KAPITEL EINS
Ein feiner Schweißfilm legte sich über Lin Soongs Gesicht, als sie im Dunst den Bürgersteig entlangeilte. Dieser verdammte Nebel. Weit und breit war kein Taxi mehr zu sehen gewesen, also hatte sie die eineinhalb Kilometer vom Nobel Tower zum Restaurant zu Fuß zurückgelegt. Nach dem langen Arbeitstag und diesem gehetzten Lauf quälten sie nun ihre Füße in den Schuhen mit den hohen Absätzen. Außerdem hatte die Luftfeuchtigkeit ihrer Frisur vermutlich den Rest gegeben. Lin fiel wieder ein, wie sie - sie dürfte zehn oder elf Jahre alt gewesen sein - vor ihrer Großmutter erscheinen musste, die mit einem Kamm und einem Glätteisen wie mit Kriegswaffen vor ihr herumgewedelt hatte.
»Diese Haare hast du von deine Mutter geerbt«, pflegte ihre Großmutter zu sagen und verzog, während sie sich an ihre Ordnungsaufgabe machte, grimmig den Mund. Lin wusste genau, was ihre Großmutter über die potenzielle Gefahr dachte, die von solch widerspenstigen Strähnen ausging, wie sie nun auch bei ihr auftauchten. Glaubte man ihrer Großmutter, so waren Haare etwas, das man, wie alles andere im Leben, schön glatt und glänzend halten sollte.
Lin schob sich durch die Drehtür des Restaurants und hielt im leeren Foyer einen Moment lang inne, um ihren Atem und Puls zu beruhigen. Sie hasste es, nervös zu werden, und das, was ihr nun bevorstand, verlangte weitaus mehr von ihr als die übliche professionelle Souveränität. Lin hatte ihr flatterndes, lockiges Haar wieder gebändigt und mit einem Taschentuch ihr feuchtes Gesicht getrocknet, als sie das elegante und gut besuchte Restaurant schließlich betrat. Im gleichen Augenblick sah sie ihn an der Bar sitzen. Es war unmöglich, ihn zu übersehen. Für ein paar sehr lange Augenblicke starrte sie ihn nur an. Ein seltsames Gefühl aus Beunruhigung und Aufregung machte sich in ihrem Bauch breit.
Warum hat Ian nicht erwähnt, dass ihm sein Halbbruder so ähnlich sieht?
Sie nahm seinen Anblick in sich auf. Er sah sehr gut aus, auch wenn sein finsterer Blick ein wenig abschreckend wirkte. Er trug ein dunkelblaues Hemd, und das feine Braun seiner robusten Wildlederjacke betonte das rotbraune Schimmern seiner Haare. Kam Reardon hatte keine Ahnung - und sie würde es ihm auch nie verraten -, dass sie selbst diese Kleider für ihn ausgesucht hatte. Das gehörte zu Ians Auftrag, der sie gebeten hatte, seinen Halbbruder für Verhandlungen um ein lukratives Geschäft hier in Chicago vorzeigbar zu machen. Für diese Reise in die Vereinigten Staaten hatte Ian auch eine neue Garderobe vorgeschlagen. Widerwillig hatte Kam zugestimmt, allerdings erst, als Ian ihn gekonnt dazu überredet hatte. Bezahlen wollte er hingegen alles selbst. Und es war Lin gewesen, die schlussendlich die Auswahl getroffen und die Kleidungsstücke zum Haus Manoir Aurore nach Frankreich geschickt hatte. Darüber hinaus hatte sie auch neue Möbel, ebenfalls von ihr ausgewählt, nach Aurore liefern lassen - Kams ehemals prächtiges Heim war ziemlich vernachlässigt worden.
Es war ein gutes Gefühl zu sehen, dass er die Kleider auch trug. Ein eindeutiger Beweis dafür, dass sie nach seinem Geschmack waren. Ihre Auswahl der Kleidungsstücke hatte allerdings nicht viel dabei geholfen, Kam optisch in seine Umgebung einzupassen. Er war zu groß für die feingliedrigen Stühle, die an der unglaublich glatten, minimalistischen Bar aufgereiht waren. Vor diesem trendigen Ambiente wirkte er mit seinem fast schroffen, maskulinen Äußeren und der angespannten Haltung wie ein bunter Hund.
Nein . nicht wie ein bunter Hund, korrigierte sich Lin. Eher wie ein Löwe, der sich inmitten einer Herde Antilopen wiederfand. Auch wenn er äußerlich ruhig wirkte, bemerkte sie dennoch eine aufmerksame Anspannung in ihm, die in diesem Meer aus entspannten, gut betuchten Stammgästen ein wenig bedrohlich erschien.
Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sein Blick, quer durch den geschäftigen Speisesaal hinweg, auf ihr ruhte. »Bonsoir, meine Schöne. Dein Tisch wartet schon«, begrüßte sie ein Mann mit weichem, französischem Akzent.
Lin blinzelte und zog ihre Aufmerksamkeit von dem Fremden ab, der ihr doch schon nicht mehr wirklich fremd war: der berüchtigte Halbbruder ihres Chefs, der wilde Mann, den sie zähmen sollte.
Sie wandte sich dem lächelnden Richard St. Claire zu. Richard war ein Nachbar, guter Freund und der Besitzer des Savaur. Zusammen mit seinem Partner, dem Koch Emile Savaur, führte er dieses renommierte Restaurant, in dem Lin regelmäßig aß.
Sie erwiderte Richards Begrüßung mit zwei Küsschen auf die Wangen.
»Hältst du den Tisch bitte noch einen Moment frei, Richard? Meine Verabredung sitzt an der Bar, und ich würde mich gern selbst vorstellen.« Lin drehte sich, während Richard ihr aus dem Mantel half.
»Mister Groß, Dunkel und Missmutig?«, murmelte Richard und ließ Lins Mantel elegant über seinen Unterarm fallen. Amüsiert beobachtete er ihren überraschten Blick, als sie sich ihm wieder zuwandte. Wie konnte Richard wissen, dass sie mit dem Mann an der Bar verabredet war?
»Du hast, als du per Telefon reserviert hast, auch erwähnt, du würdest mit Nobles Halbbruder Essen gehen. Die Ähnlichkeit ist mir gleich aufgefallen; wie könnte man sie auch übersehen? Ich freue mich schon darauf, die ganze Geschichte hinter dieser kleinen Szene zu erfahren«, fuhr Richard fort und warf dabei einen verschmitzten Blick in Kams Richtung. »Man könnte meinen, Ian Noble würde als brasilianischer Straßenkämpfer posieren, mit Luciens teuflisch verführerischen Augen als Zugabe.«
Lin musste bei dieser passenden Beschreibung ein Lachen unterdrücken. Richard war auch mit Lucien Lenault gut befreundet, dem anderen Halbbruder von Kam und Ian. Daher hatte er zweifelsohne einen Großteil, wenn nicht sogar Kams ganze Geschichte von Lucien bereits gehört.
»Er hat sich wirklich gut gemacht«, erwiderte Lin leise. »Noch vor sechs Monaten haben ihn die Leute in dem Dorf, in dem er gelebt hat, für obdachlos und verrückt gehalten, dabei ist er schlicht genial und extrem konzentriert auf das, was er tut.« Sie senkte den Kopf. Da sie bemerkte, dass Kams scharfer Blick noch immer in ihre Richtung ging, bemühte sie sich um ein ausdrucksloses Gesicht. »Wie ein Landstreicher sieht er gar nicht aus. Allerdings sitzt er schon seit zehn Minuten nägelkauend an der Bar. Victor hat sich noch nicht entschieden, ob dieser Mann ihn in Todesangst versetzt oder verzaubert hat«, fuhr Richard leise fort. Und tatsächlich betrachtete Victor, der Barkeeper, der gerade Gläser abtrocknete, den riesigen Muskelprotz an der Theke vor ihm verstohlen mit einer Mischung aus Behutsamkeit und offener Bewunderung.
Lin schenkte ihrem Freund einen warnenden, aber belustigten Blick und ging hinüber, um Ians Halbbruder zu begrüßen. Kam war einer der wenigen Gäste an der Bar. Ein halbvolles Glas Bier stand vor ihm.
»Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Im Büro war noch viel zu erledigen, und als ich mich endlich losgemacht habe, war nirgendwo ein Taxi aufzutreiben. Sie müssen Kam sein. Ich hätte Sie überall erkannt«, sprach sie ihn lächelnd an, als sie näher gekommen war. »Ian hat nie erwähnt, dass Sie beide sich so sehr ähneln.«
Er drehte sich ein wenig auf dem Hocker und ließ, ohne Eile, seinen Blick über sie schweifen. Während er sie prüfte, rührte sie sich nicht, ihre Miene blieb ruhig und teilnahmslos. Innerlich dagegen wand sie sich. Ian hatte ebenso wenig erwähnt, dass Kam Reardon einen rauen Sexappeal verströmte - wobei Ian dies wohl nie über seinen Bruder behauptet hätte.
Auch wenn es kaum länger als eine Sekunde gedauert haben dürfte, kam es ihr vor, als würde Kams Blick erst nach vielen Minuten wieder ihre Augen treffen. In seinen Augen erkannte sie das harte Glitzern männlicher Bewunderung. Ein seltsames Gefühl rieselte ihr den Rücken hinunter. Aufregung? Oder eine jener seltenen Lust-Attacken, die bei einem der raren Momente großer Anziehung wie ein Blitz einschlugen? Sein Gesicht und Körperbau ähnelten dem Ians, doch waren auch Unterschiede deutlich zu erkennen: Kams Nase war etwas länger, seine Haut dunkler, die Lippen wirkten voller, und das Haar, in dem rotbraune Strähnen deutlich auszumachen waren, war nicht ganz so dunkel. Prachtvolles Männerhaar, fand Lin. Täglich dürfte sich ein Dutzend Frauen danach sehnen, ihre Finger darin vergraben zu können.
Außerdem wäre Ian wohl niemals in die Öffentlichkeit gegangen, nachdem er sich eineinhalb Tage nicht rasiert hatte. Obwohl Kams Kleidung dem Restaurant völlig angemessen war, war sie natürlich legerer als die für Ian so typischen Anzüge aus der Londoner Savile Row. Man konnte den Eindruck bekommen, man betrachtete Ian durch eine Art Zauberspiegel - durch den eine dunklere, herbere Variante ihres lässig-eleganten Chefs zu sehen war. Kams silbrig graue Augen mit dem feinen schwarzen Ring rund um die Iris waren jedoch auf jeden Fall einzigartig, ganz egal, was Richard über deren Ähnlichkeit mit Luciens Augen behauptete.
Womöglich war aber auch nur die Wirkung, die sie auf Lin hatten, einzigartig.
»Wahrscheinlich hat Ian unsere Ähnlichkeit nie bemerkt«, antwortete Kam. »Er hat mich noch nie ohne Vollbart zu Gesicht bekommen.«
Noch ein weiterer Unterschied. Genau wie bei ihrer Großmutter, die in Hongkong Englisch gelernt hatte, klang Ians Akzent frisch und doch cool und beherrscht. Kams raue Stimme mit ihrem französischen Klang jedoch rieb ganz leicht und erregend über die Haut zwischen ihrem Nacken und den Ohren.
Sie streckte ihm die Hand entgegen.
»Ich bin Lin Soong. Wie Sie...