Schweitzer Fachinformationen
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ZWEI
Zwei- bis dreimal in der Woche übernachtete ich in der Maxstraße in der Essener Innenstadt.
Horst Brömmel hatte mir einen Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben. Sie lag in der ersten Etage eines dreistöckigen Hauses, das im Krieg zerstört, im letzten Jahr neu aufgebaut und gerade erst bezugsfertig geworden war.
Durch die Korridortür betrat man einen kleinen Flur, von dem aus es nach rechts in mein Zimmer, geradeaus in die Küche und nach links ins Badezimmer ging. Wohnungen mit Bad waren damals eine Rarität. In vielen alten Wohngebäuden waren die Klosetts noch im Treppenhaus zwischen den Etagen, jeweils eins für mehrere Familien. Gebadet wurde am Wochenende in der Zinkbadewanne, die aus dem Keller heraufgeholt und in der Küche aufgestellt wurde.
In Brömmels Küche deutete lediglich der Spülstein in einer Zimmerecke darauf hin, welcher Zweck diesem Raum ursprünglich zugedacht worden war. Brömmel hatte aus ihm ein anheimelndes Wohnzimmer mit modernen Druckgrafiken an den Wänden, mit Sitzecke, Bücherbord, Schallplattenschrank und Radio gemacht. Eine elektrische Kochplatte und ein Tauchsieder standen neben dem Spülbecken auf einem Schränkchen. Darin lagerten Bohnenkaffee, Muckefuck und ein paar Lebensmittel fürs Frühstück, Brot und Butter, Marmelade und Käse, etwas Wurst und manchmal ein paar Eier. Mehr Küche brauchte Horst Brömmel nicht. Er aß in der Kantine im Verlagshaus oder in einem der Restaurants in der Essener Innenstadt.
Hinter dem Wohnraum lag sein Schlafzimmer. Ein paar Mal habe ich einen Blick hineingeworfen, betreten habe ich es nie.
»Klare Regeln, sonst funktioniert unser Zusammenleben nicht«, hatte Horst Brömmel mir am ersten gemeinsamen Abend in seiner Wohnung erklärt.
»Das Arbeitszimmer ist dein Zimmer. Wenn du hier bist, ist es für mich tabu. Kannst dir also ruhig mal ein Schätzchen mitbringen, falls es sich ergeben sollte. Das ist mir egal. Dasselbe gilt umgekehrt für mein Schlafzimmer. Darin hast du nichts verloren, egal ob ich Besuch habe oder allein bin. Du kannst dich gern im Wohnzimmer aufhalten, Radio hören oder dir ein Brot schmieren, wenn ich nicht zu Hause bin. Wenn ich selbst im Wohnzimmer sitze und lese oder Musik höre, kannst du natürlich auch reinkommen, aber bitte immer vorher anklopfen. Es könnte dort nämlich, wenn ich Damenbesuch habe, auch schon mal zu delikaten Situationen kommen. Also nur eintreten, wenn ich dich hereinbitte! Die Badewanne kannst du jederzeit benutzen, aber, wenn ich hier bin, bitte vorher Bescheid sagen. Ich hab nämlich keine Lust, aufs Klo zu müssen, wenn du gerade ins Wasser gestiegen bist. Wenn du morgens von hier aus in die Redaktion gehst, möchte ich, dass du vorher was isst. Hungrige Mitarbeiter machen mich nämlich nervös. Wenn ich auch hier bin, können wir zusammen frühstücken, wenn ich schon weg bin oder anderswo übernachtet habe, weißt du ja, wo du alles findest.«
Ich war mit Brömmels Regeln einverstanden, und er gab mir den Wohnungsschlüssel. Auf den Mietpreis von monatlich zwanzig Mark fürs Zimmer hatten wir uns schon vorher geeinigt. Da hatte ich allerdings noch nicht gewusst, dass Badewanne und Frühstück inklusive waren. Schon ohne diese beiden Extras wäre der Mietpreis in Ordnung gewesen, mit ihnen war er äußerst günstig, ohne Frage ein Freundschaftspreis.
Unsere kleine Wohngemeinschaft funktionierte genauso problemlos wie unsere Zusammenarbeit in der Redaktion. Wenn ich in Essen übernachtete, kam ich meistens sehr spät und müde in der Maxstraße an und ging sofort ins Bett. Wenn ich mal früher am Abend in die Wohnung kam, war Brömmel meistens nicht zu Hause. Die Gelegenheit nutzte ich gern, um ein Bad zu nehmen.
Hin und wieder bekam ich mit, dass Horst Brömmel Damenbesuch hatte. Die Frauen blieben nie bis zum Morgen bei ihm. Irgendwann in der Nacht brachte er sie durch den Flur vor meinem Zimmer zur Korridortür.
Wenn wir zusammen frühstückten, hörten wir Radio und redeten nicht viel. Das war mir angenehm. Bei Horst Brömmel gab es jeden Morgen Bohnenkaffee zum Frühstück, eine Tasse für ihn und eine für mich. Das war sensationell. Ein Pfund Kaffeebohnen kostete damals sechzehn Mark, ungefähr so viel, wie ein Bergmann oder ein Stahlarbeiter am Tag verdienten. Oma und Opa hatten zwar auch meistens »richtigen Kaffee« im Haus, aber getrunken wurde der nur sonntags und zu besonderen Anlässen. Sonst gab es in der Bremener Straße Muckefuck.
Den trank Brömmel nur abends, weil er nach Bohnenkaffee nicht schlafen konnte. Und ich trank ihn, wenn ich beim Frühstück allein in seiner Wohnung war. Er hätte vermutlich auch nichts gesagt, wenn ich mir allein einen richtigen Kaffee aufgebrüht hätte, aber ich wäre mir schäbig vorgekommen. Für zwanzig Mark im Monat ein Zimmer in der Essener Innenstadt plus Bad plus Bohnenkaffe zu jedem Frühstück, das wäre dann doch zu viel des Guten gewesen. Zumal es auch noch gute Butter gab. Bei Oma und Opa gab es nur Margarine. Die hatte Brömmel gar nicht im Haus.
Ich fühlte mich wohl in der Wohnung in der Maxstraße, vom ersten Tag an. Trotzdem fuhr ich so oft wie möglich nach Sterkrade. Das Häuschen meiner Großeltern mit meiner kleinen Kammer unterm Dach war mein Zuhause, und ich wollte, dass es so lange wie möglich so blieb. Nur die alte Zinkbadewanne, die in einem kalten, engen Raum im Anbau stand, zwischen Klo und Schweinestall, die benutzte ich kaum noch. Das Badewasser musste im Einkochkessel auf dem Küchenherd erhitzt und zur Wanne geschleppt werden. Dabei half ich zwar immer öfter den beiden Alten, aber ich selbst badete fast nur noch in der Maxstraße und genoss es jedes Mal, vorher auf dem Klo zu sitzen und zuzuschauen, wie das warme Wasser aus dem Hahn unterm Boiler hervorplätscherte.
Die Großeltern waren froh, dass ich nicht öfter in Essen blieb. Oma Hilde freute sich vor allem, dass ich immer Hunger hatte, wenn ich kam.
»So is et gut«, sagte sie jedes Mal, wenn ich mit am Tisch saß. »Nur für uns zwei Alten zu kochen, dat macht gar keinen richtigen Spaß.«
Opa machte dann gern den Witz: »Der arme Jung kriegt in Essen bestimmt nicht genug zu essen.«
Oma schien das tatsächlich zu glauben. Sie hätte mir am liebsten für die Tage, an denen ich nicht nach Sterkrade kommen konnte, jedes Mal was mitgegeben, in Opas altem Henkelmann.
»Du has doch gesacht, dat dein Brömmel so 'ne elektrische Platte hat. Und en Kochpott hat er bestimmt auch.«
»Nein, Oma, hat er nicht, ehrlich nicht.«
»Dat macht ja nix. So 'n Henkelmann kann man auch auf e Kochplatte stellen, zum Aufwärmen. Is ja Blech, dat hält die Hitze aus. Muss'e nur aufpassen, dat e dir nich die Finger dran verbrennst.«
»Nein, Oma, das geht nicht. Beim Brömmel in der Wohnung wird überhaupt nicht gekocht.«
»Meins'e, der macht dann Fissematenten? Has'e 'n denn schon ma gefragt? Vielleicht hat er ja gar nix dagegen.«
»Nein, Oma, es wär mir peinlich, ihn danach zu fragen. Und es ist ja auch wirklich nicht nötig. Das Essen in der Verlagskantine ist zwar längst nicht so lecker wie deins, aber ich werde satt. Für ein paar Tage in der Woche geht das schon.«
»Aber dann nimms'e dies Mal wenigstens 'ne Wurst mit. Wir haben oben noch so 'ne schöne harte Plockwurst hängen, genau so, wie du se gerne has. Dann kris'e wenigstens beim Frühstück wat Anständiges in e Rippen. Und da kanns'e ja auch zwischendurch ma drangehen, wenn e Hunger has. Aber pass auf, dat dein Brömmel dir die nich wegfuttert.«
»Ja gut, Oma, dat ist dann aber die letzte von euren Würsten, die ich mit nach Essen nehme. Bis zum Herbst jedenfalls, bis wieder geschlachtet wird. Ich kann euch doch nicht eure letzten Dauerwürste wegschleppen.«
An dieser Stelle mischte Opa Leschinski sich ein und beendete damit die Diskussion.
»Die Ferkels machen sich richtig gut, sind schon ganz schön fett geworden. Die scheinen nix dagegen zu haben, dat se jetz von mir versorgt werden und nich mehr von dir. Sollen wir ma im Stall gucken gehen?«
»Waren wir doch erst vor ein paar Tagen, Opa.«
»Ich glaub, dat die Viecher seitdem schon wieder wat zugelegt haben. Und die Karnickel kanns'e auch ma gucken. Da wirs'e staunen. Die Kleinen sind schon richtig munter geworden.«
Opa war seit Anfang Juni in Rente.
Als wir vor den Karnickelställen standen, fragte ich ihn: »Und? Hast du Sehnsucht nach der Zeche?«
»Hälts'e jetz deinen Opa für bekloppt? Oder wat soll die Frage?«
Mehr als vierzig Jahre hatte er unter Tage gearbeitet, die meiste Zeit davon als Hauer. Als sein Rücken kaputt war, mit Ende fünfzig, hatte er auf Jacobi den Posten eines Wiegemeisters bekommen.
»Jetz hab ich en feinen Lenz«, hatte er mir damals erzählt. »Brauch nur noch zu gucken, wat die Lastwagen wiegen, wenn se leer bei uns reinkommen und wenn se mit Kohle beladen wieder rausfahren. Den Unterschied schreib ich auf 'n Ladezettel, und den schick ich in die Abteilung von e Verwaltung, wo die Rechnungen geschrieben werden. Dat is alles. Is en Vertrauensposten, da setzen se nur Leute hin, von denen se wissen, dat se sich auf die verlassen können. Da werd ich die Zeit bis zur Rente gut rumkriegen.«
Im Schweinestall schien es mir so, als wären die Ferkel in den vergangenen drei Tagen tatsächlich schon wieder fetter geworden.
»Nee Hermann, ich hab dat zwar ganz gern gemacht als Wiegemeister die letzten Jahre, aber ehrlich, ich hab die Zeche noch nich einen Tach vermisst«, sagte Opa. »Ich hab ja auch genug zu tun auf 'm Land und um et Haus rum. Und dat Vieh muss jeden Tach versorgt werden. Heute war ich den ganzen Morgen unterwegs und hab...
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