KAPITEL FÜNF
Es wurde für Lin schließlich noch ein wunderbares Essen mit Kam, den sie sogar überzeugen konnte, sie von den Spareribs und der Pizza probieren zu lassen. Er hatte recht gehabt. Das Essen war köstlich. Sie blieben noch so lange sitzen, bis Lin bedauernd feststellte, dass sie zurück ins Büro musste. Da er Interesse gezeigt hatte, andere Unternehmen kennenzulernen, führte sie bei der Taxifahrt zurück ein paar Telefonate und organisierte für Kam einen Besuch bei Schnell Industries, einem jungen, vielversprechenden Technologieunternehmen, und bei Alltell, einer bedeutenden Firma für Mobilfunk-Technik.
»Könntest du dir vorstellen, Mobilfunk-Technologie einzukaufen, um deine Uhr in einen Organizer oder ein Kommunikationsgerät weiterzuentwickeln?«, wollte sie wissen.
»Ich denke darüber nach«, antwortete Kam vage.
»Denn das wäre eine fantastische Idee«, begeisterte sie sich. Sie lehnte sich in den Taxisitz zurück und überdachte gerade all die innovativen Möglichkeiten für Kams Entwicklung, als sie bemerkte, dass er sie fest anblickte.
»Es ist sicher sehr aufregend für dich, ein solch aufsehenerregendes Produkt zu haben. Ich könnte mich wirklich für deine Uhr begeistern«, erklärte sie ernsthaft.
»Könntest du?«, fragte er. Lin zuckte ein wenig, als sie die Intensität hinter seiner leisen Frage spürte.
Sie hörte früh auf zu arbeiten und fuhr in ihre Wohnung zurück. Dort wollte sie noch einen neuen Tanzschritt üben, der ihr bislang noch schwerfiel. Der traditionelle chinesische Tanz verlangte höchste Körperbeherrschung. Für sie war es eine Art Meditation, eine Übung, die ihr half, ihre Mitte zu finden, ihren Frieden . ihre Kontrolle.
Etwas in ihr sagte ihr, dass sie diese Kontrolle noch heute brauchen würde.
Sie wischte den flüchtigen Gedanken beiseite, und es gelang ihr, sich eine Weile in dem fließenden Rhythmus des Tanzes zu verlieren. Dann duschte sie und legte sich zwei Kleider zurecht, die für das Dinner infrage kamen. Als sie ihren begehbaren Kleiderschrank gerade verlassen hatte, klingelte es an der Tür. Sie legte die Kleider über den Arm und schloss eilig ihren Bademantel. Nachdem sie durch den Spion kontrolliert hatte, wer vor der Tür stand, machte sie auf.
»Hallo«, begrüßte sie Richard St. Claire lächelnd. »Was machst du um diese Zeit zu Hause?« Sie wusste, dass er zu dieser Tageszeit eigentlich im Restaurant arbeitete.
»Ich habe mir irgendetwas eingefangen. Emile hat mir gesagt, ich solle mich ins Bett legen, bevor ich noch die Gäste anstecke«, krächzte Richard und zeigte auf seine Brust. »Könnte ich mir deinen Luftbefeuchter ausleihen? Meine Lunge zerreißt jedes Mal, wenn ich huste.«
»Es klingt, als hättest du dir auch eine Kehlkopfentzündung geholt«, bemerkte sie beunruhigt. »Warst du schon beim Arzt?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich habe kein Fieber. Ich muss mich nur ein bisschen schonen.«
»Komm«, sagte sie und eilte zurück ins Schlafzimmer. Sie warf die beiden Kleider auf das Fußende des Bettes und ging ins Badezimmer. Als sie mit dem Luftbefeuchter unter dem Arm kurz darauf wieder herauskam, betrachtete Richard die Kleider.
»Gehst du heute Abend aus?«
»Ja. Ins Frais.« Lin reichte ihm den Apparat.
»Verräterin.«
»Elise und Lucien sind wie eine Familie für mich, genau wie du und Emile«, schimpfte sie mit ihm. »Davon abgesehen ist Otto Gersbach ein Gesundheitsfanatiker. Trinkt keinen Tropfen Alkohol und, aber das bleibt jetzt unter uns, geht lieber in Restaurants, die keinen Alkohol ausschenken, wenn seine Tochter ihn begleitet.«
»Ah«, nickte Richard verständnisvoll. Er wusste, dass Elises Restaurant auf solche Gäste abzielte, die eine Vergangenheit mit Alkoholmissbrauch hinter sich hatten, sowie auf deren Freunde und Familie. Abgesehen von Alkohol gab es dort aber alles, was sich ein Genießer für ein luxuriöses Abendessen nur wünschen konnte. »Die Dinge, die du über Nobles Geschäftspartner in Erfahrung bringst, würden den Rest der Bevölkerung in Erstaunen versetzen. Weil wir gerade davon reden, wie lief es denn am Montagabend?« Er warf ihr einen Nun-tu-nicht-so-Blick zu, als sie so tat, als würde sie sich nicht gleich erinnern. »Mit dem sexy brasilianischen Straßenkämpfer?«
Sie griff nach den Kleidern.
»Sehr gut, denke ich. Es war nur für den Job, weißt du . Ians Bruder«, erinnerte sie ihn, als sie seine erstaunte Miene sah. »Und heute Abend gehe ich mit ihm zu einem Geschäftsessen.«
»Ui-ui!«, raunte Richard ungläubig.
Sie warf ihm einen gelassenen Blick zu. In ihrem Inneren jedoch schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie hatte sich bemüht, das Savaur mit Kam an jenem Abend nicht zu auffällig zu verlassen, doch Richard war nichts entgangen. Er dürfte sogar bemerkt haben, dass sie gemeinsam in ein Taxi gestiegen waren. Auch wenn das noch nichts heißen musste. Es könnte auch sein, dass sie sich einfach eines geteilt haben.
»Er sieht Ian wirklich verdammt ähnlich«, erwähnte Richard ein wenig zu beiläufig.
»Ja, das stimmt«, gab sie zu. Vor dem Spiegel über ihrem Schminktisch hielte sie sich zuerst das eine, dann das andere Kleid vor den Körper. »Obwohl er auch nicht unterschiedlicher sein könnte.«
»Mit ihm zusammen zu sein, ist das für dich nicht . schwierig?«
Sie wusste genau, worauf Richard abzielte, hatte jedoch keine Lust, dieses Thema zu diskutieren. Richard und Emile waren zwei kluge, aufmerksame Männer. Noch nie hatte sie vor einem der beiden rundheraus zugegeben, dass sie »etwas« für ihren Chef übrig hatte, aber sie dürften es vermuten. Regelmäßig weigerte sie sich mit ihnen darüber zu sprechen, warum sollte das heute Abend anders sein? »Nein«, antwortete sie. »Kam ist eine besondere, sagen wir, herausfordernde Persönlichkeit, mit der ich aber gut umgehen kann.«
»Bist du da sicher?«
»Absolut.« Ruhig sah sie ihm über den Spiegel in die Augen.
Richard betrachtete nüchtern ihr Gesicht und zuckte dann mit den Schultern.
»Bei manchen Themen bist du wie ein Schloss mit sieben Siegeln, Lin.«
»Ich habe gar keinen Grund, etwas abzuschließen. Nicht bei diesem Thema«, log sie.
»Also ist es für dich etwas ganz Einfaches, Leichtes, mit einem Mann umzugehen, der Ian Noble so ungemein ähnlich sieht, ja?«
So leicht wie eine Sünde.
Sie unterdrückte den automatisch entstandenen Gedanken und hielt die beiden Kleider in die Höhe.
»Welches?«
»Ist das so eine Art von Rätsel, mit dem ich mir meine eigene Frage beantworten soll?«
Entnervt sah sie ihn an, woraufhin er loslachte. Richard studierte dann mit Kennermiene die beiden Kleider. Dann nannte er den Namen des Designers des schwarz-weißen Kleides, als wäre die Wahl selbstverständlich gewesen. Es war ein Smoking-ähnliches Strick-Cocktailkleid, mit tiefem Dekolleté, das ihre Arme, den oberen Rücken und ihre Schultern unbedeckt ließ. Ein runder Ausschnitt vorne am Saum erlaubte zudem den Blick auf ihre Beine. Zwar hatte das Kleid einen klaren geometrischen Schnitt, doch es war auch zutiefst sexy.
»Denkst du nicht, das ist ein bisschen . zu viel?«, fragte sie zögernd und betrachtete den Stoff kritisch.
»Dann sag du, welches du nimmst«, war Richards verschmitzte Antwort.
Sie zeigte auf das deutlich prüdere Kleid mit bauschigem Hemd, einer hohen Hüfte und geschlossenem Hals.
»Interessant«, stellte Richard fest und wollte, mit dem Luftbefeuchter unter dem Arm, das Zimmer verlassen.
»Du musst viel trinken. Ich schaue nachher noch mal nach dir. Und dieses Kleid ist nicht interessant«, rief sie ihm noch nach. »Das ist ein absolut uninteressantes Kleid.«
»Genau das war ja so interessant, dass du dich dafür entschieden hast«, sagte er und ging.
***
Sofort, nachdem sie den kleinen Festsaal betreten hatte, begrüßte Francesca sie. Luciens Mitarbeiter hatten den Raum in ein Atelier verwandelt, um Francescas Kunstwerke auszustellen.
»Hallo! Du bist eine der Ersten. Oder vielleicht bist du auch nur die Einzige, die kommt«, fügte Francesca leise und verunsichert hinzu. Dann umarmte sie Lin, küsste sie auf die Wange. Lin tat es ihr gleich.
»Sei nicht albern. Es werden viele Leute kommen. Du hast doch am Sonntag diese tolle Erwähnung im Feuilleton der Chicago Tribune bekommen. Ich bin nur deshalb so früh gekommen, weil ich sichergehen wollte, vor den anderen da zu sein. Du siehst toll aus«, erklärte Lin. Das lebhafte Grün wirkte im Zusammenspiel mit dem rosa-goldenen Haar und den dunklen Augen von Ians Frau wunderbar. Der Schnitt des Kleides unterstrich Francescas Schwangerschaft, anstatt sie zu verbergen. Francesca war im fünften Monat, und sie strahlte. Merkwürdigerweise, wenn man Lins geheime Gefühle für Ian berücksichtigte, war sie nie schmerzlich eifersüchtig auf Francesca gewesen. Was wahrscheinlich daran lag, dass es sehr einfach war, die lebendige, frische und außergewöhnlich talentierte junge Frau zu mögen. Lins Gefühle für Francesca Noble hatten sich von vorsichtiger Freundlichkeit zu Respekt und Zuneigung gesteigert. Sie verstand, warum Ian verzaubert war von seiner Frau. Davon abgesehen, wie hätte sie sich aufrichtige Gefühle für Ian eingestehen und dann nicht glücklich sein können angesichts seines offensichtlichen Friedens und Glücks?
»Danke«, antwortete Francesca ernsthaft. »Ich hatte seit fast einem Jahr keine...