KAPITEL ZEHN
Um zwei Uhr am Nachmittag öffnete Kam die Tür seines neuen, derzeitigen Apartments.
»Hallo.« Sein Blick streifte in einer Art über sie, die zu ignorieren Lin sich streng vorgenommen hatte.
»Hallo.«
Sein Kopf senkte sich. Sie spürte, wie sie in Panik geriet. Seine Lippen fuhren über ihren Mund. Er roch fantastisch. Einige Sekunden lang erwiderten ihre Lippen seinen Kuss, ohne dass Lin dazu ihr Einverständnis gegeben hätte. In ihr schnallte etwas wie eine Peitsche.
Abrupt drückte sie ihm einen Umschlag, in dem der Sensor und der ausgefüllte Medizin-Fragebogen steckten, in die Hand und ging an ihm vorbei.
»Hattest du Probleme mit dem Sensor?«, wollte er nach einer kurzen Pause wissen. Er klang ein wenig verwirrt.
»Nein. Genau wie du gesagt hast, war es ganz einfach«, antwortete Lin leichthin.
In den vergangenen Stunden hatte sie ihre Unruhe mühsam, aber ordentlich am Rande ihres Bewusstseins verstaut. Sie würde dieses Problem hervorholen und aufräumen, sobald sie sich emotional stabiler fühlte. Allerdings konnte einer von Kams innigen Küssen problemlos etwas in ihr aufwühlen und damit ihrem Vorhaben ernsthaften Schaden zufügen.
»Es sieht toll aus hier. Und du bist nur drei Stockwerke von Ian und Francesca entfernt«, bemerkte Lin, während sie durch das große, luxuriöse Wohnzimmer spazierte, das mit einer gefälligen Mischung aus asiatischen Antiquitäten und modernen, bequemen Sofas und Sesseln eingerichtet war. Als sie das Zentrum des Raumes erreicht hatte, drehte sie sich um.
»Ja. Francesca hat mich schon zum Mittagessen in das Penthouse eingeladen.«
Sie hob die Augenbrauen und schenkte ihm einen vorsichtigen Blick. Ihr war klar, dass er sich schnell klaustrophob fühlte, wenn die Familie ihm zu nahe rückte. Es war nicht so, dass Kam seine neue Familie nicht mochte - Lin war sogar überzeugt, dass er inzwischen recht stolz auf sie war. Aber Kam war kein Freund von großen Aufmerksamkeitsbeweisen oder Plaudereien.
»Und, bist du hingegangen?«
Er zuckte mit den Schultern, als sei die Antwort offensichtlich.
»Hast du schon einmal Mrs. Hansons Küche gekostet?«, fragte er und brachte damit Ians langjährige Haushälterin ins Spiel.
»Ja, ihr Essen ist köstlich. Ich würde auch nie die Gelegenheit ausschlagen, eines von Mrs. Hansons Menüs zu genießen. Hat mit dem Umzug deiner Sachen vom Hotel alles geklappt?« Sie hielt die perfekt freundliche Miene aufrecht. In Sachen eleganter Freundlichkeit war Lin Expertin.
Kam nickte, den Blick fest auf sie gerichtet. Dann folgte er ihr ins Wohnzimmer. Aus den Augenwinkeln heraus war ihr aufgefallen, wie wild und ungemein attraktiv er aussah in seiner ausgebleichten Jeans und dem stahlblauen Hemd, das seine grauen Augen besonders hell wirken ließ. Hätte sie das alles nur geahnt, hätte sie ihm hässlichere Kleidung gekauft, dachte sie, denn sie hasste die Verwirrung, die sein schickes Aussehen bei ihr auslöste.
»Ja. Und ich habe auch meine Ausrüstung aufbauen können«, stellte er fest und wies auf eine Reihe kleiner mechanischer Apparate, die, mit Kabeln und Elektroden verbunden, auf dem Tisch lagen. Lin sah zu, wie Kam den Sensor, den sie mitgebracht hatte, auspackte und an seine Maschinen anschloss. Eines der Kabel führte zu einem Laptop auf der Couch. Ein weiterer Computer lief, war aber nicht an die anderen Apparate angeschlossen.
»Prima. Dann können wir vermutlich ja beginnen.« Lin zog ihren Mantel aus und legte ihn über einen Stuhl. »Ich muss noch ein paar Dinge erledigen, bevor ich nach Hause fahre und mich für das Treffen heute Abend umziehe.«
Sie bemerkte, wie sich seine Miene verdüsterte.
»Wir müssen uns schon wieder schick machen?«
»Ja. Ich hatte noch keine Gelegenheit, es dir zu sagen, aber ich konnte noch Karten für die Premiere in der Oper heute Abend besorgen. Jason ist begeistert. Der Premierenabend beginnt um sechs, aber wir treffen Jason erst um halb sieben. Sie spielen Otello. Über Geschäftliches können wir dann anschließend beim Essen sprechen. Du solltest also den Smoking tragen, den wir haben schneidern lassen.«
Seine Gesichtszüge fielen in sich zusammen. Lin fühlte sich mit einem Mal, ohne es zu wollen, schuldig. Gott, sie war furchtbar. Vor knapp einer Stunde hatte sie sich entschieden, die Pläne umzuwerfen - im Wissen darum, dass Kam die Änderung nicht gefallen würde. Und warum hatte sie das getan? Weil sie plötzlich heftige Eifersucht verspürte, als seine französische Geliebte aufgetaucht war? Oder vielmehr weil sie verstanden hatte, dass zwanglose Affären für ihn etwas Alltägliches waren?
Du musst ihn aus dem Gleichgewicht bringen, hatte sie sich zugebilligt. Er berührte sie weitaus mehr, als es ihr recht war. Allein wenn man sich überlegte, was er mit ihr gestern Abend in dem Restaurant getan hatte. Sollte sie wieder einen Beweis für ihre Verletzlichkeit brauchen, was ihn anging, so würde diese Szene sicher ausreichen. Und es war ja auch nicht so, dass sie Kam nicht schon darauf vorbereitet hatte, dass ihm die anstehenden Verabredungen womöglich unangenehm sein könnten. Genau deshalb war sie ja schließlich hier, um seine Unruhe zu beruhigen.
»In Ordnung. Smoking. Premiere. Dein Ex-Freund. Klingt alles nach einem wirklich lustigen Abend«, murmelte er und schaltete ein paar Uhren in den schlanken Mechanismus auf dem Tisch.
»Jason ist nicht mein Ex-Freund. Wir hatten gelegentlich etwas miteinander. Du kennst doch diese Art von Beziehung.«
Er sah sie an. Seine dunklen Augenbrauen waren gerunzelt, in seinem finsteren Blick lag Verwirrung. »Was ist mit dir los?«, wollte er plötzlich wissen.
»Nichts.« Sie antwortete auf seine Verwirrung mit einem warmen Lächeln. »Können wir anfangen?«
Er hatte den Mund geöffnet, um ihr etwas zu erwidern, doch schien er es sich in letzter Sekunde anders überlegt zu haben. Stattdessen drückte er einen weiteren Knopf und streckte den Rücken durch.
»Ja. Wenn du so weit bist. Du musst dich nur noch ausziehen.«
Sie lachte laut auf. Kam zog die Augenbrauen hoch.
»Das meinst du nicht ernst, oder?«, wollte sie wissen. In ihrer Stimme klang der Schreck darüber mit, dass er einfach nur abwartend dasaß.
»Natürlich meine ich das ernst. Ich muss die Elektroden an allen deinen Pulsstellen befestigen, um die Basisdaten zu gewinnen.«
Ein paar Sekunden stand sie unbewegt da, den Mund offen und ohne ihre eben noch zur Schau getragene Leichtigkeit. Furcht stieg in ihr auf. Es war ihr noch sehr präsent, wie er am ersten Abend im Savaur ihr Handgelenk gepackt hatte und sie fortan fürchtete, er könne ihre Unruhe spüren. Ihre Erregung.
Mit seiner Maschine würde er in ihr wie in einem offenen Buch lesen können.
Sie war wohl nicht bei Trost gewesen, als sie sich einverstanden erklärt hatte, dies mitzumachen. Nichts hätte sie in diesem Augenblick mehr beunruhigen können als die Vorstellung, Kam Reardon den Blick in sie hinein zu erlauben und es ihm zu ermöglichen, in ihrem Innersten herumzustöbern. In ihren Geheimnissen.
»Warum kann ich mir die Elektroden nicht selbst anlegen? Das sollen die späteren Nutzer doch ebenfalls können, oder?«
»Ja, aber noch haben wir kein Test-Protokoll, anhand dessen wir den Nutzern erklären können, wie sie die Daten selbst gewinnen können. Bis dahin muss entweder ich oder ein dazu ausgebildeter Mediziner sie anbringen, damit wir auch die richtigen Daten bekommen.«
»Aber das kannst du doch bestimmt auch mit Kleidern machen«, protestierte sie noch einmal schwach.
Kam warf ihr einen trockenen Blick zu und nahm eine der Kabelverbindungen vom Tisch in die Hand.
»Ich habe dich fast die ganze Nacht über nackt in den Händen gehalten. Noch vor ein paar Stunden hatten wir Sex, sehr viel Sex. Ich verstehe nicht, warum du dich jetzt zierst, dich vor mir auszuziehen.« »Aber ich geniere mich jetzt«, rutschte es Lin heraus, noch bevor sie sich zurückhalten konnte. »Müssen sich all deine Testpersonen nackt vor dir ausziehen?«
»Nein«, gab er unverblümt zurück. »Meine menschlichen Testobjekte haben bislang immer Krankenhauskittel getragen. Aber ich habe jetzt keinen hier.« Er atmete tief aus und runzelte die Stirn, als er ihre verteidigungsbereite Haltung erkannte. »Willst du mir jetzt sagen, was dich so ärgert, oder nicht?«
»Ich bin nicht verärgert«, log sie. Kurz suchte sie nach einem Ausweg aus dieser Situation, doch sie fand keinen. Sie hatte versprochen, ihm bei diesem Projekt zu helfen, das Ian für ihn vorbereitet hatte. Und die Gewinnung von Daten für eine Testpräsentation gehörte ganz elementar dazu. Außerdem hatte sie sich erst gestern dazu bereiterklärt. Wenn sie nun einen Rückzieher machte, würde das ihre Verletzlichkeit sogar noch deutlicher zu Tage treten lassen.
»Einverstanden. Aber den BH und den Slip behalte ich an.«
»Um den BH kann ich herumarbeiten, aber dein Höschen musst du ausziehen.«
Bei dieser abgeklärten Antwort musste sie nach Luft schnappen. Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich, während er sie ansah. Zu spät fiel ihr auf, dass sie sich damit verriet.
»Leg dir ein Handtuch um, wenn dir das lieber ist«, schlug er mit zusammengekniffenem Mund vor. Sie verstand, warum er ärgerlich war. Wo war denn ihr Anstand gewesen, als sie sich in aller Öffentlichkeit von seinen streichelnden Händen zu einem wirbelnden Orgasmus hatte verführen lassen? »Gästebad, erste Tür links.« Er wies auf den Flur....