Schweitzer Fachinformationen
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Zwei Stunden bevor er starb, blickte Abdallatîf mit der letzten ihm verbliebenen Kraft seinem Sohn Bulbul tief in die Augen. Er schien ihm ein hochheiliges Versprechen entlocken zu wollen und wiederholte seine Bitte, auf dem Friedhof seines Heimatdorfes Anabîja begraben zu werden. Nach langer Zeit sollten seine Knochen nun neben den sterblichen Überresten seiner Schwester Laila ruhen, wie er sich ausdrückte. Neben ihrem Duft, wollte er eigentlich noch hinzufügen, doch dann war er nicht sicher, ob die Toten nach vierzig Jahren noch gleich riechen. Diese wenigen Worte, das war sein Testament. Er fügte ihnen nichts hinzu, was Unklarheiten hätte schaffen können. In seinen letzten Stunden wollte er schweigen. Also schloss er die Augen, ignorierte die Personen, die ihn umstanden, und versank lächelnd in seiner Einsamkeit. Nur Nevin holte er sich zurück: ihr Aussehen, ihr Lächeln, ihren Duft, ihren nackten Körper, umhüllt einzig mit einem schwarzen Tuch, ihren Versuch, zu fliegen wie ein Schmetterling. Damals, ihre Augen strahlten, er erinnerte sich genau. Sein Herz schlug heftig, seine Knie zitterten. Er nahm sie auf und trug sie zum Bett, wo er sie mit seinen Küssen verschlang. Doch bevor er sich jeden einzelnen Augenblick dieser «Nacht der ewigen Geheimnisse», wie sie sie nannten, vergegenwärtigen konnte, starb er.
Bulbul verhielt sich, in einem seltenen Anflug von Mut und unter dem Eindruck der Abschiedsworte und der traurig umflorten Augen des Sterbenden, fest und furchtlos. Er versprach seinem Vater, seinen letzten Willen zu erfüllen, was, obwohl es klar und einfach klang, doch ein recht schwieriges Unterfangen zu werden drohte. Es ist natürlich für einen Mann, in dem alles nach Klage ruft und der weiß, dass er innerhalb weniger Stunden gestorben sein wird, dass er schwach wird und schwer zu erfüllende Dinge verlangt. Und es ist auch natürlich für einen zerbrechlichen Mann wie Bulbul, ihn in dieser Stunde nicht im Stich zu lassen. Der letzte Augenblick ist immer emotional beladen und eignet sich im Allgemeinen nicht zum Nachdenken. In der gedrängten Zeit haben rationale Prozesse keinen Platz. Der Rückblick auf die Vergangenheit und die Begleichung von Rechnungen erfordern viel Ruhe und lange Betrachtung, die diejenigen sich nicht leisten können, die wissen, dass es gleich zu Ende geht. Rasch werfen sie ihre Lasten ab und ziehen los, um ans andere Ufer überzusetzen, wo die Zeit keinen Wert hat.
Bulbul bereute, nicht energisch gewesen zu sein, seinem Vater nicht klipp und klar erklärt zu haben, wie schwierig die Umsetzung seines letzten Willens in Tagen wie diesen wäre. Überall gab es Tote, die man in Massengräbern entsorgte, ohne auch nur ihre Identität festzustellen. Die Kondolenzfeiern beschränkten sich sogar für reiche Familien auf wenige Stunden. Der Tod war kein Karneval mehr, um Status zu markieren. Ein paar Blumen, ein paar Trauergäste, die zwei Stunden lang in einem fast leeren Raum gähnen, ein Koranrezitator, der mit gedämpfter Stimme ein paar Suren aus dem Heiligen Buch spricht. Und das war's dann.
Die stille Trauerfeier, dachte Bulbul, macht den Toten weniger einschüchternd. Zum ersten Mal sind im Tod alle gleich. Die Rituale bedeuten nichts mehr. Arme und Reiche, hohe Offiziere und niedrige Soldaten in der Regierungsarmee, Führer bewaffneter Brigaden, Kämpfer und einfache Tote, deren Identität niemand kennt, sie alle werden in mitleiderregend dürftigen Prozessionen zu Grabe getragen. Der Tod ruft wirklich keine Emotionen mehr wach, er ist eher eine Erlösung, die den Neid der Lebenden weckt.
Für Bulbul lagen die Dinge anders. Der Leichnam seines Vaters war eine schwere Last. In einem Augenblick falscher Emotionen hatte er ihm versprochen, ihn im Grab seiner Tante Laila, die er nie kennengelernt hatte, zur letzten Ruhe zu betten. Er hatte geglaubt, er werde ihn bitten, sich für die Rechte Nevins, seiner neuen Ehefrau, am Haus der Familie einzusetzen, diesem Haus, das einem Luftangriff zum Opfer gefallen war - bis auf das Schlafzimmer, wo sein Vater die letzten Tage in Liebe zu Nevin verbrachte, bevor er mit Hilfe oppositioneller Kämpfer seinen Wohnort S. verließ.
Ein eindrucksvoller Anblick, den Bulbul sein Leben lang nicht vergessen wird. Sie brachten ihn, sauber. Ganz offensichtlich kümmerten sie sich um ihren Genossen, der sich entschieden hatte, trotz der drei Jahre dauernden Belagerung in S. zu bleiben. Sie verabschiedeten sich von ihm mit großer Sympathie, sie küssten ihn heiß, ein Adieu für einen Kameraden. Sie legten Bulbul ans Herz, sich gut um ihn zu kümmern, er habe es verdient. Dann verzogen sie sich rasch, mit hastigen Blicken, über eine gut bewachte Seitenstraße mit Gärten, die zum Ort führte. Seine Augen folgten ihnen zum Abschied. Er versuchte, die Hand zu heben und ihnen zuzuwinken, aber er schaffte es nicht. Er war erschöpft und hungrig, hatte mehr als die Hälfte seines Gewichts verloren. Seit Monaten hatte er sich, wie alle Belagerten im Ort, nicht mehr richtig satt gegessen.
Sein Körper lag rosig auf eine Metallbahre gebettet im öffentlichen Krankenhaus.
«Jeden Tag sterben viele», sagte der Arzt zu Bulbul. «Sie sollten sich glücklich schätzen, dass er so alt geworden ist.»
Bulbul schätzte sich zwar nicht glücklich, wie der Arzt sich das gewünscht hatte, aber er verstand, was er meinte. Er fühlte sich sehr unwohl in seiner Haut. Die Straßen der Stadt waren nach acht Uhr abends verlassen, und bis zum nächsten Mittag musste der Tote abtransportiert sein. Die Pathologie war möglichst rasch zu entlasten. Am frühen Morgen würden aus den Randregionen von Damaskus, wo die Kämpfe nicht enden wollten, viele tote Soldaten gebracht.
Kurz vor zwei Uhr nachts verließ Bulbul das Krankenhaus. Sein Vater gehörte einer ganzen Familie, dachte er, und alle Mitglieder dieser Familie sind für die Umsetzung seines letzten Willens in gleicher Weise verantwortlich. Er suchte ein Taxi, das ihn zur Wohnung seines Bruders Hussain brachte, nachdem er am Vortag mehrfach vergeblich versucht hatte, ihn anzurufen. Er dachte sogar daran, ihm eine SMS zu schicken, aber die Nachricht vom Tod des Vaters per SMS wäre nun doch sehr pietätlos. So etwas war von Angesicht zu Angesicht zu erledigen, um Trauer und Schmerz zu teilen.
Einer der Krankenhauswächter wies ihm den Weg zum nahegelegenen Daraa-Taxistand. Dort werde er einen Wagen finden. Er beschloss, nicht auf den Schießlärm in der Nähe zu achten, und schritt rasch dahin, die Hände in die Taschen geschoben und die Furcht abgelegt. In einer solchen Winternacht herumzulaufen war höchst gefährlich. Unablässig fuhren Patrouillen umher. Die Straßen waren voller nicht zu identifizierender Bewaffneter. Der Strom war in den meisten Vierteln unterbrochen. Große Betonblöcke, aufgetürmt vor den Sicherheitsposten, versperrten viele Straßen. Wer nicht aus der Gegend stammte, wusste nicht, wo ein Durchkommen möglich war und wo nicht. In einiger Entfernung sah Bulbul ein paar Männer um ein Blechfass herumstehen, in dem ein paar Scheite Holz brannten. Das mussten Fahrer sein, deren Weg blockiert war und die auf den Morgen warteten, um nach Hause zu kommen. Er war drauf und dran aufzugeben, als er einen Taxifahrer fand, der völlig entspannt Liedern von Umm Kulthûm lauschte. Rasch einigte er sich mit ihm, ohne auch nur über den Fahrpreis zu diskutieren.
Anfangs schwieg er. Doch nach einigen Minuten ließ ihn seine Furcht nicht mehr stillhalten. Sein Vater sei vor einer Stunde im Krankenhaus gestorben, erzählte er ihm. Der Fahrer lachte. Im vergangenen Monat seien drei seiner Brüder und deren Söhne bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen, erwiderte er. Dann schwiegen sie beide. Das Gespräch war nicht mehr auf gleicher Höhe. Er hatte von dem Fahrer, der ihm gegenüber sehr anständig war, etwas Sympathie erwartet. Immerhin fuhr er erst wieder ab, als er sich überzeugt hatte, dass Bulbul angekommen war. Hussain öffnete die Tür. Als er seinen Bruder um diese Zeit da stehen sah, verstand er sofort. Er umarmte ihn inniglich, bat ihn herein, bot ihm Tee an und forderte ihn auf, sich frisch zu machen. Dann versprach er ihm, sich um alles Weitere zu kümmern: das Leichentuch zu beschaffen, die Grablegung zu organisieren und ihre Schwester Fatima abzuholen.
Bulbul fühlte sich erleichtert und schöpfte Mut. Eine schwere Last war von seinen Schultern genommen. Er vergaß sogar, dass Hussain sich kein bisschen für seinen Vater interessiert hatte, als dieser im Krankenhaus lag. Wichtig war, dass er sich jetzt nicht zurückzog und ihn im Stich ließ. Auf die Fähigkeit seines Bruders, in Situationen wie dieser zuzupacken, konnte er sich verlassen. Hussain war schon verschiedenen Tätigkeiten nachgegangen und besaß Erfahrung im Umgang mit den Behörden. Er hatte an zahlreichen Stellen Bekannte. Ohne zu zögern, löste Hussain die Sitze des Minibusses und arrangierte sie in Form einer offenen Kiste.
«Wir werden den Leichnam auf den Beifahrersitz legen. Der Platz reicht bequem für alle.»
Er meinte Bulbul und ihre gemeinsame Schwester. Selbst wenn ihr Schwager sie begleiten wollte, würde seine Anwesenheit sie nicht stören. Doch diesen Gedanken verwarfen sie rasch. Einem Mann gegenüber, dessen Leichnam ein paar hundert Kilometer zu seiner letzten Ruhestätte reisen muss, spüren Menschen sich nicht mehr sehr verpflichtet.
Am Morgen um sieben Uhr hatte Hussain alle Reisevorbereitungen getroffen und holte seine Schwester ab. Er hatte die Schilder des Minibusses, mit dem er auf der Strecke nach Dscharamâna als Service-Taxi fuhr, entfernt. Mit Hilfe eines Freundes,...
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