Schweitzer Fachinformationen
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Der Tag, an dem Agnes in die Schule einbrach, war ein Donnerstag. Sie schob sich mit den Füßen voran durch das ebenerdige Fenster des naturwissenschaftlichen Trakts. Es lag auf dem seitlichen Schulhof hinter zwei Hartriegelsträuchern, deren breiter Schattenwurf es für den Einbruch qualifizierte - hilfreich war zudem die Tatsache, dass jemand das Fenster auf Kipp gestellt hatte. Agnes hakte die seitlichen Scharniere aus, genauso wie bei dem kaputten Schlafzimmerfenster, um dessen Reparatur sie sich dringend kümmern mussten. Das Linoleum federte sowohl das Patschen des Aufpralls als auch ihren Körper ab. Trotzdem spürte sie, wie die Aufregung ihre Glieder verspannte. Aus den umliegenden Klassenzimmern drangen Stimmen. Es roch nach Putzmitteln, Schweiß und akademischen Fragen.
Agnes wunderte es nicht, dass heute Donnerstag war. All dies konnte nur an einem Donnerstag geschehen. Schließlich hatte jedes einschneidende Ereignis ihres Lebens am vierten Tag der Woche stattgefunden. Von ihrer Geburt über den ersten Kuss von Tom im Morgengrauen vor dem Banksy Graffiti in Hamburgs Steinwegpassage, der spontanen standesamtlichen Trauung, Jonas' Geburt (Emma hatte den Donnerstag um sieben Minuten verpasst, was sie gewissermaßen zu einem verhinderten Donnerstagskind machte) bis zur letzten Prüfung ihres Biologiestudiums. Selbst der Kanarienvogel ihrer Kindheit hatte an einem Donnerstag das Zeitliche gesegnet. Außerdem hatte Agnes sich eine eigentümliche Aussprache dieses mittlersten aller Wochentage angewöhnt. Donne-stag. Sie verschluckte das r. Es klang wie: Don, ne? Stag. Eine Handlungsanweisung in einer Kunstsprache, die nur sie verstand. Ihr ganz eigener Wochentag.
Agnes schaute sich um. Schließfächer, Kleiderhaken, Pinnwände, Bilder und vereinzelte Stühle säumten den breiten Flur, der sich ein Stück weiter in vier Richtungen aufspaltete. Von da aus führten Gänge tief in die fachschaftlichen Eingeweide der Schule. Niemand kam. Es war 8.55 Uhr. Die zweite Stunde des ersten Blocks begann gerade. Agnes schnappte sich einen Stuhl und schob ihn unter das geöffnete Fenster, damit sie notfalls schneller fliehen konnte. Sie schlich zur Flurkreuzung, bog ab in den langen Gang des Nawi-Trakts, der hinüber ins Hauptgebäude führte, drückte sich eng an der Wand entlang, erklomm die Freitreppe hinauf in den ersten Stock, nahm den zweiten Gang rechts und erreichte schließlich Emmas Klassenzimmer, ohne gesehen zu werden. Sie zog das zusammengerollte Plakat aus dem Rucksack und hängte es in einem Stoffbeutel an die Garderobe.
Zurück auf dem Schulhof ließ Agnes sich auf eine der Bänke fallen. Obwohl sie die Lippen aufeinanderpresste, drang ein glucksendes Lachen aus ihrer Kehle. Sie war tatsächlich in die Schule eingebrochen! Hatte die Sekretärinnen mit ihrem »Das ist hier keine Poststelle!« und »Die Kinder müssen lernen, die Konsequenzen ihrer Vergesslichkeit selbst zu tragen!« ignoriert und das Glück ihrer Tochter in die Hand genommen. Natürlich wollte man herumschwirrende Helikoptereltern zügeln, die dem Nachwuchs täglich Radiergummis hinterhertrugen. Und klar ging es auch um die Sicherheit der Kinder. Es gab zu viele verstörende Geschichten, in denen sich Unbefugte Zutritt zu Schulen verschafft hatten. Aber die Kinder konnten ja auch einmal etwas wirklich Wichtiges vergessen. Das war nur menschlich. Und zeichnete sich Menschlichkeit nicht dadurch aus, dass man sich menschlich verhielt? Wie sollten die Kinder Anteilnahme, Nachsicht, Mitgefühl lernen, wenn man es ihnen nicht vorlebte? Natürlich spielte Verhältnismäßigkeit eine Rolle. Niemand lernte Großmut von einem verbummelten Radiergummi. Aber Emma hatte nächtelang über den Zeichnungen für das Plakat gebrütet. Mit der Zunge zwischen den Lippen malte sie das Herz-Kreislauf-System eines Menschen im Maßstab 1:1, tuschte es mit Aquarellfarben, beschriftete es bis zum letzten Lymphknoten, um nicht nur den verhassten Biologielehrer, sondern auch ihren medizinierenden Vater zu beeindrucken.
Und dann hatten sie alle heute Morgen verschlafen. Agnes rätselte noch immer, wie es dazu hatte kommen können. Sie war zwar eher Eule als Lerche, aber meist wachte sie bereits auf, wenn Tom die Wohnung zum Frühdienst verließ. Heute hatte nicht einmal der Wecker geholfen.
Sie rieb sich die Augen. Eine ungewohnte Müdigkeit lastete auf ihren Lidern. Es fühlte sich an, als sei sie ohne ihren Körper aufgestanden, als läge er noch immer horizontal auf den sieben Zonen der Kaltschaummatratze. Schwer und erschöpft. War wahrscheinlich der Hektik des Morgens geschuldet. Dem Adrenalin, das ihren Körper durchfahren, sie aufgeputscht und durch die Wohnung hatte hetzen lassen und das sich jetzt langsam abbaute. Sie textete Emma, dass das Plakat an der Garderobe hing und wünschte ihr viel Glück für die Präsentation.
Agnes entschied sich auf dem Weg zum Einkaufen für die Strecke entlang des Isebekkanals. Die Sonne strahlte, als hätte jemand sie am altweibersommerblauen Himmel festgeklebt und per Knopfdruck eingeschaltet. Sie stand bereits tief zu dieser Jahreszeit. Die Schatten der Bäume streckten sich weit, berührten fast die unteren Etagen der Häuser auf der gegenüberliegenden Uferseite. Licht spiegelte sich auf dem dunklen Wasser, brach auf zarten Wellen in glitzernde Tropfen. Agnes konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt die Zeit für einen Ausflug gefunden hatten. Mal raus aus der Stadt, rein in die Natur. Hamburg bemühte sich. Redlich. Aber Beton war Beton war Beton.
Sie fuhr mit dem Rad in Richtung Hoheluftchaussee und schrieb Britta, dass sie ausnahmsweise morgen statt heute zum Arbeiten kommen würde.
Agnes: Frag nicht.
Britta: Witzig. Willst du, dass mein Psychologinnenherz stirbt vor Neugier?
Agnes: Das verhindert die Pädagogin in dir.
Britta: Erinnere mich daran, dir eine Fortbildung Empathie zu genehmigen.
Agnes grinste. Sie schrieb: Ich muss jetzt los. Fügte dann aber doch ein lachendes Emoji hinzu. Britta streckte ihr mit einem der kleinen gelben Gesichter die Zunge heraus.
Voll beladen schloss Agnes zwei Stunden später die schwere grüne Holztür zur Contastraße 15 auf. Sie stolperte ins Treppenhaus, in dem es zu jeder Tageszeit nach Essen roch. Der Duft schien dabei aus keiner der zehn Wohnungen selbst zu strömen, vielmehr haftete er in den Fugen der Kacheln und im Klebstoff der alten Lincrusta-Tapeten. Agnes liebte diesen Gründerzeitcharme. Den säuerlichen Bohnerwachsgeruch, der von den Linoleumplatten auf den Stufen ausging, das seltsame Strohgemisch, das aus den Holzbalkendecken rieselte, wenn man versuchte, eine neue Lampe aufzuhängen, den abgeplatzten Stuck, die Schrammen auf den Pitchpinedielen. Sie fand schon immer, dass man Narben stolz präsentieren sollte. Gelebte Geschichte. Es hatte Jahre gedauert, bis Tom und sie sich diesen gemeinsamen Traum leisten konnten: eine Altbauwohnung, hundertfünfundvierzig Quadratmeter Raum, absurd hohe Wände, zentral im Westen der Stadt gelegen.
In der Wohnung fand Agnes in der Küche die Brettchen, Gabeln, Teller und Messer vom Abendessen der Kinder in der Spüle. Zum Aufräumen und Frühstücken hatte es an diesem hektischen Morgen nicht gereicht. Sie seufzte. Wie viele Stunden Eltern weltweit wohl schon damit zugebracht hatten, ihre Kinder aufzufordern, das Geschirr direkt in die Spülmaschine zu stellen anstatt in die Spüle. Die Besiedelung des Mars hätte man in dieser Zeit abschließen können.
Sie packte die Einkäufe aus, räumte das Geschirr in die Maschine, kochte Gemüse und Nudeln, stapelte alles in einer Keramikschale und schob den Auflauf mit einer Käsesoße in den Ofen. Agnes staubsaugte das Wohnzimmer, klaubte schmutzige Klamotten aus den Kinderzimmern, füllte die Waschmaschine und leerte den Trockner. Deshalb liebte sie Aufläufe. Sie boten ihr die Gelegenheit, noch während des Kochens Dinge zu erledigen. Pfannkuchen waren dafür denkbar ungeeignet. Genauso wie geröstete Pinienkerne, Mehlschwitzen oder Kurzgebratenes. Zum Glück verzichteten sie inzwischen alle größtenteils auf Fleisch, was den mittäglichen Aufwand reduzierte.
Agnes wusste aus Kindheitstagen, wie schön es war, wenn zu Hause jemand mit warmem Mittagessen wartete. Allerdings endete der Unterricht ihrer Kinder meist zu unterschiedlichen Zeiten, sodass Agnes oft zweimal aß, um beiden gerecht zu werden. Ein Ritual, das im Laufe der Jahre nicht nur kneifende Hosen, sondern auch drückende BHs zur Folge hatte.
Mit einer halben Stunde Verspätung kam Emma als Erste nach Hause. Die Ereignisse des Schultags purzelten bereits im Flur aus ihr heraus. Noch bevor der Rucksack den Boden berührte, sie die Schnürbänder ihrer hohen Sneaker gelöst und die Jeansjacke auf die Sitzbank gekickt hatte, kannte Agnes die emotionalen Eckpfeiler ihres Vormittags. Manchmal erschienen ihr diese atemlosen Erinnerungen wie Wackersteine, die Emma bei ihr ablud, um sie nicht länger selbst tragen zu müssen. Aber dafür waren Mütter schließlich da.
Offenbar hatte der Biologielehrer sich bei den Erläuterungen zum neuen Thema verquatscht, sodass am Ende zu wenig Zeit für Emmas Präsentation blieb. Sie sollte nächste Woche referieren, was Emma mit einem lapidaren Schulterzucken quittierte. Agnes hingegen spürte die Enttäuschung über ihren sinnlosen Einbruch wie ein zu eng geschnürtes Korsett.
Nach dem Mittagessen mit ihrer Tochter buk sie ihre Wut auf den Lehrer in einen Marmorkuchen, von dem Jonas die Hälfte verschlang, als er endlich heimkam. Nach Auflauf war ihm nicht.
Später radelte Emma zum Klavierunterricht, und Jonas musste zum Handball. Doch er...
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