Algerier. Aber . Er sitzt nicht mit Elvis und Paul Newman zusammen. Weißt du, wer da neben ihm sitzt?»
«Nein.»
«Das sind Maurice Challe und Paul Delouvrier.»
«Oh!»
«Kennst du die?»
«Äh . nein. Wer ist das?»
Dein Vater erklärte, dass Challe und Delouvrier die beiden französischen Gouverneure waren, die vor der Befreiung für die algerische Kolonie verantwortlich gewesen waren.
«Willst du wissen, warum mein Vater mit ihnen zusammensitzt? Weil er ein Harki, ein Verräter, war. Ein Jasager. Ein Kollaborateur. Stell dir vor, was Cherifa machen würde, wenn sie das wüsste . Oder Sofiane .»
In den nun folgenden Stunden flüsterte dein Vater mir seine ganze wahre Historie in die Ohren. Er erzählte, dass er in einem algerischen Bergdorf nahe der tunesischen Demarkationslinie geboren wurde. Der Name seiner Mutter (deiner richtigen Großen-Mutter!) lautete Haifa. Sie war eine mächtig starke Frau, die sich mit ihrem Lebenskontext schlug wie der Wrestler und Schauspieler Hulk Hogan. Haifas Ideale waren nie die der Tradition oder der Religion. Haifa pflegte westliche Gewohnheiten und würzte ihre Ausrufe mit französischen Phrasen, und das rief den Zorn des Dorfes hervor. Doch Haifa ließ sich nicht zum Schweigen bringen.
Eines Tages verkündete sie Abbas stolz, dass der Name des Mannes, der ihre Gravidität besiegelt hatte, Moussa war. Sie waren zufällig zusammengekommen, als sie Algier besucht hatte. Moussa hatte ihr eine gemeinsame Zukunft mit Heirat und luxuriösem Leben versprochen. Nach ihrem erotischen Rendezvous retournierte Haifa mit regenbogenbunten Zukunftsträumen in ihr Heimatdorf. Leider erwies es sich, dass Moussas Worte Versprechungen jenes besonderen Charakters waren, die wir Lügen nennen können. Haifa wurde von ihrer Familie isoliert, und der Einzige im Dorf, der sich ihrer Gesellschaft nicht verweigerte, war ein junger, armer Nachbarsbauer namens Rachid.
Parallel wurde Moussas Exterieur immer mehr zu dem Algerier, der die Politik der Franzosen präferierte. Moussa verteidigte eifrig den Zivilisationsauftrag Frankreichs und weigerte sich, es eine zwangskultivierende Besatzungsmacht zu nennen. Er vermietete seine Zunge an die Franzosen und sättigte so seinen Geldbeutel.
Ich unterbrach Abbas:
«Bist du deinem Vater je begegnet?»
«Ja. Einmal machte er in unserem Dorf eine Visite. Aber mein Alter war damals nur gering, und ich erinnere mich nicht an viel von jenem Tag. Ich glaube, dass wir im Restaurant aßen. Und ich erinnere mich, dass er auf der Brust einen kräftigen grauen Bart hatte. Zwei Leibwächter eskortierten seine Schritte. Und ich erinnere mich, dass er mir diese Kastanie reichte. Das ist aber alles.»
«Warum eine Kastanie?»
«Weil . Keine Ahnung. Ich wünschte, mein Gedächtnis würde eine größere Deutlichkeit bereithalten.»
In der Hauptsache waren es die Geschichten deiner Großen-Mutter über Moussa, die die Seele deines Vaters beeinflussten. Die Erkenntnis, dass er einen Vater mit internationalem Renommé hatte, erhob ihn zu raketengleichem Stolz (mehr, als dass er sich schämte). Dein Vater wurde von einer kosmopolitischen Euphorie gejagt, die seine Emotion, anders zu sein als alle anderen, maximierte. Viele im Dorf machten Schlägereien und demonstrierten, sie diskutierten mit eifrigen Zungen der Franzosen Widerlichkeit und riefen das Verlangen nach Freiheit vom Kolonialismus. Dein Vater aber sah alles Politische wie einen Virus. Schon als Kind gelobte er sich selbst, NIEMALS seine Flügel mit dem verschütteten Öl der Politik einzureiben. Stattdessen phantasierte er von der internationalen Umwelt.
(Geflüsterte Parenthese: Kennst du die Emotion, nicht an der Generalität seiner Umgebung teilzuhaben? Dann kultiviere das auf jeden Fall beim Schreiben! Etwas zu gestalten, was von der eigenen Erfahrung völlig getrennt ist, ist ein unmögliches Vorhaben, ungefähr so, wie nicht zu lachen, wenn man die Alarmfrisur von Kramer in Seinfelds sieht.)
Dein Vater setzte seine Erzählung mit der turbulenten Zeit fort, die die fünziger Jahre in Algerien abschlossen. Da herrschte politisches Chaos, Demonstrationen überflossen die Straßen und Terror erschütterte den Alltag des Volkes. Im Heimatdorf deines Vaters richtete sich der Zorn der Leute auf die Franzosen gegen deinen Vater und deine Großen-Mutter. Aber Haifa weigerte sich, sich anzupassen, sie salutierte weiterhin den Franzosen, sie schmückte ihre Sprache mit französischen Phrasen und hob stolz hervor, dass ihre Genetik auf jeden Fall eher global als algerisch sei, eher kosmopolitisch als arabisch.
1962, als das Alter deines Vaters das eines Zwölfjährigen war, wurden die Eviandiskussionen terminiert. Die Franzosen versprachen, die Macht loszulassen. Die Befreiung war in Algerien ein Faktum. Die Konsequenz war ein Chaos, das wir typisch arabisch nennen können. Das Blut des Machtkampfes. Weitere Manifestationen. Noch mehr Terror. In diesem Sommer fünfzehntausend Tote durch FLN-Angriffe. Bis Ben Bella die Macht übernahm, seinen Einparteienstaat initiierte und alle Parteien außer der FLN ungesetzlichte. (Schreib mir . ohne dich enervieren zu wollen und ohne uns hei diesen aufreibenden Diskussionen, die du mit deinem Vater gehabt hast, aufzuhalten: Welches Volk ist wackliger in der Demokratie als die Araber? Es ist mir ein Rätsel, warum du hier nicht der Meinung deines Vaters bist.)
Das Verhalten vieler französischer Kollaborateure oder Jasager wurde verziehen und vergessen, um ihnen die Zukunft einer kontinuierlichen bürokratischen Karriere zu sichern. Nur einige wenige wurden von den Zeitschriften in den Farben der Schande gezeichnet. Einer von ihnen war dein Großen-Vater Moussa. Er hatte offenbar das Land verlassen, und nun wurde er in Artikeln und Karikaturen wie ein Hund an der Leine Frankreichs dargestellt. Die Konsequenz aus jenen Kampagnen? In typisch arabischer Manier ließ sich das Volk wie dumme Schafe an der Nase herumführen. Sie fingen an, vor dem Haus deiner Großen-Mutter Demonstrationen abzuhalten. Sie beschimpften deine Großen-Mutter, nächtliche Rufe echoten durch die Straßen des Stadtviertels. Einmal wurde ihre Tür mit schlecht riechenden Substanzen koloriert, die keine weitere Beschreibung verdienen.
Gleichzeitig begann Haifa, sich um die mentale Stabilität deines Vaters zu sorgen. Im Schlaf absolvierte er Expeditionen, phantasierte Schattenfreunde herbei, mit denen er Konversation betrieb. Einmal kleidete er sich sogar in die Schleier deiner Großen-Mutter und versuchte, sich als Frau zu maskieren. Die einzige Person, die Haifa noch Visiten abstattete und sie in dieser problematischen Zeit unterstützte, war Rachid, der arme Nachbar.
Leider war Rachid in jener Nacht absent, als ein Unsichtbarer sich in Haifas Haus schlich, die Gasleitung punktierte, dann eine Zigarette anzündete und auf die einschläfernden Gase wartete. Der Unsichtbare warf die Zigarette in das Haus und verschwand dann spurlos in den Schatten der Nacht, begleitet vom Schein des wild aufflammenden Feuers. Und wer rettete in letzter Minute deinen Vater aus den Feuern der Explosion? Der gerade erwachte Nachbar . Rachid.
«Und Rachid war es auch, der dich hierher nach Jendouba brachte?»
«Ja, das glaube ich. Aber ich erinnere mich nicht wirklich», flüsterte dein Vater in jenem rauen Tonfall, den man in der Morgendämmerung bekommt, wenn man viele Stunden allein gesprochen hat. «Ich erinnere mich, dass ich mich übergeben habe. Und ich erinnere mich, dass du mich da draußen im Eingang begrüßt hast. Alles, was ich von meinem Zuhause besitze, ist dieses Foto und diese Kastanie .»
Auf den Nachbarhöfen räusperten sich die Hähne, und meine Augen juckten vor Müdigkeit und fühlten sich sandig an. Trotzdem wollte ich nicht schlafen. Noch nicht. Ich sagte:
«Wie bizarr, dass unsere gegenseitigen Geschichten gewisse Ähnlichkeiten aufweisen. Auch meine Familie wurde in einem explosiven Brand als Konsequenz der Kolonialzeit ausgelöscht .»
«Hm.»
«Hallo, hörst du zu?»
Aber eigentlich saß dein Vater wie verzaubert von dem Foto da. Ich wollte ihn weder stören noch allein...
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