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Mutter starb, wie ich erfuhr, am frühen Abend - eigentlich eine unpassende Zeit. Im Allgemeinen sterben Menschen spätnachts oder kurz vor Tagesanbruch, was zeigt, dass der Schlaf eigentlich eine Einübung auf den Tod ist, der keine Träume kennt und in unserer Familie meistens unerwartet eintrat.
Mein Grossvater mütterlicherseits, Dschalâl al-Nâblussi, war siebenundachtzig Jahre alt, als er aus Anlass des zwanzigsten Jahrestags der Unabhängigkeit seine Uniform anzog und ruhig wie jemand, der Rituale liebt, alle seine Orden samt Eisenbahnerabzeichen daran befestigte. So angetan und mit allen Ehrenzeichen behängt, schaute er - bevor er wie üblich auf einer von allen Kameraden besuchten Feier der Kämpfe seiner Generation gedenken, danach einen Blumenkranz am Grab des Kämpfers Ibrahim Hanânu niederlegen und schließlich mit den anderen im Restaurant al-Andalus üppig zu Mittag speisen wollte - am Bagdad-Bahnhof vorbei, um sich den Angestellten dort zu zeigen. Doch da ihn niemand leiden konnte, streckte auch niemand die Hand aus, um ihm aufzuhelfen, als er auf Bahnsteig 1 das Gleichgewicht verlor, und so wurde er von einem langsam heranfahrenden Güterzug überrollt.
Meine Großmutter mütterlicherseits, Bahîja al-Kâtibi, war noch keine fünfzig, als sie starb - vor Lachen. Schon tot, aber noch lächelnd, blieb sie noch für Stunden auf ihrem breiten Sofa sitzen, weil niemand den Mut hatte, ihr Ableben zu verifizieren. Man wartete darauf, dass sie zu lachen aufhörte. Als ihre Gesichtszüge schlaff wurden, trat unsere damals noch nicht dreizehnjährige Mutter vor den schweren Körper der ihren und machte sich Gedanken darüber, wie mühsam sich die Bestattung gestalten würde. Sie dachte auch, dass sie ihr nicht erzählt hatte, dass bei ihr die Menstruation eingesetzt hatte. Mutter wurde zur Frau und erinnerte sich an einen Traum, der sie ihre ganze Kindheit hindurch begleitet hatte: sie selbst als Schwan, der wegflog. An diesen Traum klammerte sie sich, und dass ihre Mutter klaglos an einem ausgedehnten Lachanfall gestorben war, betrachtete sie als eine Schicksalsbotschaft. Der Fehler, der meine träumende Großmutter an ihrem Platz gehalten hatte, musste auch zu ihrem unbeschwerten Tod geführt haben. Deshalb gelobte sie sich als Schwan, es niemals zuzulassen, dass die Fäulnis, die vom Stillstand kommt, unter ihre weiche Haut dränge.
Während ihrer letzten Lebensjahre saß Mutter oft nächtelang mit Onkel Nisâr zusammen. Dann erzählte sie ihm den Traum von ihrer Verwandlung in einen Schwan, und behauptete abschließend, ihre Mutter sei eine unbekümmerte Person gewesen. Sie habe den Gütern des Lebens gleichen Wert wie dem Tod zugestanden, nachdem sie Großvater Dschalâl al-Nâblussi geheiratet hatte, der sie niemals auch nur angeschaut oder von seinem Recht Gebrauch gemacht habe, mit ihr vor der Heirat einmal allein zu sein. Vom ersten Augenblick an kam er ihr wie ein hirnloses Schaf vor, das seine Familie zur Erfüllung einer Pflicht geführt hatte, die er rasch und ohne viel Aufhebens erledigte, um dann wieder zu seiner Arbeit mit Monsieur Henri Sourdan zurückzukehren, der ihm das Gehirn mit Plänen von Zuglinien und Entwürfen von großartigen Bahnhöfen vollstopfte, die mit Statuen griechischer Götter geschmückt waren. Mein Großvater wurde nicht müde, von einer in der berühmten Architekturzeitschrift Perspective erschienenen Studie zu erzählen, in der Henri Sourdan die neuen Theorien kritisierte, wonach Bahnhöfe aus Eisen und Glas gebaut werden müssten. Außerdem richtete er Schriften und Aufrufe an die Verantwortlichen in Paris und bat sie, sich gegen diese neue Kultur zu erheben, die den öffentlichen Geschmack verderbe. Er beschrieb den Bahnhof als den «Mutterleib der Stadt» und verlangte, der Geringschätzung Einhalt zu gebieten, der jüngere Architekten das Wort redeten, die nicht zu unterscheiden wüssten zwischen der unumgänglichen Pracht eines ewigen Bauwerks, wie die Akropolis in Athen, und dem Aufstellen von Toiletten für eine vorübergehend einquartierte Armeeeinheit.
Monsieur Henri Sourdan breitete Karten aus und wies mit einem kleinen Stecken auf die Orte in Syrien, an denen er nach der Fertigstellung des Schienennetzes, das unter anderem Bagdad mit Paris verbinden sollte, Bahnhöfe zu errichten gedachte. Aleppo sollte das Zentrum sein, von dem alle Linien ausgingen, und dadurch zum Herzen der Welt werden, durchaus berechtigt, wie er meinte. Dafür legte er sich mit den Verantwortlichen der Hedschâs-Bahn in Damaskus an, die ihre Aufmerksamkeit auf den Südteil des Projekts, die Verbindung nach Medina, richteten - zum Nachteil der Linie Bagdad-Aleppo-Istanbul.
Die Augen meines Großvaters füllten sich mit Tränen, wenn er voller Ehrfurcht Monsieur Henri Sourdan ansah, den meine Großmutter insgeheim verabscheute, weil er dem Idealmann glich, von dem sie noch immer träumte: großgewachsen, selbstbewusst und in Gedanken immer woanders. Sie fürchtete seine Verführungskraft, wollte keine zarten Gefühle erwecken durch diese Kopie eines Mannes, der nur ungern lachte und nur dann sanft und sogar attraktiv war, wenn er von Bahnhöfen sprach. Trotz der verschiedentlich geäußerten Bitte meines Großvaters erlaubte sie ihm nicht, ihn in ihr Haus einzuladen, das, wie sie vom ersten Augenblick an spürte, ein idealer Ort für Hass war, mit seinem Geruch nach metallischem Öl und Eisenschrauben.
Trotz des Lärms, den die Untermieterinnen bei ihrer Freundin Therese machten, verlor sich meine Großmutter in Gedanken. Sie wurde einsilbig, hörte auf zu lachen und schien geradezu zu leiden, je näher der Zeitpunkt der Rückkehr in ihre Wohnung kam, die sie vernachlässigte und die in Ordnung zu halten sie ihrer ältesten Tochter überließ, Tante Ibtihâl, die von ihren Tanten väterlicherseits eine Nase abscheulich wie ein Krähenschnabel geerbt hatte, außerdem eine grenzenlose Begeisterung für den osmanischen Lebensstil.
Tante Ibtihâl nahm die Haushaltsführung sehr ernst. Sie führte die osmanische Lebensweise ein und bediente sich mit heiliger Ehrfurcht auch deren Vokabular, was meine Großmutter zunächst beunruhigte. Doch dann schickte sie sich drein und ließ ihre Tochter schalten und walten, ohne sich einzumischen. Sie schien sich ein für alle Mal von jeglicher Bindung an ihren Haushalt verabschiedet zu haben und gestand sich ein, dass sie nichts mehr mochte, was mit meinem Großvater zu tun hatte. Sie verteidigte nicht einmal ihr Bett, als Ibtihâl es gegen ein hohes Eisenbett austauschte, das mit Koranversen verziert war. Daneben legte die Tochter das heilige Buch in einer bestickten Hülle, und auf der gewölbten Kommode standen eine Kupferschüssel und eine langhalsige Kanne mit aufklappbarem Deckel. Für meine Großmutter war die Wohnung nichts als ein Stall zum Schlafen und zum Kinderkriegen. Ihr Leben lang blieb sie im Bett gleichgültig und verdrießlich, als wollte sie meinen Großvater dafür bestrafen, dass er sie nie gefragt hatte, ob sie sich ein Leben mit ihm vorstellen könnte. Er redete immer nur von Zügen und verschiedenen Maschinenarten. Er konnte mit großer Ernsthaftigkeit und Leidenschaft von den Qualitäten von Henschel-Lokomotiven sprechen und ihre technischen Daten aufzählen. Neunzehn mit Eisen beladene Wagen könnten sie mit vierzig Stundenkilometer ziehen, berichtete er, doch die erwartete Bewunderung blieb aus. Seine Frau sah ihn nur befremdet an.
Er schien in einer anderen Welt zu leben, weit weg von den Dingen, die jedem anderen Mann etwas bedeuteten, wenn er nach Hause kam. Und er hatte eine Frau, die sich ihr ganzes Leben lang fragte, wie das geschehen konnte. Vom ersten Tag an verabscheute meine Großmutter alles: den kleinen Balkon, der auf die Hauptstraße von Dschamilîja hinausging und die großen, miteinander verbundenen Zimmer. Mutter erzählte sie, ihr Ehemann habe sie ihr ganzes Leben eigentlich nie angeschaut, ja, er könne nicht einmal sagen, ob sie ein Muttermal unterm linken Ohr oder auf der Nase habe. Für das Bild, das, nach der Geburt meiner Mutter, die ganze Familie zum ersten Mal vereint zeigte, hatte sie nur Hohn übrig. Sie versuchte, für den langen Hals und die feinen Fingerchen Begeisterung zu zeigen, doch da war sie schon so weit weg von allem, dass sie den ganzen Tag nur noch im Haus umherwanderte und das Essen in den Kochtöpfen anbrennen ließ, ohne sich darum zu kümmern. Sie schimpfte auf die Männer, diese Verräter, die ihre Geliebten nicht verteidigten, nachdem sie sie auf dem Pferd entführt hatten - etwas, wovon sie träumte, seit sie, damals gerade vierzig Jahre alt und längst eine fette, herumschlurfende Frau, Western und die Welt des Kinos für sich entdeckte. Die Ermahnungen ihrer Freundin Therese, kein Fett mehr zu essen, schlug sie in den Wind. Sie beide hätten sowieso nichts mehr zu erwarten, erwiderte sie, außer Erinnerungen: an das Gelächter mit den Untermieterinnen in ihrem Haus und das Kartenspiel bis spät in die Nacht hinein - nach einem von ihrer Tochter Ibtihâl erfundenen osmanischen Ritual. Sie brachte einen Krug mit Tee, Knabberzeug und die schwere Tafel, um die Resultate zu notieren. Sie breitete eine bestickte Decke über den Tisch und vergaß natürlich auch nicht die Musik eines Sultansorchesters, das Melodien aus längst vergangenen Zeiten spielte. In aller Ruhe begannen sie mit dem Kartenspiel, und in aller Ruhe unterhielten sie sich über die Stammbäume der Familie und empörten sich dabei über Eheschlüsse von Söhnen aus guten Familien mit Mädchen vom Land.
Therese gab nur wenige Geheimnisse von damals preis, und diese...
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